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Das Gedichtete behauptet sein Recht, wie das Geschehene.
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9|7|9|Meine Mutter fürchtete die Schlangen. An warmen Sommertagen gingen wir durch das Rosental, die bei
Sturmfluten vom Meer überspülte Flur auf brackigem Grund, das Gut zu sehen, Ephraimshagen mit
seiner abweisenden gekalkten Mauer, der junkerlichen Auffahrtsallee, dem Säulenportal von
dorisch-preußischer Strenge, der bröckelnden traurigen Sandsteinheiterkeit der hier wie im
Stundenglas des Sensenmannes sichtbar verrieselnden Zeit, der stolzen albernen Herrschsucht des
Herrenhauses, dem ungestürzten Gesindekönigtum, der alten Reserverittmeisterherrlichkeit
zwischen den Ställen, der schwarzweiß gestrichenen Fahnenstange und ihren auf Halbmast gesetzten
alldeutschen Träumen, ein Hahn krähte auf dem Mist, aus prallen Eutern säuerte Milch, Zeugung
drängte zur Schlachtung, Spiritus fuselte aus den Bottichen der Brennerei, leer gähnten die
geöffneten Fenster im Mittagslicht, weiß blühten gesteifte Stores, es glänzten die fuchsrot
polierten Möbel pommerschen Empires, die schweren blanken Schränke mit Säulen und goldenen
Beschlägen, die Kommoden mit Lorbeer und Girlanden, die Bettstellen mit gedrechselten
Schwanenhälsen, es schliefen die gebrochenen Brokate der Sessel im
8|Salon, die speckigen
Lederstühle der Bibliothek mit der Rangliste der Königlich Preußischen Armee, dem Jagdkalender,
10|Bismarcks Erinnerungen, und irgendwie dahingeraten und vergessen das Buch der Lieder, die Bilder
der Toten, ihre Säbel, ihre Pistolen, ihre Ehre an der Wand, ein Hund trottete durch den Sand,
er kannte uns nicht, ein
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Pflugschar rostete, und meine Mutter sprach, es gehörte uns, schrie
es, als wolle sie es mir einhämmern, in den Kopf pressen, ins Herz schlagen, daß auch ich
teilhabe an Verlust und Leid, sie sollten mein Erbe sein, denn obwohl meine Mutter schon in der
Stadt geboren war, in der engen Kammer der Armut, redete sie von Ephraimshagen mit der
Bit
8|10|terkeit, beraubt zu sein, und ich erkannte wieder in ihrem kleinen, von Müdigkeit
verzehrten Gesicht der Großmutter verhärmte Züge, sah aber auch im jungen Gesicht meiner Mutter
der Großmutter Brautbild erscheinen mit dem wie Spinnweb das Haupt deckenden Schleier, von einem
wandernden Pinsler getuscht, einem verachteten Gesellen, der mit den Mägden gegessen und wohl
auch die Decken und Wände des Hauses mit klassischen Ornamenten geziert hatte und den frivolen,
fröstelnden Gestalten der Götter auf Wolken geschorener Wolle, der uralten Verführung, doch
Zauber blieb es, wie er das im Kommenden Verborgene, die Liebesenttäuschung, den Trug der
Leidenschaft, all den Verfall um das Brautlächeln und das geschmückte Haar der Achtzehnjährigen
gelegt
9|hatte, und ich schaute auch die Großmutter wie ich sie wahrgenommen hatte mit
Säuglingssinnen, ihr zu Tränen bereites Gesicht mit dem nun schon gewoll
11|ten und erstarrten
Ausdruck vergeblichen Grübelns, so beugte sie sich über den Korb, in dem ich lag, schenkte mir
Liebe und Haß, ich empfand ihre aus meinem Anblick sich nährende und tödlich wuchernde
Verzweiflung, denn meine Geburt sah sie wie ein letztes und endgültiges Siegel auf der Sippe
Untergang gepreßt, auf den Verlust der Ehrbarkeit, auf die Hingabe von Land und Ansehen, und
meine Mutter blickte wie ins Paradies durch die Einfahrt aus verklumptem Lehm, geformt von den
Hufen der müden Ackerpferde, durchfurcht von den eisenbereiften Rädern der Erntewagen,
vertrieben
vertrieben vertrieben vertrieben
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aus eingebildeter Sicherheit und törichtem Stolz, doch ich fand nicht mehr den Garten Eden, nichts zog mich an, und auf dem
Rückweg gegen Abend, Mücken hielten summend Ball über den verworfenen Tümpeln salziger Nässe,
hörte meine Mutter es rascheln im verdorrten Gras, die Schlangen, erschrak sie, die tückischen
Ottern des Rosentals, sie eilte fort, der Himmel finsterte über der Abdeckerei, Blitz und Donner
drohten der Stadt, zogen gegen die berühmte Silhouette des romantischen Malers, da waren die
spielenden Fohlen
11|auf der Weide, die einsamen Männer, die traurig den Mond betrachten, die im
Hafen ruhenden schlafenden Boote mit ihren Masten zu Afrikas
9| Küsten in Knabenträumen,
die Türme und Dä
10|cher von St. Nikolai, St. Jakobi und St. Marie drückten schwer die Gemeinde,
glichen, aus rotem Backstein gegen den nie erreichten Himmel gebaut, Festungen tollkühner
Pla
12|nung, vergreist in Wüste, Wildnis und Sumpf, und in den Kirchen lagen verlassen die leeren
Schiffe, gebetlose Hallen hinter verschlossenen Türen, der Gnade der Beichte und Lossprechung
entzogen, lagen die ungeschmückten protestantischen Altäre, die Kanzeln schulmeisterlicher
Prediger, der verlorene Aufstand begrabener Gewissen, während es in den Gassen ringsum behäbig
nach Abendbrot roch, nach Spickaal, nach Bratkartoffel und Fisch, nach Speck und Kleiebrot, nach
Buchweizengrütze und Klüttegrütt, nach bürgerlicher Bescheidung, tückischer Demut, familiärer
Niedertracht in Furcht und Enge und blind in Dummheit, nach der verwelkenden Erinnerung an die
armen Helden des Krieges, nach der konservierten schönen Leiche des Kaiserreichs, dem von hinten
erdolchten pasewalker Kürassier im Köchinnenglanz der roten Biesen auf weißem Tuch, nach dem
Mensurblut der Studenten über den stinkenden Schurz korporierten Mutes ins Sägemehl der Kneipen
gelaufen, nach dem Blut der von tollwütiger Feme Erschlagenen, ins Torfmoor versenkt, zu den
Hünengräbern getragen, nach Mädchenblut in versteckter Wäsche unter das Sofa der guten Stube
gestopft, nach der Asepsis, dem Eiter, der Anatomie der Kliniken, dem Schweiß der Kranken, dem
Entsetzen der Sterbenden, der
11|Angst der Examinierten und der schuldig Unschuldigen im Gefängnis
ausgeliefert den Wärtern, nach dem Wahn der Irren in der Heilanstalt hinter den Gleisen und nach
den Witzen
13|die man über sie macht, nach den verfaulten Blumen der Friedhöfe und dem Tod, den
jeder in seiner Brust trägt, nach dem gasenden Schlick des Wallgrabens und der Abwässer, dem
drängenden Atem der Liebenden unter dem Gebüsch in den
12|Ruderbooten des Sommers, nach den
Gespinsten der Professoren, den toten Herzen der Beamten, dem Staub der Gesetze, und dann die
Armut der Langen Reihe und der grauen Schule verknöcherte Schmach, wie haßte ich die Stadt und
wünschte die Schlan
10|gen herbei, eine gleitende Natter um jeden Pfosten, der ein Dach
trug, ein Bett und den tiefen Schlaf all der Gerechten stützte.
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Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde, und Maria, die
sich Mary nannte, glaubte, daß er auch ihre Stadt geschaffen habe und in ihr sich sonnte, wenn
auch nicht zu verstehen war, daß er so kalt auf das Unglück blickte, es sei denn, daß die
Unglücklichen vom Samen her schlecht und aus seinem Angesicht verstoßen waren, viele behaupteten
das, aber es stimmte nicht oder nicht ganz, und also schaute Gott einfältig herab, was Maria
billigte, denn auch sie hätte gern gesehen, daß alles gut war, weil sie die Stadt liebte
12|und
schätzte vor allen anderen, die sie nicht kannte.
Maria läuft mit Bismarck über die Lange Straße, promeniert mit Bismarck zur Stunde des Bummels
zwi
14|schen fünf und sechs, wenn alle dort wandern und sich zeigen, die Ordnung streng und die Sitte auf eine
wiederum von der Sitte gebilligte Weise gefährdet ist, Maria freut sich, daß sie mit Bismarck läuft,
der ihr nicht gehört, aber auf sie hört, so daß ihr ein neues Ansehen, wie sie meint, von Bismarck kommt,
sie liebt ihn und ist stolz.
Sie achtet nicht, wie eng die Verhältnisse sind, wie begrenzt der Spielraum, wie erstarrt die
Regeln. Sie atmet Welt. Ein Prinz aus dem Kaiserhaus ist in die Stadt gekommen. Landrat,
Bürgermeister, Polizeidirektor, Platzmajor, der Rektor der Universität beugen ehrfürchtig die
Nacken. Der Prinz sagt Erwartetes, der Prinz ist gnädig. Gehröcke, Zylinderhüte, Uniformen und
wehende Helmbüsche und der volle Wichs der Studenten beherrschen die Lange Straße. Maria
13|hat
kein Gespür für die Dämonen, die sie umgeben und die Herren der Szene sind, denn diese Dämonen
sind alt und grau und haben das bunte Schauspiel der Parade nur erfunden, um von sich abzulenken
und grau in grauen Wohnungen der Lust und Inzucht alter Vampire leben zu können. Gelächter,
Maria hört es oder sie will es nicht hören oder
11| weiß nicht, was es bedeutet, schrammt
aus den Fenstern, Gelächter über sie die unten sind, damit sie unten bleiben. Aus allen
Keller
13|luken dunstet Bauernherkunft, Bauerngeiz, die nie vergessene Schuld des aufgegebenen
Ackers, der im Herzen wurzelnde Zweifel, ob die Stadt sie auch schützen würde und für
15|immer.
Wronkers Essig- und Mostrichfabrik säuert die Gassen, säuert den Weg zum Grauen Kloster, zum
Altenasyl, zur Grauen Klosterschule der Bürgerkinder. Fräulein Wronker fährt zweispännig über
das Kopfsteinpflaster. Ein Doktor beider Rechte geht über den Wall und denkt, Fräulein Wronker
zu heiraten. Die Tochter des Essigmischers wird Frau Rechtsanwalt, Frau Notar, vielleicht gar
Frau Staatsanwalt oder Frau Amtsgerichtsrat. Sie wird ein Haus führen, eine dumme Ziege, die
sich dem Lebensstil der anderen dummen Ziegen, die schon Frau Amtsgerichtsrat sind, anpassen
wird. Fräulein Wronker wird sich sogar demütigen lassen, ihrer Herkunft wegen. Maria beneidet
Fräulein Wronker wegen ihres Gespanns und ihrer Aussichten, aber sie verachtet sie zugleich und
ganz echt und denkt, mit der tausche ich nicht. Bei Susemihl riecht es nach Marinaden. Wein aus
Frankreich in Fässern und in soliden Flaschen. Lagerbier gärt. Aus Brüggemanns Leinenhaus kommt
der leimige Stärkegeruch der Stoffe. In Bugenhagens Buchhandlung knistert Gelehrsamkeit aus
Papier wie ein Kamm, den man durchs Haar führt. Trocken, manchmal ein Funke.
Alle Fenster
beobachten Maria, Krötenaugen aus einem trüben Wasser. Maria ist neunzehn Jahre alt
14|und blüht.
Bismarck zieht sie wie eine von Borsigs neuen Lokomotiven vorwärts. Bismarck ist groß, er ist
kräftig, er beschützt sie,
14| seine Muskeln spielen unter dem kurzen Haar, sein Mund droht, sein
Blick ist treu. Maria kennt
16|alle Farben der Landsmannschaften, der Burschenschaften, der Corps.
Es ist die große Welt, die über die Lange Straße läuft, denn alle die eine bunte Mütze tragen,
ein Band über der Brust haben und Schmisse im Gesicht, sind berufen, sie sind die Gesellschaft,
die Stützen von Thron und Altar, sie sind das Deutsche Reich. Nichts zählt außer ihnen, die
hervorragen. Der
12| junge Kommis bei Susemihl errötet, wenn Maria kommt, ein lächerlicher
Mann, ein Heringsbändiger, auch wenn er für sie den einen Salzfisch als ihrer und ihrer Mutter
Mittagbrot mit der Holzzange aus der schuppenschillernden Lauge holt. Den Schuster muß sie
bitten, die durchgelaufenen Sohlen ihrer Schuhe noch einmal, ein letztes Mal zu richten. Der
Schuster ist kein Mann, genau genommen ist er kein Mensch. Er ist eine Funktion, er hat Schuhe
zu machen und zu flicken, weil die Gesellschaft, diese sakrosankte Institution, zu der Maria
nicht gehört, zu der sie sich aber zählt, ihre Füße bekleidet. Des Schusters Hand ist geschickt,
aber sie gilt nichts. Schließt er die Werkstatt, tritt er zurück in die Gesichtslosigkeit der
Gemeinen. Vor der in Drillich gekleideten Mannschaft auf dem Exerzierplatz, vor dem roten
Klinkerbau der Kaserne steht der Leutnant. Ihn grüßt selbst der
15|Borusse mit dem weißen Stürmer
zuerst. Maria ist gutmütig. Sie hätte den Schuster als Bettler bemitleidet; wäre er wegen
Mietschulden aus seiner Werkstatt oder seiner Wohnung geworfen worden, hätte sie sein Unglück
gerührt, wie ihr eigenes, ih
17|rer Mutter trauriges Los sie immer wieder zu Tränen brachte. Maria
ist gutmütig, aber der Schuhmacher als Stand, als Handwerker ist ein unmöglicher Mensch. Da
Maria arm ist, verehrt sie den Besitz. Da sie sich deklassiert fühlt, bewundert sie um so mehr
die herrschende Klasse. Der Arme hat an Brot zu denken. Der Reiche beschäftigt sich mit Blumen.
Maria hat keine Ahnung, wie Besitz erworben wird. Sie versucht sich mit verbundenen Augen (die
Binde der Torheit liegt über ihnen) in
15|dem Balanceakt, ohne Geld und ohne soziale Stellung eine
junge Dame zu sein. Wer arbeitet, Dienste leistet, einem Erwerb nachgeht, ist aus der Damenwelt
ausgestoßen, und so leben Maria und ihre Mutter vom Zimmervermieten an Studenten und manchmal
auch an einen Dozenten. Da ist sie zu Bismarck gekommen, der einem Herrn gehört, der die venia
legendi der Augenheilkunde besitzt. Bei lindem Wind kreist er in einem Ballon um die Türme der
Stadt. Wie schön ist diese hohe Stunde des Tages auf der Langen Straße, im von der Seeluft
verklärten Licht des Sommers
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oder dem weih
13|nachtlichen Gasglühlichtschein der Schaufenster und Laternen.
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16|Es war nicht schön, was man sprach, und wie
man es sich erzählte, und am widerwärtigsten war, daß sie nun hinhören mußte, um etwas
aufzuschnappen, das sie nicht wissen wollte, was zu wissen aber nun wichtig war, Welt
verwandelte sich, kein neues Ufer wurde er
18|reicht, ein altes Land, das Müttertal, eine
Weiberhölle, Mutterkornräusche, Hexenbräu, ausweglose Wälder, und an den dunklen hohen Bäumen
ein Schild, Juniperus Sabina, wie im Botanischen Garten von Professor Pryl, klebriges Getuschel,
gemeinmachendes Gekicher, verhangene Fenster, ein Haushalten mit dem Entsetzen, ihr muß es
vorgekommen sein, als hätte sie bis dahin nicht hören können, nicht sehen, nicht lesen, selbst
nicht tasten, fühlen, riechen, denn überall waren die schrecklichen Geheimnisse, hinter ganz
gewöhnlichen Dingen versteckt, oder allenfalls hinter Allegorien oder Symbolen, die sie nicht
beachtet und nicht gedeutet hatte, bis sie alle beachten und deuten mußte, und die Freundin, die
Tochter einer Klavierlehrerin, die munter springende Käte Kasch, von der ihr gesagt worden war,
sie ist keine Freundin, nicht für dich, du darfst nicht mit ihr verkehren, sie hält nicht auf
sich, man weiß, wohin das führt, und ja, man hatte es richtig gewußt, es führte wohin, Käte
Kasch war unterrichteter und bestätigte die Angst, und dann kamen
16| die alten Hausrezepte zu
Ehren, Teeabkochungen, Tannennadelabsude, der Rotspon von Kaufmann Susemihl, mit Safran Nelken
und Zimt erhitzt,
17|Wechselbäder für Arme und Füße, die kalten und die warmen Handduschen und dann
die dunstenden und auf eine schmutzige Art sauberen Stuben dieser Frauen, ihre roten Sodahände,
ihre ausgelaugten Wäscherinnenhände, ihre schamlosen Schwesternhände und die Gewißheit, ver
19|loren
zu sein, gebrandmarkt auf dem Altar der hämischen Göttin Sitte, untertan der einsichtslosen
gebärsüchtigen Natur, und der Ekel vor diesen Händen, und der Ekel vor diesen kalten
abschätzenden Augen, die Angst vor den runden und den spitzen Werkzeugen, der
Wider
14|wille am eigenen Leib, das Schlagen auf den Leib, die verzweifelten Tanzschritte
und die Seilsprünge und die Treppen hinauf und hinab, wo allein ein Sprung vom hohen Nikolaiturm
geholfen hätte und wohl von ihr erwogen war.
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Pommerland ist abgebrannt, noch nicht, noch lange nicht oder bald, Pommerland bereitet sich
gründlich auf das Feuer vor, die Lunte wird gelegt, der Zündschwamm gehegt, Schwefel wird
verstreut und Pech, das schwillt und fault und wächst, auch in dir brennt der Keim, du weißt es
nicht, du merkst es nicht, du denkst nicht, wie solltest du, niemand merkt was, niemand denkt,
selbst Professoren der Universität merken nichts und denken nicht, ebenso der Herr Landrat, der
Graf Bär-Bärenhof, er sieht ein neues Morgenrot wo der Feuerschein sich erhebt, ebenso der
Kommandant der Garnison, Herr Major
18|v. Schulz, er fürchtet außer Gott nur seine
Außerdienststellung und den langen langen Tag allein mit der Frau Majorin und ohne Glanz und
Untergebenheit, und er fürchtet nicht, daß er avancieren wird und ein Oberst und ein Held sein
wird und ein toter noch dazu und in einem Heldengrab und in
20|Erbfeindsland, es gibt keine Bäume
und keine Maikäfer in der Hunnenstraße, Luftballons fliegen, wer fliegt nicht mit,
17|wiesengrün
strandweiß ackergrau das Land, unverteidigt die Küste, unruhig die See, der Nebel baut sich sein
Reich, die Türme aus rotem Backstein sind gegen den offenen oder den verhangenen Himmel gesetzt,
Kirchen wie brütende Hennen, Hünengräber im bestellten Feld, nie erschlagene Riesen, Kornblumen
und Mohn, Buchweizen trotzt dem Gewitter, Buchweizengrütze schwappt mit der Milch über den
Teller, Krähen am Tag, in der Nacht Eulen.
Wie arme kahle Kinderschädel ragen die
Hunnenstraßensteine eng aneinander gestampft aus der Erde, naß oder trocken, warm oder kalt, ich
spüre die Steine rund und hart unter den durchlaufenen Sohlen der Schuhe, durch die
widerwärtigen kratzenden Wollstrümpfe, durch die zerrissenen Sommersocken, barfuß glatt und
kühl, es ist eine rum
15|pelige Straße, meiner Haut preßt sie sich ein, ich bin noch nicht
abgehärtet, alles liegt vor mir.
Zum Hafen führt es abwärts, ich hoffe, ich fürchte, es geht in
die Welt, fort von der Hun
19|nenstraße, geradenwegs zu den Chinesen, die sind gelb und tragen lange
schwarze Zöpfe, mein Kaiser straft sie, meinem Kaiser gehören die Schiffe im Hafen, der
Sommerdampfer nach Wiek, der Sonntagsdampfer nach Rügen, die schweren Kähne mit den Kohlen, den
Zuckerrüben, den Kartoffeln, dem Korn, die Herings- und die Flun
21|derboote mit ihren rostbraunen
Segeln, der schnelle Aviso, ein Panther gegen die Heiden, die meergraue nebelgraue feindgraue
sieggraue Torpedobootpatrouille, Regen kommt oft, Wasser stürzt aus den Traufen, Ströme rinnen
zur See, Unrat schifft stolz hinab.
Die Wagenräder sind eisenbeschlagen; sie poltern wie die
Lafetten der Kanonen, wie die Kugeln der alten Schweden die in die Stadtmauer drangen, rollen
und grollen wie Donner, die Häuser der Hunnenstraße erbeben, machen sich klein, sind es gewohnt,
kalkweißer Anstrich nun schmutzgrauer Fassaden, schmalbrüstige Fronten, steile Giebel,
rotgepfannte Dächer, verrußte Schornsteine, beißender Torfrauch.
18|Neben den niedrigen Fenstern
wuchten Läden aus festem Holz, Windfänge, schlagen bei Sturm gegen Mauern und Scheiben. Die
Bewohner zurren das Holz fest, eine seemännische oder halbseemännische Bevölkerung, keilen die
Läden ein wie Segel auf untergangsnahen Schiffen. Am Abend rammen sie die Türen zu, nageln sich
fest, machen das Haus lukendicht, sitzen stolz und furchtsam im Besitz den sie sichern, Gesindel
ist
20|nachts unterwegs. Des Polizisten Säbel scheppert gegen die Steine, Funken sprühen, spitz
blitzt der Helm, martialisch das treue Wächterauge, der Bart sträubt sich über dem törichten
Mund, die Mode geht nach der Majestät oder den Tigern, die windroten, die lüttundlüttdunklen
Backen wappen über den blauen Uniformkragen, der Leib ist ein freundlicher Hafersack. Dieser
22|Leib, dieser Hafersack! Das Seitengewehr wird aufgepflanzt, in der Kaserne auf dem Exerzierplatz
lernt der Mili
16|täranwärter bajonettieren, ein Sack gilt für den Leib, ein rechter Mann
kämpft am liebsten Mann gegen Mann für Kaiser und Vaterland. Manchmal träumt der Polizist, er
ist der Sack. Sonst hat alles seine Ordnung. Die Gaslaterne, schwarzes Schmiedeeisen düsterer
Rabe, wie ein Galgen an das Haus geschraubt. Die alte Straßenpumpe aus morschem Holz ist nicht
gestohlen, der Spülstein nicht beschmutzt. Kein Unfug im Revier. Des Königs Bürger, des Kaisers
Untertanen, des Schusters Kugel zugedeckt, der Tisch des Schneiders hosenbodenblank. In
Schütters Grünkramkeller keimen
die die die
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die |
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die |
Kartoffeln, umschlingen mit bleichen Armen in dunkler
Begierde die Wruken.
Unter der Stube des Herrn Bürgerschullehrers geisterts verdächtig, und
verbissener klammert er sich an seine Vorstellung vom ernsten Leben, und auszurotten ist das
sündige Kindsein am Rohrstock mit Stumpf und mit Stiel. Frau Kapitän verwitwet in dicken
Federbetten wie unter hohen Wogen begraben. Wo mag der Kapitän geblieben
21|sein? Ach, im
Silberrahmen auf der Kommode gegen ein Schnörkelsäulchen gestützt, die Hand, die das Ruder
führte, auf ein Hä-
19|keldeckchen gelegt, chinesische Taifune, gelbe feuerspeiende Drachen sind
freundlich hinzuzudenken. Auch der Küster von Sankt Nikolai ist ein sehr ernster Mann, schwarzer
Gehrock, schwarze Krawatte, schwarzer Seelenhirten
23|hut. Ist auch sein Taschentuch schwarz, winkt
er schwarz gegen den Himmel? Antwortet dem schwarzen Mann sein schwarzer Himmel? Der Küster
blickt zum hohen Turm hinauf. Von der See kommt das Wetter. Der Blitz des Herrgotts trifft
jeden, der vermessen sein Haupt hebt.
Sankt Nikolai wirft seinen schweren lutherischen Schatten
in die Hunnenstraße. Die Betrunkenen kommen erst später. Die Hunnenstraße heißt nicht nach den
Hunnen, die Hunnen überfallen die Straße, nur nicht zu Pferd, sie ziehen triumphierend durch,
sie sind die Sieger auch zu Fuß, so sind sie die Helden, es sind fröhliche Leute, sie lachen,
sie singen, sie treten das grobe Pflaster, an besonderen Tagen mit Stulpenstiefeln und Sporen,
sie blicken ernst und fürchterlich mit aufgezwirbelten Schnurrbärten, sie schlagen,
17|
streichen, wippen mit federnden Stöcken gegen die zerschundenen Gesimse, den greisen Mörtel, den
gnomgesichtigen Verputz der Häuser, sie schauen suchend in die Fenster zur ebenen Erde, forschen
zwischen den Betten, dem alten Hausaltar von Zeugung und Geburt und
22|Tod, zwischen den Gestängen
der Waschtische, den schilfumwundenen Wasserkannen, den vor- oder nachgehenden oder
stillstehenden Uhren mit dem schlagenden oder kranken Perpendikel, den Köpfen toter Rehe, den
Porträts hoher Herrschaften hinter Glas oder in Öl, dem angestoßenen Nippes auf den
Nußbaumvertikos, den Zuckerwerktänzerinnen, die sich vor hohlen Mu
24|scheln, in denen das Meer
summt, erregen, den schweren Ritterburgportieren, den getragenen den abgelegten den paraten
Kleidungsstücken, den leeren oder den vollen Wiegen, die Hunnen begehren, sie fordern Beute, sie
singen ein Lied o filia hospitales, Cherusker, V
aaea
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Lizenzausgabe (Volk und Welt) |
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Werke (Suhrkamp) |
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ndalen, Teutonen, Cimbern, grüne blaue rote gelbe Mützen und die schwarzen Masken der
frischen
20|Wundbinden nach dem blutigen Kampf, scharf schneiden die Klingen der Mensur, ein hohes
Pfeifen in der Luft, erstarrt über den verpflasterten Gesichtern, Schmerz tränkt die Haut,
tränkt meine Haut, dringt tief in mein Fleisch, reißt es, daß es klafft, die Wunde bloßliegt,
wie Feuer brennt und wie Brennessel prickelt, der wehe Dunst der Desinfektion weht durch die
Straße, es berauscht mich der helle jenseitige Geruch der alten Anatomie, ein Regenbogen geht
vor mir auf grün rot blau gelb spektral, sein Scheitel steht über der Universität, verklärt das
Denkmal des Gründers, versinkt in den Kneipen, ich sehe auf den schönen Regenbogen hinunter und
blicke zu ihm auf, hoch aus der spitzen Mansarde, klein aus dem kotigen Rinnstein, und das Volk
gibt
23|es auch, meine Mutter sagt es, Fischweiber, die ihren Karren schieben, Hurnfisch,
Hurnfisch, feuchte Hexen in schwarzen Umschlagtüchern, die dreifleckige Katze frißt die grünen
Gräten, leckt sich das Maul, eine rosige Zunge, frische Flunnern, rotbraune glitschigglatte
bäumen sich gegen das Schicksal, Ungeheuer vom Meeresgrund in Kisten zur Schau gestellt,
Ha
25|rings, Harings, glasig zerläuft das weiße Schmalz in der krustigen
18| Pfanne, sticht in
die Nase, schwebt über der Straße, Mittagsgeruch, Dankopfer, komm Herr Jesus, der Herr Pastor
kommt, spricht Bibelsprüche, Vögel und Lilien auf dem Felde, Jesus und der Herr Pastor vergeben
auch den Sündern, die anderen sind anders, Leute, die eine Stellung ein Gewerbe ein Handwerk
eine Arbeit haben, schließlich die Tagelöhner, Leute, die nichts gelten und Lasten tragen und
Schmutz wegräumen, dann die Bürger, sie stellen schon etwas vor, meine Mutter sagt es, ich ziehe
ergeben meine Mütze, schwenke seiner Majestät Schiff, mache meinen tiefen Diener vor beleibten
hageren rötlichen blassen kleinen großen gemütlichen polternden immer würdigen immer beleidigten
Männern, die helfen die was hergeben die was anschreiben können die nichts hergeben und nichts
anschreiben wollen, Männer die Vorurteile haben, vernichten, verhungern lassen, meine
21|Mutter
fürchtet die Schlangen, aber sie erschrickt auch vor den Händen den großen Händen den behaarten
Händen den fetten mageren roten beringten Händen, vor Männern,
24|die man sehr bitten muß,
Kolonialwarenhändler Susemihl ein Ballon, ein Globus aus all seinen Eßwaren, eine marmorierte
Weste eine goldene eine schwere eine hängende Kette, eine Uhr, die er gern betrachtet, eine Uhr
mit dem Schnitter Tod, ein angenehm gruseliges Stundenläuten, und Kleuke, der mit Kohlen
wuchert, ein böser Wintergott, Hüter des Feuers, sitzt in
26|der wohligen Hölle seines
kohlenschwarzen Kontors, ein Dampfer der Hamburg-Amerika-Linie durchschneidet über seinem kahlen
Schädel die blauen Wogen, ein Bergmann mit der Berglampe an der Bergmütze zeigt zwei
Ilsebriketts wie Moses die Gesetzestafeln, Fietzens des Wirtes hustender nörgelnder Schatten
verlangt seinen Tribut, die Miete für die Mansarde, doch rangieren sie alle in der Achtung, die
man ihnen schuldet, unter den Doktoren, gar den Professoren, selbst dem Pastor, die aber noch
lange nicht so hoch stehen wie die Gutsbesitzer, die im Paradies geblieben sind, aus dem man uns
vertrieben hat, noch auf dem plattesten Land auf steiler Höhe, meine Mutter sagt es, die
Gutsbesitzer gehören schon zu den Offizieren, den echten Größen,
19| langer blauer Rock,
kein Stäubchen, hoher roter Kragen, keine Falte, gerader Mützenschirm oder blanker Schuppenhelm,
ein Fisch, den die Fischfrauen nicht ausrufen und in die Waagschale wer
dfff
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en, der Name der Hunnenstraße rührt von den Hunden her, plattdeutsch, in
Pommern.
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25|Feetenbrinks Konzerthaus war ein
Palast in der Hunnenstraße, einstöckig wie die anderen Gebäude, aber eine lange Front, die
abends erleuchtet wurde wie gewöhnliche Häuser nur zu Kaisers Geburtstag mit Siegerkranz und
Wonneganz und Kerzen in den Fenstern. Das Konzerthaus war der Stolz und die Schande der
Hunnenstraße, es gab ihr Glanz und Dunkelheit. Alle
27|beobachteten, wer zu Feeten
22|brink ging. Nicht
nur alte Weiber hockten hinter den Fensterspiegeln, diesen wie Periskope oder Polypenaugen auf
die Straße hinausgestreckten Spionen und registrierten, was anfiel, speicherten die Daten,
jederzeit bereit, sie wieder auszuspucken, bleich entrüstet, neidgrün verfärbt, frühe
Elektronengehirne.
Die Gutsbesitzerwagen fahren vor, ich bewundere sie, ich streiche drumherum,
offenen Mundes, Lack funkelt, Leder spiegelt, Schmiere salbt brunnenschwarz die Naben der Räder,
es näßt es dampft es glänzt der Pferde Fell, der Hausknecht präsentiert eine unsichtbare
Standarte, alter Königinkürassier, wenn er den Namen Pasewalk nennt oder hört, die Stadt, in der
er diente, in der man ihn kleinkriegte, in der er stramme weiße Hosen trug, sieht er wie der
Trompeter von Thionville aus, wie die Attacke von Mars-la-Tour, und ich denke an Pasewalker
Spritzkuchen, süß leicht und fettig wie eine schwere gezuckerte Luft, meine Mutter schwärmt von
ihnen, aus Pasewalk kommt nichts Böses, der Hausknecht nimmt die Zügel, die ihm gnädig
26|zugeworfen werden, er weiß, was erfreut, Herr Rittmeister Herr Hauptmann Herr Oberst Baron von
und zu und auf Klüttegrütt, der Gast, der Gast geehrt, ein breiter Rücken, ächzt die drei
Steinstufen hoch, füllt die Tür, rollt ins Haus, im Winter zottelt ein Pelz, schneenaß,
wälderkalt, im Sommer spannt sich leichtes Tuch über Schultern und Gesäß, Nanking,
20|
klemmt im
28|Schritt, fällt durchschwitzt und plump über die vollen Ackergängerschenkel,
Zigarrenrauch bleibt zurück, Wolke eines Kanonenschusses, der Knecht schirrt die Pferde aus,
reibt und deckt sie mit wollenem Tuch, faßt sie am Halfter, führt die Geduldigen in den Stall,
ich bin ihnen gefolgt, ich buhle um die Freundschaft der Pferde und ihres Knechtes, die Pferde
sind freundlich, sie haben sanfte dunkle Augen, der Knecht treibt mich mit Flüchen aus dem
Stall, im Konzerthaus beginnen sie Klavier zu spielen, Gelächter gluckst, Worte stürzen
zerbrochen über die Straße.
23|Die Gardine wird zur Seite geschoben, ich stehe vor dem Haus, ich
beobachte alles genau, eine Frau zeigt sich am Fenster, klopft gegen die Scheibe, es gilt mir,
ich erwartete es, Geheimnis durchrieselt mich, ich denke, sie schlägt mit einem goldenen Ring,
pocht mit einem grünen Edelstein, sie hält etwas in der Hand, sie lockt mich, ich kann nicht
erkennen, was sie mir zeigt, aber es ist unendlich begehrenswert, die Hand winkt, ich fürchte
mich, ich blicke mich um, nach Beistand, der mit mir geht, nach Feinden, die mich hindern
27|könnten, ich fühle mich versucht, ich kann nicht widerstehen, ich klettere die drei Steinstufen
hoch, tapse durch die offene Tür, bin der dicke Gutsbesitzer im Pelz oder in Nanking, atme Bier
und Rauch, höre nun lauter das Klavier, heller das Lachen, schärfer die Rede, die Treppe führt
steil empor, ein roter Läufer bedeckt sie, der rote Läufer weist den Weg, ich strenge mich an,
ich
29|krieche höher, der Läufer ist rauh, der Läufer schrammt die Hände und die Knie, im ersten
Stock hängt die Kokosnuß, eine Alabasterleuchte von Palmenblättern umrankt, der Gang ist
schummerig, er dunstet, er brodelt, er wärmt wie der Stall, aber das Tier, das hier wohnt, ist
kein Pferd, das kitzelt die Nase wie in Dehmels Barbiersalon, scharf nach Seife, nach Blumen,
die getrocknet im Familienalbum liegen unter Verwandten unter Toten unter Leuten, die irgendwer
kannte und deren photographisches Abbild man entgegennahm und aufbewahrte und die man sich nicht
mehr vorstellen kann, auch nach Blumen, die zu lange in der Vase im Wasser gestanden
21|
haben, ekel nach gestocktem Blut, eine Tür wird spaltbreit geöffnet, Licht sticht, Stoff fällt
zurück, ein Arm blüht weiß, die Frau zieht mich herein, sie hat an das Fenster gepocht, sie hat
mich gelockt, sie trägt ein Gewand, wie ich es noch nie gesehen habe, das Kleid einer Königin
oder eine
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Fee, es scheint aus lauter Spitzen und Federn zu sein, ein bunter Vogel stelzt vor
mir, flattert, schlägt die Schwingen, sprengt die Kammer, das Haar der Frau
28|leuchtet wie eine
blonde Sonne, Rapunzel aber mit einem Harlekins
24|gesicht, rotweißverschmiert, die Augen
teerpfützenblau, die Brauen steinkohleschwarz, ihr
eee
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Brust ist wie ein Bett, zwei hochgeschüttete
Pfühle, ein Schutz in kalten Nächten, die Stimme jubiliert, eine Sängerin, eine Nachtigall, sie
schenkt mir, was sie mir am Fenster zeigte, einen Reiter auf einem Pferd, Reiter und Pferd
30|sind
aus Holz, das Pferd ist weiß und schwarz, der Reiter ist weiß und rot, ich liebe den Reiter und
sein Pferd, ich werde
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sie nie wieder hergeben, ich drücke sie gegen die Brust und fange zu
weinen an, ich habe meine Mutter betrübt.
6 Texte
Textgenese
Register
Sie
hörte ihn, wie er die Treppe heraufstieg, sie hörte seinen gehemmten, seinen schuldbewußten
Tritt, er war drüben gewesen, in Feetenbrinks Haus, und ihr war, als ob er als Mann da hinüber
gegangen wäre, als ihr Mann oder auch als ihr Sohn, später, erwachsen und
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zu ihrem Kummer, ein
Herumtreiber, unehrlich, ein Mädchenverderber, so wurde er angesehen, der Schande war nie ein
Ende, und hatte sie sich bewährt, besonnen wie die Leute sagten, gebessert, nachdem sie Unglück
gehabt hatte, so konnte doch für ihn noch das Gericht kommen, die Erziehungsanstalt, das
Gefängnis, die vergitterten Fenster, die man vom Kastanienwall sah, beim Spazierengehen und mit
geschwollenem Schauer, sein Vater hatte Tennis gespielt auf dem Platz unterm Kastanienwall vor
der grauen hohen Mauer, und sie hatte zugesehen,
29|von oben, vom Wall her, wie er, sein Vater,
über den roten Sand des Tennisplatzes gesprungen war, in langen weißen Hosen, die mit einem
breiten Gummiband über den Schuh gespannt waren, den weißen Panamahut
22| auf dem Kopf,
dem Netz zu, hinter dem Ball her, und sie hatte den Platz nicht betreten dürfen, der für die
Mitglieder des Akademischen
31|Tennisclubs reserviert war, und vielleicht hat ein Gefangener, ein
Dieb, ein Mörder, über die Gefängnismauer hinweg, durch das kleine vergitterte Fenster der Zelle
hindurch sie auf dem Wall unter den Kastanien gesehen und sie beneidet, wie sie dem
Tennis
25|spieler zusah, sie mußte streng sein mit ihm, ihrem Kind von ihm, es war ihre
Christenpflicht, und sie ahnte, sah es durch die Tür hindurch, er hatte etwas geschenkt
bekommen, hielt es fest umklammert in seiner kleinen schmutzigen Hand, er wartete, er zitterte
schon, daß er es hergeben sollte, und er zögerte vor der Tür und wollte nicht hineinkommen und
von dem Geschenk lassen, er klammerte sich an die Gabe einer dieser Sängerinnen, dieser
reisenden heimatlosen aus dem Elternhaus geworfenen Tingeltangelteusen, die sie, wie alle Welt,
verachtete und insgeheim auch beneidete, denn wer wußte es, vielleicht waren diese Geschöpfe
frei, vielleicht lebten sie endlich glücklich jenseits dieser Grenze von Wohlanständigkeit und
moralischem Hochmut, die für sie nur das Land der Armut war, während diese Animierdamen das gute
Land der Anständigen hinter sich gelassen hatten und viel
30|leicht auch die Armut und nun die
knechteten mit Laune, Verweigerung, Betrug und Ausnützung, die sie knechteten, aber dies zu
denken
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war schrecklich gefährlich, sie durfte so nicht denken, diese Grenze, an die man sie
schon gestellt hatte, mußte gezogen bleiben, sie wäre sonst verloren gewesen in ihrer Stadt. Sie
hörte seinen
32|Schritt, sie hörte sein stilles Warten vor der Tür, und während sie lauschte und er
sie erzürnte und doch erfreute, dieser Schritt auf der alten knarrenden Treppe, dieses Warten
auf den wippenden Bohlen des Treppenabsatzes, vernahm sie wieder die anderen Schritte, die
geschäftigen gleichgültigen Tritte der Sargträger, die ihre Mutter hinuntergetragen hatten, ihre
Mutter, die in allem das Unglück gesehen und es immer bejammert und niemals begriffen hatte oder
es nicht hatte begreifen wollen, da
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all dieses Abwärtsfallen von jenem ersten Fall herrührte,
ihrem verwegenen Sprung in
23| die Freiheit, den sie getan hatte, blindlings und ohne sich
um Freiheit zu kümmern, sie gebrauchte das Wort Freiheit gar nicht, sie kannte es nicht in
seiner absoluten Bedeutung, und wenn es ihr einer gesagt hätte, zugerufen in dem Moment, in dem
sie aufbrach, aus
26| ihrer Ehe, der Familie, dem Herkommen, Besitz eines Gutes mit all seinen
Tieren, dem Acker und den Bäumen, springen wollte und auch sprang, hätte sie die Auflehnung, die
in diesem Wort lag, nur erschreckt, und vielleicht hätte sie alles gelassen, das Weggehen, den
Sprung, denn es war ihr gepredigt worden, und sie
31|zweifelte an keines Predigers Wort, daß sich
aufzulehnen Sünde sei, des Teufels Werk, und sie war noch immer des Pastors Meinung und untertan
der Obrigkeit und konform mit der Sitte, die ihr zugesetzt hatte, aber es war niemand zu ihr
gekommen, der ihr von Freiheit hätte sprechen und sie erschrecken können, blindlings lief sie,
meinte aus ei
33|nem Haus in ein lichteres umzuziehen, ein neues Heim, das sie aber nie erreicht
hatte und das auf diesem Weg, auf den sie sich begeben hatte, blindlings, ununterrichtet, auch
niemals zu finden gewesen wäre, oder jedenfalls nicht von ihr, und so sah sie sich dann ihr
Leben lang als vom Unglück erwählte, vom Schicksal geschlagene, schließlich arme alte Frau, der
die Sorge am Bett saß, eine andere arme alte Frau, fast ihr Spiegelbild, und sie vererbte diese
Überzeugung von Unglück und Geschlagensein, von Hiobs Leiden, wieder ein
enen
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Ausdruck, den sie aus der Predigt übernommen hatte, weil er so schön und voll nach
Unglück klang, vererbte dies an sie, die Tochter, die nun ihren Sohn atmen hörte hinter der Tür,
und nahm dies für ein Zeichen, das das vererbte und aufgenommene Unglück bestätigte und ihm das
letzte endgültige Siegel der Ausstoßung aus der Gesellschaft der Guten aufdrückte. Und auch das
Kind sah nicht die bloße geschlossene Tür, das braun angestrichene Holz, die schwarze,
gußeiserne Klinke, zu der es die Hand nicht zu heben wagte, auch das Kind sah den Sarg, der
hinausgetragen wurde, das Gesicht seiner Groß
32|mutter wie es über seine Wiege oder dem alten Korb
oder die Kiste in der e
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gelegen gebeugt war, aufgegangen war, oft, für Stunden, für ewig, ein kleiner
blei
24|cher Mond mit Mondkrater, Mondseen, Mondschatten, Mondlicht von der Lampe oder
vom Fenster, sehr deutlich,
27|sehr klar, wie auf einer Mondkarte, lange bevor das Kind den großen
Mond am Himmel erblickt
34|hatte, ernst, verhärmt, freundlich auch, aber auf eine verhärmte Weise
freundlich, manchmal in Mordgedanken geschattet und dann in Tränen gebadet, ihm die Schuld
gebend, das Kind spürte es, schrie aber nicht, es blickte ernst, wehrte sich nicht, gab auch
nicht nach, sie verstanden sich. Und der Mond sprach zu ihm und das Kind antwortete. Keine
Worte.
7 Texte
Textgenese
Register
Sie warf die Erde hinab auf den Sarg,
auf die Frau, die in dem Sarg lag, und sie, die ihre Mutter beerdigte, sah über die grünen
Hecken des Friedhofs die altvertrauten Türme der Stadt, die sie garnicht bedrückten, die sie
nicht fliehen wollte, die hohen roten Dächer von Sankt Marie, von Sankt Jakobi, von Sankt
Nikolai, und sie erkannte auch das Gaswerk mit seinen schwarzen Gasometern, gleich jenseits der
letzten Hecke, nah dem Friedhof, sie roch das Gas und sah es durch einen Schlauch laufen, sah
den Schlauch schwellen, eine pralle, sich bäumende Schlange, die in den Ballon lief, die ihn
füllte, der dann gelb, sonnengleich, in seinem Netz über der Gondel hing, an seinen Tauen zerrte
und schließlich hoch über Dächer
33|und Türme stieg, über dem Land und dem Fluß schwebte, auch über
dem Friedhof, bis er langsam zur See hin entwich. Und sie war unten geblieben, auf der Erde
gelassen, lief verstört der falschen Sonne nach, rannte durch Straßen und Gassen, irrte über den
Wall, unter den alten schattenden, den kuppelnden Bäumen, und der Schrei in ihr
35|wurde nicht
laut, sie unterdrückte ihn, er erstickte sie, denn ihr war gewiß, daß sie nun werde flüstern
müssen ihr Leben lang, sie faßte es nicht, ertrug es nicht, daß dies ihr Leben war, sie wehrte
sich, sie schlug sich, aber es war nicht abzuschütteln, dies was ihr auferlegt war, das
Entsetzen das in ihr war, in ihrem Leib wuchs und mit ihr ging und bei ihr blieb und bleiben
würde, und überall in der Stadt, auf jeder Straße, hinter jedem Fenster, in allen Stuben waren
Augen
25|28| die sie maßen, Finger die auf sie wiesen, Münder die sie höhnten.
8 Texte
Textgenese
Register
Unsere Kleider waren vom Regen naß. Das Gewitter war
gewandert und grollte neu. Wir schwitzten unter unsern durchweichten Hüllen. Das Wasser dampfte
über den Pflanzen in der schweren feuchten Luft. Die Bäume weinten. Der Friedhofsgärtner führte
uns in die Gruft, in eines seiner vornehmen Häuser auf dem schönen alten Friedhof. Die Häuser
des Friedhofsgärtners hatten Eingänge aus griechischen Säulen, die den spitzen Giebel vor dem
Dach trugen; doch es waren sehr niedrige, es waren recht kleine Häuser, in denen die Toten
wohnten, die wohlhabenden
34|Toten, die Toten, die zu den Reichen gehört hatten und nicht in die
gemeine Erde kamen, nicht in den Keller verstoßen wurden, nicht in das modrige Loch, das
ordinäre Grab, nicht unter die Wurzeln mußten, nicht zu den emsigen fleißigen schmatzenden
Würmern hinab. Die Toten in den Totenhäusern entstammten den alten Vampirgeschlech
36|tern der
Stadt, dem mächtigen Kreis der patrizischen Mumien, die immer ein würdiges Heim für ihre teuren
Verstorbenen unterhalten hatten, exklusiv und in Furcht und doch in Hoffnung. Das Haus, in das
wir eintraten, war unbewohnt, kein Toter ruhte aufgebahrt, kein Leichnam hielt Tafel. Vielleicht
war die Familie, die unter diesem Dach humanistischer Bildung getrauert oder triumphiert hatte,
ausgestorben oder verarmt oder verfemt, oder sie hatte nur den Halt verloren, den festen Glauben
an sich selbst, die Selbstverständlichkeit des Besitzens, den großen Dünkel der Titel oder war
einfach ehrfurchtslos geworden im Glück, gleichgültig gegen die Ahnen. Und wo der Tote geblieben
war, sein Gerippe, das hier wohlangezogen gehaust hatte, wußte man nicht, oder wollte es nicht
wissen, der Friedhofsgärtner war geschäftsgebunden mit im Komplott, vielleicht hatten sie bei
Nacht des Urvaters Knochen hinausgeworfen auf den Friedhofsmüll, der Tote war exmittiert, der
Scheck nicht eingegangen,
29| die Miete nicht bezahlt worden. Nie zögerte die Stadt, einem Schuldner
das Bett zu nehmen. Es waren aber Stühle zurückgeblieben in
26| 35|der Gruft, Sessel für die
Trauernden, Throne für die lustigen Erben, vergoldete Sitze, doch das Gold war abgeblättert, wir
sahen das wurmzerfressene bröckelnde Holz gleich verdorbenem madigem Mehl und darüber den
Plüsch, der einmal königsrot gewesen war, purpurn, und nun in schmutzigen Flecken, Streifen und
Schrammen sich auflöste über
37|gelbfahlen Wolken aus faulender Wolle. Wir waren von Tod und
Leichenschmerz und Abschied und Geißelung und dem Blick in das offene Grab, dem Seilfall des
Sarges erschöpft, daß wir nicht mehr weinten, nur, vom Regen geschlagen, des Friedhofsgärtners
Findlinge wurden: die verwaisten Totensessel kamen uns zu, wir fanden sie weich und sanken in
Schlaf in ihren verwesenden feuchten Polstern, ruhten im verratenen verfallenen Grab eines
angesehenen Mannes, der Tote hatte uns Platz gemacht und gesellschaftlich aufgewertet, in der
Sturmstille täuschte das morsche Boot, wir suchten Frieden im Hader. Der Totengräber und seine
Gäste hatten nichts, einander zuzutrinken. Der Totengräber blickte erwartungsvoll auf das Kind
in blauweißgestreiftem Kattun, den Matrosenkragen gestärkt. Efeu wird auf dem Grab wachsen und
all die immergrünen Pflanzen für das ewige Leben, die strengen aromatischen knisternden Gerüche
der Buchsbaumhecken werden die Trauer verschönen, die Totenglocke läutet, das Nebelhorn ruft,
dem sinkenden Boot wird nicht geholfen werden, das Kiwitt des Käuzchens
36|ängstigt die
Mitternacht, die Äolsharfe im Garten ist des Richters Feind und das Staunen des Kindes wieder
und wieder.
9 Texte
Textgenese
Register
Mit Bismarck verbinden mich sehr
persönliche Erinnerungen. Wir sind uns ähnlich. Bismarck weinte, er warf
38|sich, der schwere Leib,
auf das Sofa, ich stelle sie mir vor, die
30|weißen Sofaschoner, die von liebender Hand gestickten
Sofakissen, die von dienender Hand schön gekämmten Sofafransen, und Bismarck weinte. Ich nicht.
Sie hatten mir als Kind und im Namen Bismarcks oder auch eines preußischen Königs zu
27|
oft gesagt: Ein Mann weint nicht. So weine ich nur, wenn ich Bismarck bin. Ich lernte ihn in
meinen jüngsten Jahren kennen, Bismarck stand auf der Nähmaschine, oder er stand neben der
Nähmaschine, auf der meine Mutter das Bettzeug eines dieser pommerschen Rittergüter flickte,
Lössin oder Wunkenhagen oder Demeritz, und Bismarck war aus Erz gegossen, er hatte Schaftstiefel
aus reinem Erz an, er hielt einen Schleppsäbel aus Erz in der erzenen Hand, und auf dem Kopf aus
Erz saß ihm ein Adler, auch aus Erz. Auf einem Helm aus Erz. Diese Figur sah aus, als ob sie
mich einschüchtern wollte. Bismarck wog viel, und ich konnte ihn damals nicht heben, aber wenn
ihn ein Mann richtig gefaßt hätte, hätte er einen anderen Mann mit ihm totschlagen können. Der
Herr von Lössin
37|oder der Herr von Wunkenhagen oder der von Demeritz tat das nicht. Er hatte zum
Totschlagen einen Spaten. Aber auch mit dem Spaten schlug der Herr von Lössin oder der Herr von
Wunkenhagen oder der von Demeritz nicht zu. Er hatte zum Totschlagen seine Leute. Sie hatten auf
Lössin oder auf Wunkenhagen oder auf Demeritz immer Leute gehabt, und selbst nach der Aufhebung
der preußischen Gesin
39|deordnung und der gutsherrlichen Polizeigewalt waren auf Lössin,
Wunkenhagen oder Demeritz Leute geboren worden oder hatten sich Leute angefunden, zum
Totschlagen und zu anderem. Dieses Rittergut, Lössin, oder Wunkenhagen oder Demeritz hatte
meiner Mutter gehört, oder es hatte der Mutter meiner Mutter gehört, ich habe dies nie so ganz
begriffen, man hat es mir zu oft und immer wieder anders erzählt oder anders verschwiegen, und
meine Mutter war nun gelegentlich mildtätlich Weißnäherin auf diesen Rittergütern, sie konnte
aber gar nicht nähen, wenn man auch anzunehmen schien, daß eine Frau in ihrer Lage zu nähen
31|
habe, und so flickte sie die Laken aus rohem bäuerlichen Leinen für eine Mark am Tag, und die
große Vergünstigung war, daß sie mich mitnehmen durfte. So saß ich unter der Nähmaschine und sah
die Füße meiner Mutter, wie sie das Tretwerk der Nähmaschine traten, und die Bettücher liefen
unter der Nadel der Nähmaschine durch, stiegen auf und fielen und hoben und senkten
28|
sich vor meinem Blick wie der Vorhang einer Bühne, auf
38|der Bismarck auftrat, oder auf der sich
ein Schauspieler, der den Bismarck spielte, für den Applaus bedankte. Aus Erz gegossen, und die
Studenten zogen mit Fackeln vor die Stadt und zum Bismarckturm und warfen dort die brennenden
Fackeln zu Füßen des Denkmals, und Bismarck, auch er aus Erz, stand mit festen Füßen auf seinem
Sockel, festen Gesichtes, festen Blickes, fest im Fleisch, aus Erz, im Flammenschein in der
40|Nacht, es konnte nichts schiefgehen. Ich bin damals unter der Nähmaschine neben den das Rad
bewegenden Füßen meiner Mutter nicht darauf gekommen, daß die Bettlaken, die sich hoben und
senkten und vor meinen Augen flatterten, auch mit Leichentüchern zu vergleichen gewesen wären,
oder mit den weißen Fahnen der Niederlage.
10 Texte
Textgenese
Register
Was war geschehen? Irgendetwas war geschehen, es war nicht bei ihnen geschehen, nicht in ihrer Stube, seiner Mutter wäre es niemals eingefallen, sie
hätte es nicht gewollt, und bei ihnen hätte es garnicht ein solches Buch gegeben, aber seine
Mutter war ja verzweifelt, alle sagten von ihr, sie sei verzweifelt, man erwartete, daß sie
verzweifelt zu sein hatte, und vielleicht verzweifelte sie dann auch wirklich, und da Krieg war,
hatte sie besonders zu verzweifeln oder auch weniger, die Familien richteten sich auf den Tod
aus, auf einen strahlenden glücklichen Tod, qualvoll und aus
39|löschend nur für die Feinde,
Deutschland bewährte sich, der Kaiser kannte keine Parteien mehr, das Volk wurde in
32|den Graben
und einer glänzenden Zukunft entgegengeführt und alle waren bereit, zusammenzuhalten und alte
Sünden zu vergeben, soweit ein so wahrhaft christliches und vaterländisches Verhalten in den
gottgegebenen Grenzen blieb und Unterordnung und Sitte nicht
41|gefährdete; so hatten sie die
Herren eingeladen zu einem Kriegseintopf, und das Buch hatte sich irgendwo gefunden, in einer
dieser Gutsbibliotheken, mit dem Blick auf den Herrenhof, die Lindenauffahrt,
29| die
feuchten Moorweiden, die nachtschattengrünen Kartoffeläcker, den Horizont von Rübenfeldern,
etwas Getreide, dem Laubwald, einem Runenstein, schwarzweißen Kühen, Nebel der Ostsee, da, neben
der Regimentsgeschichte, neben dem Jagdkalender, dem Flottenkalender, dem Kolonialkalender,
neben Bismarcks Erinnerungen, ungelesen oder nur zur Hälfte gelesen und nicht verstanden, da wo
er geweint hatte, neben dem Gewehrschrank, vor dem grünen Billardtuch, und irgendwer hatte daran
gedacht, daß irgendjemand einmal ein General gewesen war, ein toter General zwar jetzt, Bismarck
vielleicht, doch auch ein toter General, Bismarck vielleicht, genoß höchstes Ansehen, hatte
Kameraden über das Grab hinaus, und der, der dies dachte, der Herr von Lössin oder der Herr von
Wunkenhagen oder der von Demeritz, wußte, daß er Verbindungen hatte und daß es gegen jede
40|Vorschrift war, verabscheuenswert, korrupt, aber doch und im Krieg und im Gedenken an den toten
General, Bismarck vielleicht, ein gutes Werk, es galt, ein gefährdetes Reis von seinem Stamm zu
erniedrigen, wegen der Sünde, aber ihm auch die Möglichkeit zu geben, wieder erhöht und
angenommen zu werden, wegen des wenn auch morschen Stammes, beides, und er hatte die
42|Scharteke
aus dem Schrank genommen, ein unentbehrliches Auskunftsbuch für jedermann in populärer
Darstellung, unsere Armee und unsere Marine, der Einband war gewichtig, er war genagelt, Gott
mit uns in Gold auf schwarzem Grund und der preußische Aar schwarz auf goldenem Grund und dann
gleich Er auf der ersten Drei
33|fachfarbätzung, nein, nicht Er, Er nur, wie Er aussehen wollte oder
hatte aussehen wollen und nun schon nicht mehr aussah, ergraut und vielleicht schon
untergegangen, seiner Majestät Linienschiff, Kaiser Wilhelm II., wogenumspült, schaumgekrönt,
buggepanzert, goldbeschlagen, adlergallioniert, der einzig echte furchteinflößende man of war,
und da war denn gleich die Order, der Speck in der Falle, der Speck, den das Kind nicht fraß,
der Speck und die Falle, die es kidnappten, und sie sagten zu seiner Mutter, der Junge ist ein
Klotz an deinem Bein und hindert dich, jetzt im Krieg, auf unsere
30| Güter zum Nähen zu
gehen, das Weißzeug auszubessern, manchmal mit am Tisch zu sitzen, manchmal nicht, für eine Mark
den Nähtag, bei freier, wenn auch gesinde
41|mäßiger Verpflegung, und aus deinem Bankert kann ja was
werden, bei guter Führung, sagten sie, aber sie erwarteten die gute Führung nicht, sie
zwinkerten sich zu, er kann General werden, Feldmarschall, Bismarck vielleicht, sie scherzten,
schlugen sich auf die Schenkel, und seine Mutter flüsterte, oder wenigstens Professor, da
dachten sie an die Fliegenden Blätter, den Kladderadatsch, an die Spottfi
43|gur im Gehrock, mit
schwarzem Schlapphut, stehengelassenem Regenschirm, paulskircheverdächtig, während die Frau ihn
sah in englischen Flanell gekleidet, Luftschiffer mit der Schirmmütze des Kaiserlichen
Yachtclubs, das Reis war faul, sie erstickten nicht an ihrem Lachen, aber bei Gott war kein Ding
unmöglich, Pastor Wullwebe predigte es oder die Bibel, und Zucht und Ordnung waren sicher, sie
wurden ernst und blickten in einen Gral, den gefundenen Ort der Läuterung, und sie nahmen wieder
das biernagelbeschlagene Buch, vergewisserten sich der Adresse
11 Texte
Textgenese
Register
die Bewerbung um die Wohltaten
der Anstalt ist an das Direktorium des Bildungs- und Erziehungswesens der Königlich Preußischen
Armee in Berlin Wilhelmstraße 82 bis 85 zu richten, der Herr von Demeritz, der von Lössin, der
34|
Herr von Wunkenhagen reiste gern in die Hauptresidenzundlasterstadt, der Erinnerung froh, der
Zukunft sicher, ein Wille ein Weg, doch wessen Wille und welcher Weg, Major außer Dienst,
42|Rittmeister außer Dienst, Oberstleutnant zur Disposition gestellt, auf die Güter entlassen,
Landfront in alter Pracht und Herrlichkeit, seltsam der Krieg, keine Ulanenpatrouille, der Herr
brachte einen selbstgeschossenen Hasen mit, Berlin hungerte, sagte man, und trug geräucherte
Gänsebrust und ungehörig und grotesk einen Sack Mehl vom eigenen Feld in einem Weidenkorb
versteckt, er traf Standesgenossen, war Mitglied des Her
44|renhauses, beliebt, bei Hiller im
Cabinet particulier noch Hummer und Chablis, aber die Sorge speiste mit, hatte eine feine Zunge,
31| der Oberkommandierende in den Marken senkte das Haupt, erstickte fast, eine fremde
kratzende knebelnde Furcht im Hals, etwas ging schief, gestandene Konservative grollten
einander, mißtrauten schon sich selbst, gedachten der Blutsverwandten in Petersburg, Trost, in
der Wilhelmstraße sahen aus den Fenstern preußischer Klassik Bismarck, der Graf von Caprivi,
Chlodwig Fürst zu Hohenlohe-Schillingsfürst, Bernhard Fürst von Bülow, großer Genießer,
Bethmann-Hollweg, Asket und Bürodiener in Uniform, Moltke der Ältere grüßte, die Mütze grade in
die Stirn gedankenlastig, Neffe Helmuth war schon geschaßt, der Ernstfall war da, erwartet,
nicht erwartet, Alfred Graf von Schlieffen umgebettet in ein Grab an der Marne, der Mann vom
Lande hatte nicht die Gabe der Clairvoyance, sah nicht im historischen Fenster die neuen Herren,
viel Plebs unterwegs
12 Texte
Textgenese
Register
43|das Militär-Knaben-Erziehungs-Institut soll den Söhnen der berechtigten
Personen, nein, er war nicht berechtigt, ganz und gar nicht, kein Abkömmling eines vor dem Feind
Gebliebenen, eher eines in die Luft Gestiegenen, in Wolken Entschwundenen, im hehren blauen
Äther aufgelöst, nein, kein Bettnässer, doch der General, vielleicht Bismarck, war
35|ja tot, in
Gottes Frieden eingegangen, nicht auf dem Schlachtfeld, Orden
45|und Ehrenzeichen, Tröstungen der
Religion, Böllerschüsse des Kriegervereins, das Kind war wehrlos, verabscheute sie, Hinterteil
eines Denkmalpferdes
13 Texte
Textgenese
Register
bis zur Konfirmation oder bis zum vollendeten fünfzehnten Lebensjahr
unentgeltlich, ranziger verschimmelter Speck aus der Mausefalle, unentgeltlich, sie sagten zu
seiner Mutter, er ist ein Stein an deinem Bein, und sie glaubte dann auch, daß er sie hindere,
auf die Rittergüter zum Nähen zu gehen, das Weißzeug auszubessern, manchmal mit am Tisch zu
sitzen, manchmal nicht, und er saß allein in ihrer Stube, verwahrlost, wie sie sagten, und aß
ihr Brotmarkenbrot, sie bekam eine Mark für den Nähtag bei freier wenn auch manchmal
gesindemäßiger Verpflegung
14 Texte
Textgenese
Register
32|der Kommandeur leitet den gesamten Dienstbetrieb und
vertritt die Anstalt nach außen, Oberst von Froser, hoch zu Roß ritt er von der Burg in die
Stadt, kleiner stämmiger Kriegsgott,
44|verwitterte Ortsgröße in ständiger Vertretung Seiner
Majestät, weißer Helmbusch, weißer Schnurrbart, scharfe Sporen, scharf der Mann, sämischledernes
Spreizgesäß, Parade zackig wie beim Ersten Gardegrenadierregiment zu Fuß, Chef Seine Majestät
der Kaiser von Rußland, der zweite Nikolaus, Feind leider und Cousin gewesen und Kaiserliche
Hoheit schon auch nicht mehr
15 Texte
Textgenese
Register
46|er hat über die Offiziere und das sonstige militärische Personal
die Disziplinarstrafgewalt eines Regimentskommandeurs, schlug auch Schlachten im Sandkasten, kam
wie Zieten aus dem Busch, hielt sich mit Sedan nicht auf, nahm gleich Paris, Oberkommandierender
im Seinebogen, nicht nachtragend in seinen Träumen, hängte keinen, ritterlicher Sieger in
Standesgrenzen, speiste mit dem Marquis von Belfort-Saint Léhar im Maxim, korkenknallender
Frohsinn,
36|louloufroufroudoudou, an Frau von Froser die Ansichtspostkarte aus großer Zeit, die
Tuillerien, den Invalidendom unter deutscher Flagge und natürlich den Spiegelsaal im Schloß von
Versailles schwarzweißrot von nun in alle Ewigkeit
16 Texte
Textgenese
Register
den zur Dienstleistung kommandierten
Offizieren sind je zwei Kompanien der Knabenschule unterstellt, stellten sich unter im
Sperrfeuer, es gab einen Moloch, der hieß Westfront, es gab kleine Moloche nicht weniger
hungrig, sie hießen Ost
45|front Isonzofront Dardanellenfront auch die Seefront kannte den Leviathan
und vom Himmel warf die Sonne den Ikarus
17 Texte
Textgenese
Register
wegen leichterer Vergehen können sie als Strafen
verhängen den einfachen Verweis Verweis vor versammelter Abteilung oder Kompanie Strafputzen
Verrichtung von Strafdiensten außer der Reihe Strafrapport dreimal und Anweisung von
Strafplätzen, dies war das Geschäft
47|der schäbigen Seelen,
33| der verkniffenen Streber,
die unten blieben selbst wenn sie oben waren, der samentrocknen hämischen
Pflege-Ordnung-liebe-sie-Männer, die sich der schirmenden Wehr untertänigster Diener
attachierten und in ihrem Glanz buchführten, auch das ehrsame Konto des Todes, immer korrekt,
allein von Befehlen trunken, die Hand zitterte nicht, aber bewegt von der großen Zeit und in
stiller Freude
18 Texte
Textgenese
Register
ihr Wirkungskreis umfaßt die körperliche Ausbildung der Knaben die Erteilung des
Turn- und Schwimmunterrichts sowie die Aufsicht über Anzug und körperliche Reinlichkeit
Schlafsäle Putz- und Waschräume, waren Pöstchen für Invertierte, das wahre Eldorado, keine rosa
Bar, klassisches Sparta der Pädagogen, der ehrenwerte Altar der alten striemigen Göttin Artemis,
Bettdeckenheber, zeigt, was ihr habt und wie ihr gewaschen seid, eine Phalanx junger Rücken,
beugt euch tief tief zwei glatte feste Säulen die grade
46|saubere
37|Rinne qualvoller entzückter
Schauer den eigenen Leib hinunter, die Militär-Schwimmanstalt weißer Zehnmeterturm graupelnder
Regen algengrünes Wasser Gänsehaut, die naßmäulige Militärschwimmhose dreieckig rot roter
Schamlappen rote verschwimmende Flecke in den Augen, Trillerpfeife des Aufsichtsführenden
19 Texte
Textgenese
Register
der Institutspfarrer – evangelisch – hat die Militärseelsorge über alle Angehörigen des Institutes,
dessen Leh
48|rer ihm unterstellt sind, er leitet den Schulunterricht erteilt den
Konfirmandenunterricht und führt die Aufsicht über die Unterrichtsräume und Lehrmittel, Mann der
Schrift, wehrte sich tapfer gegen die üble Nachrede, Alter Herr des Corps Pommerania,
vaterländischer Gottesstreiter, Heiland der Hausvaterpflicht, christlicher Jahve, die
Kürassierstiefel stulpten, er übersetzte die Lutherbibel ins Preußische, liebte die Kernsprüche,
seid untertan der Obrigkeit gebt dem Kaiser was des Kaisers ist und wer sein Kind lieb hat der
züchtigt es
Erstausgabe (Suhrkamp) |
drei Leerzeilen |
Gesammelte Werke (Suhrkamp) |
zwei Leerzeilen |
Lizenzausgabe (Volk und Welt) |
drei Leerzeilen |
Werke (Suhrkamp) |
drei Leerzeilen |
20 Texte
Textgenese
Register
34|Ich blickte auf den Kasernenhof, ich sah auf den Kasernenhof hinunter, ich
fand ihn leer, ein kahles Rechteck, die von Strammstehen und Stechschritt gestampfte wüste
Fläche zwischen den Ziegelbauten der Unterkünfte. Der Hof lag verschreckt. Die Soldaten hatten
ihn verlassen, Regen und Wind
47|ihn besucht. Seit Tagen schon. Der Hof war sauber. Er glänzte wie
frisch gewaschen. Ich schmeckte die ungewöhnliche Stille, ich kaute sie, Watte, polsternde
blähende stopfende wollweiche Knäuel, mit einem Betäubungsmittel betupft, von einem
Erregungsstoff getränkt. Glocken hätten läuten sollen, das Tedeum klingen, ein neues Leben
beginnen; doch selbst die Sirenen schwiegen. Ich hatte den Exerzierplatz noch nie so friedsam
gesehen, ohne Gebrüll, ohne Gewalt, ohne Angst, so ganz ohne einen ernied
49|rigten Menschen, der
befahl oder dem befohlen wurde, allenfalls
38| in der Nacht, bei Mondschein, aber in der Nacht hätte
ich nicht gewagt, an das Fenster zu treten, ich hätte den Platz nicht betrachten dürfen, ich
hatte zu schlafen, auch wenn ich nicht schlief und mich graulte, und der Platz wäre selbst dann
nicht unbegangen gewesen, die Wachen hätten ihn abgeschritten, wie hatte ich gespannt ihrem
gerüsteten Tritt gelauscht, die Runden bis zum Morgen gezählt, ich wußte die Männer in
knöchellange graue Mäntel gekleidet, den Mantelkragen hochgeschlagen, aufgeblasene Knechte,
gesichtslose Puppen eines bösen Marionettentheaters, ihr aufgepflanztes Seitengewehr funkelte im
Sternenlicht, ihre gedehnten Schatten leckten den Exerzierboden, Schatten von Wölfen,
Wolfsmäulern, Wolf
sss
Erstausgabe (Suhrkamp) |
s |
Gesammelte Werke (Suhrkamp) |
leer |
Lizenzausgabe (Volk und Welt) |
s |
Werke (Suhrkamp) |
s |
zähnen, Wolfskrallen, und ach, sie bewachten meinen Schlaf, mein Leid, meine
Wut, meine Gefangenschaft, Wolfatem hüllte mich ein. Auf de
nmnn
Erstausgabe (Suhrkamp) |
n |
Gesammelte Werke (Suhrkamp) |
n |
Lizenzausgabe (Volk und Welt) |
m |
Werke (Suhrkamp) |
n |
nun verratenen, verwaschenen, auf
dem
48|unfruchtbaren blutigen Sand hatten breitbeinig bewaffnete Riesen gestanden. Die Riesen
hatten gegen mich gekämpft. Die furchtbaren Riesen waren gegen mich angetreten. Die Riesen
hatten Tag für Tag an mir genagt. Ein Jahr lang hatten die ungeheueren menschenfressenden
Titanen die Schlacht gegen mich geschlagen, aber Gott hatte sich meiner erbarmt, er hatte sie
hinweggeführt, und ich wünschte ihnen ein Heldengrab.
Erstausgabe (Suhrkamp) |
eine Leerzeile |
Gesammelte Werke (Suhrkamp) |
kein Abstand |
Lizenzausgabe (Volk und Welt) |
eine Leerzeile |
Werke (Suhrkamp) |
eine Leerzeile |
21 Texte
Textgenese
Register
35|Ich stand am Fenster des
Krankenreviers. Es war ein
50|Traum, den ich erlebte, aber ich traute den Träumen nicht mehr. Jeden
Augenblick konnte ich in die erbärmliche Wirklichkeit zurückfallen, konnte das Gekläff der
Höllenhunde mich anspringen
,,.,
Erstausgabe (Suhrkamp) |
, |
Gesammelte Werke (Suhrkamp) |
. |
Lizenzausgabe (Volk und Welt) |
, |
Werke (Suhrkamp) |
, |
Verkaufte, Versklavte wie ich, die aber des Dienstes Möglichkeiten
schon wollüstig empfanden, die sich angebiedert, die sich gebückt, sich ausgezeichnet hatten,
die sich den Waffenrock oder den grauen Arbeitsdrillich mit Baumwollschnüren dekorieren ließen,
eine schwarzweiße Schnur für den Kompanieführer, eine gelbe für den Saalaufseher und den
Schulterknopf für den Korporalschaftsersten, meine Kameraden, sie rissen uns aus
39| dem Schlaf, sie
warfen uns aus den Betten, mich brauchten sie nicht zu jagen, ich bangte in der Nacht ihrem
Geschrei entgegen, ich hatte den Morgen grauen sehen, wie er kalt über die Reihen der Betten
kroch, Morgenrot zum frühen Tod, ein beliebtes Lied, und marsch in den Waschsaal, marsch zu den
Latrinen, eine getrie
49|bene Schar, am Ende das Schlachthaus wie für alle Herden, eine alte Walze
die ratterte, Meldungen, die nichts sagten, wurden erstattet und gnädig entgegengenommen, Kaffee
wurde nicht getrunken, eine angebrannt riechende schwarze Brühe wurde gefaßt, Kartoffelbrot und
Rübenmarmelade heißhungrig verschlungen, das gaste in den flachen Knabenbäuchen, raus in den
Hof, angetreten, abgezählt, daß keiner verlorenging, in Abteilungen marschiert, der heilige
Fahnenappell, die Reichskriegsflagge am Mast, der Herr
51|Major im Heimkriegerschmuck, die
Leutnants feldgrau, Verdun war nicht genommen, die Unteroffiziere trugen den bunten
Friedensrock, was taten sie hier, die Erzieher kamen in gesinnungsfesten Joppen, der
Institutspfarrer wie ein kranker Mond, der Vorrat an Vogelscheuchen war nach vier Kriegsjahren
unerschöpft, der Dienst begann, Hinwerfen, Aufspringen, Kniebeugen, Melden, Grüßen, vor allem
mit dem Grüßen hatten sie es, das saß tief in ihnen, war des stolzen Reiches Wehr und Glanz,
selbst Verdun und die Eroberung von Verdun schienen daran zu hängen, daß keiner, der eine
Schnur, einen Knopf, ein Schulterstück sein eigen nannte, beim Grüßen übersehen
36| wurde.
Das Lazaretthemd aus blauweißgestreiftem Barchent fiel mir wie ein Sack über die Füße. Ich war
in dem Sack wie ein Irrsinniger in seine Zwangsjacke gefesselt. Ich war zwölf Jahre alt. Sie
hatten mich kahl geschoren. In der beschlagenen Fensterscheibe des Krankenreviers sah ich mir
als kahl
50|geschorener alter Sträfling entgegen. Ich war Zögling der vierten Kompanie der
Militärischen Knabenerziehungsanstalt. Ich war Deutschlands Zukunft. Die eisernen Betten standen
hinter mir vor der gekalkten Wand wie ein ausgerichtetes Glied.
40| Die Betten waren Staatsbetten,
sie waren vorschriftsmäßig gebaut, sie waren eckig, kantig, platt, hart. Nur das Bett, in dem
ich gelegen hatte, war zerwühlt und fiel auf. Das holzwollharte Kopfkissen, der rauhe geflickte
Woilach dunstete nach Fieber. Der Fußboden stank nach Sal
52|miak und Tornisterfett. Dies war einmal
eine Burg gewesen. Durch Ritzen und Verfall zogen die Winde erstickter Kriege. Die Ritter hatten
die Ritter totgeschlagen. Im Kanonenofen brannte kein Feuer. Das lange Ofenrohr strebte frostig
und faul zum hohen Dach. Ich war allein. Sie waren alle davongelaufen, abgereist, abgeholt
worden, die bellenden Höllenhunde, die kleinen dienstwilligen Teufel, die schlagenden Riesen,
ihnen war Nebukadnezars Schrift erschienen, sie hatten sich aus dem Staube gemacht. Ich hatte
gesiegt. An der gekalkten Wand hing das Bild des Kaisers, hingen Hindenburg und Ludendorff. Der
Kaiser und seine Feldherrn beugten sich malerisch über die Generalstabskarte. Sie hatten Großes
mit mir vor. Die feuerroten Aufschläge ihrer Uniformen hatten das Fieber meiner Grippe
angeheizt. Der Heldentod war ein glühender Moloch mit drei helmbestückten Köpfen. Aspirin, hatte
der stramme Stabsarzt gerufen und war noch in
51|der Nacht an meiner Grippe gestorben. Auch gegen
den Stabsarzt hatte mich Gott beschützt. Über dem Tor der Kaserne wehte die rote Fahne. Sie
schlappte nebeltriefend, schwer, armselig im kalten Wind. Natürlich stand sie auch grell und
verheißungsvoll im grauen Novembertag. Mir bedeutete das Zeichen nichts, aber es verkündete mir,
daß es Wunder gab, daß ich frei war, daß ich den Heldentod und den Grippetod
37| besiegt,
daß ich nachhause durfte und den Krieg gewonnen hatte.
Erstausgabe (Suhrkamp) |
eine Leerzeile |
Gesammelte Werke (Suhrkamp) |
eine Leerzeile |
Lizenzausgabe (Volk und Welt) |
kein Abstand |
Werke (Suhrkamp) |
eine Leerzeile |
22 Texte
Textgenese
Register
53|Sie öffnete, sie schloß die Tür, war im
Krankensaal, dem verlassenen, dem aufgehobenen Lazarett, das nur noch ein Geruch war, verwest,
auf dem Nesseltuch der leeren Betten die Hinterlassenschaft aus Schweiß, Flecken der
Gekreuzig
41|ten, die dort gelegen, sich selbst befriedigt hatten oder nicht, gestorben waren oder
fortgelaufen, meine Mutter kam, mich zu holen, sie zögerte, ängstigte sich, kam spät, kam als
letzte, kam aus dem alten Reich das zusammenbrach, war das Ende der deutschen Geschichte, atmete
nicht auf, sah nicht ins Morgenrot, wartete an der Tür, ging keinen Schritt weiter. Vielleicht
waren die Züge nicht gefahren, die Lokomotiven ohne Kohle geblieben, oder der königliche
Fahrplan hatte der Revolution gedient und dem Rückzug, die Wagen waren nach Berlin geeilt, zum
entwichenen Kaiser, dem verwaisten Schloß, Matrosen aus Kiel, Kanoniere von den
Schlachtschiffen, mit Fahnen, mit Gewehren, mit Blumen geschmückt, den welken Rosen vom August,
es war November, oder meine
52|Mutter hatte sich erst das Geld borgen müssen für die gefährliche
Fahrt; und wer hätte es ihr gegeben. Der grüne ärarische Anstrich der Tür, vor der meine Mutter
stand, war mit dem Krieg und der Zeit gesplittert, die Sprünge lagen weiß in der grünen Fläche
wie das Delta eines mächtigen Stromes aus dem Erdkundebuch, des Ganges mit den Scheiterhaufen am
Ufer, den Schlangen und reichen Geiern, den Fakiren, die zu beneiden waren, oder wie die Läufe
des Nils, auf dem Moses ge
54|schwommen war in einem Korb, als er verstoßen wurde, Gott zu dienen,
es konnte aber auch der Mississippi sein und ein Sack voll Indianer, Piraten und Krokodilen,
meine Mutter wartete vor dieser Landkarte, vor einem Meßtischblatt, auf dem strategische
Positionen zu beziehen, Siege nicht zu erringen waren, sie traute sich nicht, verhielt den
Schritt, blickte mich an oder zu Boden auf die von genagelten Stiefeln zertretenen Bohlen. Sie
war schüchtern. Ich weiß nicht mehr, ob ich es sah oder mir einbildete. Meine Mutter war jung,
doch verdunkelte sie
38| die grüne und weiße Flußlandschaft der Tür. Meine Mutter war
erschrocken, und ich war es, der sie schreckte, hatte es stets getan, mein Anblick weckte Furcht
und Reue, entsetzte und peinigte, ich spürte es, sie brauchte es nicht zu schreien, sie
verharrte vor der Front der
42|Betten, schaute auf die Betten in ihrer gestörten Ordnung, mich
schmerzte meine und ihre Schwäche, wie konnte sie mich liebhaben, ich vermochte kaum, mich auf
den Beinen zu halten, grade zu stehen,
53|ich wollte ihr nun doch entgegenlaufen und verhedderte
mich in dem langen blauweißgestreiften preußischen Barchenthemd. Die Planken bebten. Ein Schiff
ging unter. Gewaltiger Donner. Die Rettungsboote waren ausgesetzt, die Wogen drückten sie
hinunter. Das Bild des Kaisers stürzte von der Wand. Der Rahmen brach, Glas klirrte, die
Scherben schnitten in den fliehenden Fuß. Hindenburg und Ludendorff schlugen
sichsichsich
Erstausgabe (Suhrkamp) |
sich |
Gesammelte Werke (Suhrkamp) |
sich |
Lizenzausgabe (Volk und Welt) |
leer |
Werke (Suhrkamp) |
sich |
oder paarten
sich, wie die Hunde, sie
55|tanzten ineinander verbissen und eröffneten den Ball. Das
Erziehungsbataillon feierte Majestäts Geburtstag. Das Fest war vorverlegt, alle Termine besetzt,
die Ballkarten vergeben, das letzte Hurra. Ich fiel, oder ich sah mich fallen, stürzte gegen
meine Mutter vor, preßte mein brennendes Gesicht gegen ihren jungen Leib, umklammerte ihn, er
war schmal, wohl keusch, nicht warm und geburtenprall wie ein Familienbett, nicht wie der Bauch
der Frau Majorin, alle Kinder hatten Mütter, die ich nicht mochte. Ich schluchzte, doch ich
beherrschte mich, ich hatte es gelernt, ich kam aus einer Erziehungsanstalt, ich war Rekrut in
einem tapferen Land, ich war der standhafte Zinnsoldat aus dem verlorenen Märchen, ich ermannte
mich, wie man es mir befohlen hatte, blieb stehen, aufrecht, die strammen Kommandos, die
Hornsignale der Dressur zerplatzten in der stürmischen Luft, ich sah meine Mutter an, ich
blickte nicht weg, ich lief ihr nicht entgegen, fiel nicht hin, faßte sie nicht an, weinte
nicht, ich ersparte ihr nicht den Weg
54|durch das Krankenrevier, ich ließ sie langsam vor der
graden Reihe der beurlaubten Betten spießrutenlaufen, ich sah sie, kleiner als sie war, mir
näher kommen, mir schien, als belauerte ich sie durch ein umgekehrtes Fernrohr, durch ein langes
ausgezogenes
39| Objektiv, das ein Objekt entschwinden ließ, statt es heranzuholen, und
ich war ein kindischer, ein auf einmal engstirniger militärischer
43|Beobachter, vergiftet, boshaft
geworden vom Sadismus des Systems: ich gab
56|meiner Mutter die Schuld, daß wir beide hier standen,
so arm, so entblößt in der Stille des Raumes, der Kaserne, des Platzes, der Garnison, der öden
Stadt. Ich hätte schreien, selbst auf sie einschlagen mögen. Wir blieben aber unbewegt und
stumm. Erst später überfiel ich meine Mutter, um sie zu berauben. Ich wehrte mich ja nur; ich
wußte nicht, gegen wen.
23 Texte
Textgenese
Register
Zur Nacht ging ein Zug. Unser Atem fror in die Fenster. Eine Kerze
brannte, ein qualmender Stummel, sie nannten es ein Hindenburglicht. Wir saßen dicht gedrängt,
rochen die nasse Wolle unserer alten Mäntel und konnten einander kaum sehen. Ein Mann sagte,
Karl Liebknecht hat die Republik ausgerufen. Ein anderer protestierte heftig, nein, es war
Scheidemann. Im kalten Abteil stritten alle. Sie hielten Zeitungen in den flackernden Schein der
Funzel. Die Blätter hießen »Die Freiheit« oder »Die Rote Fahne« und waren die
55|kurzlebigen
Revolutionsausgaben kleiner Lokalanzeiger. Ich sah auf dunklen Bildern einen Mann mit einem
Schlapphut, doch die Hand eines Mitreisenden deutete auf ein anderes Bild, auf einen Mann, der
einen runden oder einen gebogenen Hut schwenkte. Der Hintergrund sollte der Reichstag sein oder
das Schloß des Kaisers, das meine Erzieher mir so herrlich geschildert hatten. Schließlich war
es allen egal. Ich merkte mir aber
57|die Namen Liebknecht und Scheidemann. Meine Mutter schlief,
den Kopf auf meinem Schoß. Der Zug passierte langsam die Brücke über die Oder. Das Eisengestänge
der Brücke knirschte, und ich dachte, wir werden in das dunkle Wasser sinken, nicht erleben, was
nun kommen wird, meine Zeit. Der Morgen graute. Am Ende der Brücke räkelten Posten unter Gewehr,
den Lauf nach unten. Dies schien mir mein Sieg zu sein, die Zerstörung der Disziplin. Die
Soldaten trugen weiße Arm
40|44|binden, auf denen etwas geschrieben stand, aber sie waren zu
fern von mir, ich konnte die Schrift nicht lesen.
24 Texte
Textgenese
Register
Kinderangst Nacht Fieber abgedecktes Licht, da
verschob sich das Muster der Tapete neben dem Bett, die Wand bröckelte, die Materie löste sich
auf, ich nahm es deutlich wahr und sah Wahrheit, das Trugbild der Welt schwand, ich war vierzehn
Jahre alt, und drei oder vier Grad Wärme über
56|dem roten Strich normaler Temperatur bewirkten die
Offenbarungen sakraler Drogen, das mexikanische Grauen des gläsernen Sarges, versteint Seele und
Leib bei vollem Bewußtsein.
Erstausgabe (Suhrkamp) |
drei Leerzeilen |
Gesammelte Werke (Suhrkamp) |
drei Leerzeilen |
Lizenzausgabe (Volk und Welt) |
drei Leerzeilen |
Werke (Suhrkamp) |
drei Leerzeilen |
25 Texte
Textgenese
Register
Ich hatte den Krieg gewonnen, aber es war ärgerlich, sich allein des
Sieges zu freuen, wenn alle anderen be
58|teuerten, etwas verloren zu haben: sie wußten nicht recht,
was. Gewiß, man sah sie, Unglückliche, denen ein Bein genommen war oder ein Arm oder ein anderes
Glied, auch das Gesicht, die Gasvergifteten noch von gelbgrüner Haut, den kleinen Lebensrest aus
der zerfressenen Lunge röchelnd, die Verschütteten, die der Tod nicht ließ und immerfort
schüttelte, und die Frauen hatten Söhne und Männer und die Kinder Väter nicht wiedergesehen,
oder die Kinder hatten die Väter nie gesehen, und mancher hatte auch Besitz hingeben müssen,
oder gab ihn nun her, stückweise, nach und nach, das ererbte Haus, die Brosche vom schwarzen
Feiertagskleid, den Witwenring, das Münzgold war schon für Eisen gegeben, man hatte ein Dokument
an der Wand oder im Schrank verwahrt, der Kaiser bedankte sich für das gespendete Gold, der
Kronprinz bedankte sich in schwarzer Husarenuniform, die Mütze schief, den Totenkopf keck,
Hindenburg der Eiserne dankte, irgendein Kanzler, nicht
45|Bismarck, nicht der Eiserne, irgendein
anderer, die Unterschrift war
57|unleserlich und keiner erinnerte sich an den
41| Namen,
günstiger stand es um die gemalte Historie eines Fräulein von Schmettau, das hehre Bild war im
Tausch für das abgelieferte Gold empfangen worden, eine junge Dame die sich ihr blondes Haar
abgeschnitten hatte, hundert Jahre früher und hundert Jahre Ergriffenheit, geopfert auf dem
Altar des Vaterlandes, das war preußisch, sagten alle alten Volksschullehrer, und auch die
59|höheren Lehrer und die ordentlichen und außerordentlichen Professoren der Universität sagten es
und trugen die Uhr an der Kette aus Eisen, an dem Band aus kleinen eisernen Kreuzen, statt an
der armen oder reichen Kette vom Großvater oder von der Einsegnung her, zu Gott und seinem Wort
geführt, sagten die Mütter und hatten stolz auf die Knaben geblickt in den blauen
Konfirmationsanzügen, den blauen langen Hosen, den blauen zu großen Männerhüten, den weißen
steifen Händen in den weißen steifen Handschuhen, und die erwachsenen Söhne der aufrechten alten
Herren trugen die eisernen Kreuze über dem Bauch, der noch immer rund oder spitz war, wovon,
ach, von Wrucken oder von Kleiebrot oder dem schwarzgeschlachtete
mmmn
Erstausgabe (Suhrkamp) |
m |
Gesammelte Werke (Suhrkamp) |
m |
Lizenzausgabe (Volk und Welt) |
m |
Werke (Suhrkamp) |
n |
Schwein, zu schweigen von
denen, die außer sich und schreiend behaupteten, die Ehre verloren zu haben, und wenn man vom
Weltlauf sprach die grimmigsten Grimassen schnitt
en
Erstausgabe (Suhrkamp) |
leer |
Gesammelte Werke (Suhrkamp) |
leer |
Lizenzausgabe (Volk und Welt) |
en |
Werke (Suhrkamp) |
leer |
, während sie sonst sich wie die anderen
benahmen, über dumme Witze und fremden Schaden lachten oder ganz gewöhnlich
58|ernst, traurig,
besorgt, hungrig, verliebt, geil, zornig waren, denn das Leben ging weiter, das sagten
schließlich alle, eine rechte plumpe Phrase leichthin über die Gräber gesprochen, über die
vielen kleinen Kreuze aus Eisen oder aus Holz und auch auf Zeitungspapier bis zum Horizont und
noch weit hinter ihm, doch keiner, den ich traf, schien erkannt zu haben, daß er dies alles, Arm
Bein Gesicht Vater Gatte Sohn Bruder Hab und Gut selbst
60|die Ehre ja schon am Tag der
Kriegserklärung verloren hatte und vier Jahre später nur noch etwas zu gewinnen
46|gewesen war, der
Friede: aber sie schätzten den Frieden nicht.
Erstausgabe (Suhrkamp) |
drei Leerzeilen |
Gesammelte Werke (Suhrkamp) |
zwei Leerzeilen |
Lizenzausgabe (Volk und Welt) |
drei Leerzeilen |
Werke (Suhrkamp) |
drei Leerzeilen |
26 Texte
Textgenese
Register
42|Ich war Zeuge, aber ich bin nicht dabei
gewesen, es kann sein, daß ich im Bett lag, als es geschah, es ist wahrscheinlich, ich ging früh
zu Bett, oft ging ich auch spät zu Bett, manchmal war ich gar nicht aufgestanden am Morgen oder
am Mittag und brauchte am Abend nicht zu Bett zu gehen, ich schlief aber nicht im Bett, oder ich
schlief nicht immer, oder ich schlief wenig, auch wenn das Bett mich schützte, ich sprach mit
Macbeth im Bett, ein deutscher Wald war ein deutscher Wald, er war nicht Macbeth' Wald, nicht
Birnams Wald, und Macbeth brauchte den Wald nicht zu fürchten: nie rückte ein deutscher Wald gen
Dunsinan. Ich wanderte mit Hyperion über die arkadischen Höhen. Ich las die Gedichte eines
Mannes, der
59|Benn hieß oder auch Becher. Ich schiffte mit den Flußpiraten piratenschiffs auf dem
warmen lehmsuppigen Mississippi, und unter der Flußhaut trieben wie faule Baumstämme
phosphorisierend die alten Leviathane des Buchs der Bücher. Auch Platon trat an mein Bett: gar
oft Echekrates, hatte ich Sokrates schon bewundert, doch nie so wie jetzt. Grüne Tapete! Wer sie
kleisterte, lag im Spital
61|oder war tot. Schimmel grünte: da war meine Burg, war mein festes
Lager, war der Matratze Berg und Tal. Über Eck stand das Bett meiner Mutter, es war leer an
diesem Abend und zu dieser Stunde, und später war das Bett meiner Mutter immer besetzt, und dann
war es immer leer, bis ich es verkaufte
,
Erstausgabe (Suhrkamp) |
leer |
Gesammelte Werke (Suhrkamp) |
leer |
Lizenzausgabe (Volk und Welt) |
, |
Werke (Suhrkamp) |
leer |
oder es mir weggenommen wurde, oder es verloren ging.
Dann war noch der Tisch da, an dem wir saßen, wenn meine Mutter da war und wir etwas zu essen
hatten, oder an dem wir nur saßen, wenn wir nichts zu essen hatten, nur so, und manchmal redeten
wir miteinander und
manchmalmachmalmanchmalmanchmal
Erstausgabe (Suhrkamp) |
manchmal |
Gesammelte Werke (Suhrkamp) |
manchmal |
Lizenzausgabe (Volk und Welt) |
machmal |
Werke (Suhrkamp) |
manchmal |
nicht, und wir verstanden uns und verstanden uns nicht. In dem
Schrank war das Brot,
47| wenn wir Brot hatten, und meine Mutter hatte den Schrank abgeschlossen,
bevor sie zur Arbeit gegangen war, damit ich das Brot nicht aufessen könnte, aber ich hatte
einen Nagel und hatte ihn gebogen und platt geschlagen, und mit dem Nagel konnte ich das morsche
Schloß des alten Schrankes öffnen, und ich nahm das Brot und biß in das Brot und stopfte das
Brot in mich hinein, und es würgte mich, weil meine Mutter
43| 60|weinen würde. Eine
Glühbirne hing an der Litze unter der niedrigen Decke, sie glühte schwach und durfte nicht
glühen, ich sollte schlafen oder in die Finsternis starren, wenn ich Licht hatte, verschwendete
ich es, meine Mutter konnte das Licht nicht absperren, und dann kam der Mann mit der Rechnung,
der es absperrte, und wir saßen beide im Dunkel, meine Mutter und ich, und eine Frau, die zu uns
gekommen war, hatte die
62|Glühbirne nackt genannt, ein nacktes Licht, das gefiel mir sehr, nackte
Glühbirne, nacktes Licht, sie bauten ein Zelt, draußen war die Stadt, war der Feind, war der
Feind auf dem Feld, waren Wölfe und Jäger im Wald, und auf der zerrissenen Wolldecke, in die ich
mich gehüllt hatte, lagen die Bücher aus allen Bibliotheken der Stadt und der Universität, und
Pastor Koch, der die Bücher sah, sagte, du bist doch kein Bolschewist, und ich sah ihn an und
zählte die Schmisse in seinem roten vollen Gesicht und fragte, was ist ein Bolschewist, und ich
blickte durch ihn hindurch vielleicht bis nach Rußland hinein, und dann lagen da die
Zeitschriften, auf die unsere Stadt lüstern war und die ich für Alts Buchhandlung austrug, und
sie hießen »Der Junggeselle«, »Das Bunte Magazin«, »Das Neue Leben«. Ich hätte lernen können,
wie das Leben ist. Ich lernte es nicht. Ich wußte nicht, wie Mädchen aussahen und ob sie so
aussahen, wie sie auf den Bildern des Neuen Magazins aussahen mit wenig oder mit nichts an und
wie Knaben, die heimlich nackt baden und sich erregen, und die
61|Mädchen waren glatt wie die
Rücken der Knaben, und wenn ich im Schulhof die Mitschüler gemieden hatte, so mochte ich jetzt
doch mit einem ringen,
48| nackt und um keinen Preis, und ich suchte ihn und fand ihn nicht, und die
Mädchen waren auch üppig, und ich liebte sie nicht und haßte sie nicht, ich streifte mein Hemd
ab, es war mein einziges Hemd, ich trug es in der Nacht und trug es am Tag, wir hatten auch eine
Küche, die Küche war
63|neben der Kammer, und ich lief durch die Kammer und lief barfuß über den
Ziegelboden der Küche, ich spürte unter meinen nackten Sohlen den Ziegelstein, kalt, ausgehöhlt
und sanft
,,,
Erstausgabe (Suhrkamp) |
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Gesammelte Werke (Suhrkamp) |
leer |
Lizenzausgabe (Volk und Welt) |
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Werke (Suhrkamp) |
, |
der kalte Stein schmeichelte meinen Füßen, er war wie die Mädchen, glatt, sanft, auch
üppig und
44| kalt, ich hörte, während ich über den Küchenstein lief, wie die Mäuse über
den gemauerten zerfallenden feuerlosen Herd huschten und sich im Reisig versteckten, das ich im
Wald gesammelt hatte, oder sich in nichts versteckten, einfach im kalten Feuerloch, weil ich
kein Holz gesammelt hatte, und ich dachte, während ich durch die Küche lief, warum fürchten sie
sich vor mir, der ich mit den Mäusen reden möchte, und warum bleiben sie bei uns, sie finden
nichts, und ich öffnete die Tür, die aus der Küche direkt in den Hof führte, und ich lauschte in
den Hof und lauschte der Nacht, die Nacht war still, die Stadt war still, eine stille Stadt, ein
stiller Erdkreis, wir wohnten im Hof, wir wohnten in einem Schuppen, im Vorderhaus brannte ein
einsames, ein ungefährliches Licht
62|hinter dem Fenster des alten Pantoffelmachers, er zog noch in
der Nacht den bindenden Faden durch den harten Filz, er war ein Heimarbeiter und ein Greis, und
was er am Tag oder in der Nacht vollbrachte, wurde ihm schlecht gelohnt, und er hatte die Bibel
aufgeschlagen bei seiner Arbeit, weil er alt war und den Tod fürchtete, doch mir jubelten Engel,
es war Januar, die Luft war winterstarr wie sprödes Glas, das zerspringen wollte, ich lief nackt
64|in den knirschenden Schnee, über die splitternden Eisschollen der Pfützen, ich hing mich nackt
an die krumme Teppichstange vor der Küchentür, ich zog mich hoch, einmal, zweimal, dreimal, ich
erschöpfte mich in Dutzenden von Klimmzügen, ich hörte vom Nebenhof den Hund des Schlächters,
49|
der weinte, weil er sich fürchtete wie der Pantoffelmacher sich fürchtete, und der Hund weinte
leise, unterdrückt, weil er noch mehr als den Tod seinen Herrn fürchtete, den Meister Hergesell,
der ohne sein rechtes Bein und was man sonst noch munkelte von Verdun zurückgekommen war und nun
sein Bein und was man sonst noch munkelte von seiner Frau oder von seinem Hund forderte, die er
prügelte, und von allen Tieren, die er schlachtete, und es durchfuhr mich ein Strahl vom Himmel,
ein Feuerbrand von den Sternen ging durch mich durch, traf die gefrorene verschneite Erde: auf
den Höhen, am ernsten Felsenhange, wo so gerne mir die Träne rann, säuselte die frohe
45|
Knabenwange schon dein zauberischer Odem an. Oder nicht im Bett und
63|nicht im Hof. Ich führte
eine alte Frau durch die Stadt, sie hing schwach und schwer an meinem Arm, es hatte Mitternacht
geschlagen, drei Türme wachten über uns, Sankt Nikolai, Sankt Jakob, Sankt Marien, ihre Uhren
hatten den letzten Schlag getan und den Tag in jenes Nichtmehr gestoßen, über die Grenze, die
wir gerade noch zu erkennen glauben, unfaßbar nun unseren Sinnen und trostlos die Stunde nicht
genutzt, den Tag
65|nicht gelebt, die Prüfung nicht bestanden, ins Dunkel gesunken,
unwiederbringlich und ewig verloren. Die Straßen waren leer, die Plätze waren leer, die Häuser
waren Särge, nebeneinander gereiht. Der Schritt hallte, Echo kam, die Fischfrauen schliefen mit
den Fischen, der Fischmarkt war ein Fischmund, stumm. Das Rathaus war ohne Rat, sein hoher
Giebel bröckelte dahin. Gottes Mühlen, wenn einer fromm war. Schatten, wenn Mond war,
Lichtblumen, wo eine Gaslaterne flackerte. Ich machte es für Geld. Die Greisin gab mir eine
Million, oder sie schenkte mir eine Milliarde, sie überschüttete mich mit astronomischem
Verdienst, und auf den nachlässig gedruckten, preßfrischen und doch schon schmutzigen Scheinen
versicherten ehrbare Herren, daß sie irgendwo, irgendwann oder zu jeder Stunde, an irgendwelchen
Schaltern eine Million oder eine Milliarde oder eine Billion gegen das
50| Papier in Gold auszahlen
wollten, ich weiß es nicht mehr, ich fand ihre Schalter nicht oder ich fand sie zur falschen
Stunde, doch die ehrbaren Herren er
64|schütterte es nicht, und sie bedrohten jedermann mit
Zuchthaus, der töricht genug wäre, ihre großartigen Scheine zu fälschen oder nachzuahmen. Ich
hätte das Geld in den Rinnstein werfen sollen. Die Greisin bebte, und sie klammerte sich an die
Hoffnung, daß ich sie vor den Geistern der Nacht beschützen würde. Doch konnten Geister die
verschlossenen vergitterten Säle des Irrenhauses öffnen, und konnte ich sie gegen die Geister
wieder sper
66|ren? Und wollte ich es? Die Greisin täuschte sich in mir; aber vielleicht dachte sie
nur, wenn ich mit ihm gehe, gehe ich nicht allein durch die Nacht. Doch ich wußte, daß sie es
taten, oder daß sie es
46| schon getan hatten, und ich glaubte, Macbeth, Hyperion, die
Flußpiraten, Gottfried Benns kleine Aster in der Brust, Bechers Fanal auf den Lippen, die Alte
am Arm, langsamen Schrittes, Fuß für Fuß, ich sei erschlagen worden, und es ist sicher, daß sie
mich gemeint hatten, aber ich hätte auch der Täter sein können, der Bursche mit dem Spaten in
der Hand. Du bist der Mörder, du bist das ausgewählte Opfer, ich hebe die Hand, schlage zu, oder
ich lasse es geschehen, ich verstecke mich, ich bin Kain, aber ich bin auch Abel, und du bist
Kain und Abel. Und wo ist Gott, der zusieht und es geschehen läßt, und das alles wegen eines
lächerlichen Rauches? Immer sind wir Zeugen, unzuverlässige, feige Zeugen, wir haben nichts
gesehen, wir wissen von nichts, du bist mein Zeitgenosse, es gibt Generale, die alles lenken,
wir haben sie eingesetzt, nachdem uns Gott ent
65|täuscht hat oder wir uns von ihm abgewandt haben,
wir haben den Generalen ihre roten Kragen genäht, wir haben ihre roten Kragen mit unserem Blut
gefärbt, die Generale sind so zahlreich wie der Sand am Meer, und die Feldherrnkunst ist die
verbreitetste aller Begabungen, dazu eine begehrte sichere Karriere, wenn es darauf ankommt,
gewinnt der General die Schlacht, verliert den Krieg, wird Präsident der geläuterten Nation,
trium
51|phiert am Ende über alle
67|in seinen Memoiren, wird zum Mahnmal, bekommt sein Denkmal, ach,
die Generale sind gute Rechner, sie verrechnen sich in den großen Chancen, aber nie in den
kleinen Dingen, die nötig sind, einen Krieg zu beginnen. Die Generale zählen was heranwächst,
sie bündeln es in Jahrgänge, und wenn sie genug Jahrgänge haben, geht ihre Spekulation mit dem
Tod auf. Es empörte mich, als ich davon hörte. Der General rief den Jahrgang zur Musterung. Wie
kam er dazu? Was fiel dem Kerl ein? Der General ist tot, nein, der General ist unsterblich, er
bezieht seine Pension, am Morgen siehst du ihn durch den Park gehen, eine rüstige, eine
ungebeugte Gestalt. Ich lebe, ich verdächtige dich, du bist mein Jahrgang, ich werde dich
mustern. Wie widerlich du mir bist, wenn du dich nackt ausziehst und dich der
Musterungskommission stellst, ihr deinen Hintern hinhältst, daß sie dich prügelt.
47| Bist
du sonst so geduldig? Ich will unsere Geschichte erzählen, meine Geschichte, deine Geschichte,
sie geht dich nichts an, ich erzähle sie nur mir, ich werde dich
66|bloßstellen, du bist noch nicht
nackt genug! Es ist unangenehm, der Zeuge, es ist lästig, der Täter, es ist dumm, der Leichnam
zu sein, nach so vielen Jahren. Du kannst dich nicht erinnern, du hast dein Gedächtnis verloren,
du hattest nie ein Gewissen, du weißt von nichts. Am besten ist man der Ankläger. Seine
Entrüstung kommt immer recht. Man glaubt sie ihm nicht, aber das macht nichts. Das Gericht
braucht ihn. Dabei kennen ihn viele. Sie sahen
68|ihn mit dem Spaten unter den Bäumen. Er ist der
Schlimmste. Er reichte mir den Spaten, er rief: schlag zu. Jetzt klagt er dich an. Er meint es
ernst. Er ist ein ernster Mann. Ich scherze und bin ihm unterlegen. Er fordert meinen Kopf. Er
fordert immer einen Kopf, das ist seine ernste Art. Ich werde mich nicht verteidigen. Ich werde
dich in den Zeugenstand rufen. Deine Aussage wird uns nicht retten. Wir sind von Anbeginn
verurteilt.
27 Texte
Textgenese
Register
52|Ich glaubte damals, aufzuwachen, aber die Wahrheit ist wohl, daß mein Schlaf sich in
einem Traum verlor. Ich sah mich in diesem Traum agieren, ich handelte folgerichtig nach einer
ihm innewohnenden Logik; doch hätte ich zu keiner Zeit sagen können, wovon ich träumte, oder auf
welches Ziel hin ich mich bewegte. Dies läßt sich auch nicht damit erklären, daß mein Ziel die
Ziellosigkeit war. Manchmal behauptete ich so
67|etwas (zu wem? mit wem sprach ich?) doch es
stimmte nicht. Ich hatte mir nichts vorgenommen, nicht einmal die Ziellosigkeit; nur steuerte
ich beharrlich von den anderen fort, und das war es, worauf es mir ankam.
28 Texte
Textgenese
Register
Der Raum ist groß, er
ist kalt, er ist auf eine kalte Art warm, er ist dunkel, die schwarzen Möbel machen den Raum
dunkel, die schweren schwarzen Möbel machen den Raum nicht klein, sie machen ihn zu einem
Gebir
69|ge, die schweren schwarzen Möbel bilden Fronten, der Schrank droht dem
48| Tisch, der
Tisch bockt gegen den Sessel, die schweren schwarzen Möbel sind Festungen aus festem
schwarzspiegelndem Holz, große schwarze Ritter und kleine schwarze Gefangene spiegelfechten,
kleine schwarze Ritter und große schwarze Ungeheuer spiegelfechten, d
ieererer
Erstausgabe (Suhrkamp) |
ie |
Gesammelte Werke (Suhrkamp) |
er |
Lizenzausgabe (Volk und Welt) |
er |
Werke (Suhrkamp) |
er |
schwarze Schreibtisch
steht auf schwarzen Löwenfüßen, die gedrechselten schwarzen Löwenfuße krallen sich in den
schwarzen Teppich ein, gerissen liegt die Wolle des schwarzen Lamms unter den schwarzen Füßen,
die schwarze Polstertür schließt das schwarze Universum, draußen bleibt die leiernde lernende
leidende Stimme der Klassen, bleibt das Geleier des ABC, bleibt das Geleier des Einmaleins,
bleibt der geleierte unbegriffene Lehrsatz der Mathematik, bleibt das geleierte schon
durchlöcherte Gesetz der Natur, bleibt der geleierte zusammengesetzte Satz der nichts sagt,
bleibt das geleierte von keinem Gott vernommene Kirchen
68|lied, bleibt der geleierte vaterländische
Gesang der den Sänger berauscht, bleiben die geleierten Siege Friedrichs des Großen, bleiben
ge
53|leiert die Siege Bismarcks, bleiben geschmettert die Siege des Kaisers, bleibt ungeleiert das
Schweigen über dem Was nun, bleibt eingeleiert der Haß gegen das Jetzt, das ist die Republik,
das ist Weimar, das ist Versailles, das ist die schwarze und die rote und die deutsche Schmach,
bleibt der abgerissene doch immer fortfließende Strom zu den gefährlichen Stromschnellen dem
drohenden
70|Stromfall da die Zeit endet oder sich auflöst oder nie gewesen ist oder wieder anfängt
oder wie heute ist, bleibt das große Ungenügend, das dem Kind als Zeugnis mit auf den Weg
gegeben wird, draußen bleiben die Gerüche, die das Kind kennt, die es flieht, die es nicht
fliehen kann, der Geruch der dicken Zwiebelschmalzstulle, der Blutwurst zwischen den
mehlbestreuten Salzkuchen, die es nicht bekommt und nicht will,
und und und
Erstausgabe (Suhrkamp) |
und |
Gesammelte Werke (Suhrkamp) |
und |
Lizenzausgabe (Volk und Welt) |
leer |
Werke (Suhrkamp) |
und |
die es in den Staub wirft,
wenn Hochmut sie ihm reicht, bleiben die strengen Schweiße der Schulangst, die sauren
Lerneiferdünste der Streber, die stolzen zerschundenen Knie der ungezogenen Jungen, die sie im
Winter dem Frost zeigen.
29 Texte
Textgenese
Register
49|Ich stehe vor dem Rektor, ich bin ein Körper, ich habe eine
Seele, aber ich verliere meine Seele, ich muß aufpassen, daß sie mir nicht entwischt, doch mein
Körper hat auch seine Seele, er hat sie neuerdings und mit dieser Seele meines Körpers, die
meine andere, meine wahre Seele bedrängt,
69|fühle ich meinen Körper und stehe als Körper in der
Welt. Ich trage keine Unterwäsche, obwohl meine Mutter will, daß ich sie anziehe, auch wenn das
Hemd und die Unterhose zerrissen sind, ich habe nur meine gestreifte Kieler Bluse an, ich trage
sie auf dem nackten Leib und eine kurze blaue Waschhose, ich bin aus diesen Sachen
hinausgewachsen, es ist Sommer, doch am liebsten möchte ich auch bei schneidender Kälte mitten
im Winter so bloß gehen, mit nackten Bei
71|nen, nackten Schenkeln, um den Frost auf der Haut und
mit dem Frost meinen Körper zu fühlen, der sich an den zu engen Nähten der Bluse und der Hose
reibt und diese Begrenzung besagt mir, daß ich etwas besitze, mich, und diese
54|Erkenntnis macht
mich mächtig, auch über den Rektor. Der Rektor ist ein schwerer Mann. Er trägt sein Haar wie
Hindenburg. Er könnte auch Schaftstiefel tragen, einen Küraß und einen Adlerhelm. Er sitzt
schwer hinter seinem schweren Schreibtisch, und sieht mich aus kleinen trüben Augen teinahmslos
an. Er riecht nach kaltem Zigarrenrauch. Das ist die Ausdünstung der Macht. Auch Kohlenhändler
Kleuke riecht so. Auch Kaufmann Susemihl. Die alten Rechnungen sind nicht beglichen. Die neuen
Konten werden nicht eröffnet. Der Rektor fragt mich nach meinem Namen.
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eine Leerzeile |
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eine Leerzeile |
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kein Abstand |
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30 Texte
Textgenese
Register
Es empört mich, er muß
meinen Namen doch kennen, ich gehe in seine Schule, ich versuche, nicht in seine Schule zu
gehen, seine Schule quält mich, ich hasse sie, ich hasse ihn, und er kennt
70|meinen Namen nicht.
Habe ich einen Namen? Habe ich ihn verloren? Werde ich mir einen neuen Namen suchen müssen? Es
strengt mich an, es treibt mir den Schweiß auf die Haut, dem Rektor meinen Namen zu sagen. Der
Rektor grunzt, wie irgendein Tier, das mit dem Rüssel die Erde aufwühlt. Wer weiß, welche
Nahrung er sucht. Daß
50| er einem Tier ähnelt, macht ihn erträglich. Ich hasse den Rek
72|tor
lange nicht so sehr, wie ich Herrn Krüger, meinen Klassenlehrer hasse. Herr Krüger hat mich nie
teilnahmslos angesehen. Er hat nie meinen Namen vergessen. In seinen Augen funkelt das Licht des
Jägers, der die Spur aufgenommen hat und das Wild verfolgt. Ich bin drei Jahre vor Herrn Krüger
geflohen und jetzt hoffe ich, ihm zu entkommen. Oft schien Herr Krüger mich einzuholen, mich
gefangen zu haben, er wollte mich zu Boden werfen, aber immer gelang es mir, in ein Revier zu
entkommen, das ihm unerreichbar war. Gestehe, wo bist du, was denkst du, forderte er, seine
Lippen preßten sich zusammen, die bräunlichen Muskeln seiner hageren Wangen zuckten, und ich sah
ihn an, fest, kalkweiß im Gesicht vor Haß, doch festen Blickes, und schwieg. Herr Krüger hat
mich nicht in seine
55|Herde getrieben, er hat mir nicht den Stempel der Nützlichkeit in die Haut
gebrannt, er hat mich nicht für den Bismarckbund geworben oder für den Unterseebootbund, er hat
mich zu keiner seiner festen Anschauungen bekehrt.
31 Texte
Textgenese
Register
71|Der Rektor greift ein Bündel Papier, ein
Aktenstück aus einer Lade seines Schreibtisches, er schlägt den Aktendeckel auf, er blickt mich
an, er lächelt nicht, wie er mich vor sich stehen sieht, er sagt ruhig, daß es nicht nach meinem
Willen gehe, sondern daß meine Mutter mich vom Schulbesuch abmelden müsse.
32 Texte
Textgenese
Register
73|Ich meinte, meiner
Mutter drohen und ihr zugleich etwas versprechen zu müssen, damit sie mich aus der Schule nähme,
und meine Drohung war, daß ich im Bett liegen bleiben und nie wieder aufstehen würde, und mein
Versprechen war, daß ich von der Schule befreit, Geld verdienen würde, um ihr zu helfen. Es wäre
aber gar nicht nötig gewesen, meiner Mutter zu drohen und ihr etwas zu versprechen, denn sie war
sich weniger als ich der Bedeutung dieses Schrittes bewußt und sie war vielleicht, allzu ermüdet
vom Kampf um die Erhaltung unseres Lebens, bereit mich irgendetwas sein zu lassen, das sich
selbst ernähren konnte, nur das, sie war
51| gewillt, wenn auch entgegen der manchmal und
besonders früher ihr erscheinenden Träume über meine Zukunft, mich etwas werden, mich in einen
Stand gleiten zu lassen, auf dessen Angehörige sie als Mädchen, selbst noch als Frau, hochmütig
herabgesehen hatte. Sie begriff nicht, daß ich ohne Standesbewußtsein war, weder zu den einen
auf, noch zu den anderen hinunter blickte, sondern in allen möglichen Daseinsformen nur
Verkleidungen sah, die mir nicht stehen würden.
72|Schließlich aber glaubten wir beide, als wir
darüber sprachen, an meine Behauptung, ich würde Geld verdienen. Und so meinte ich, in das Leben
einzutreten und die Kindheit abzulegen wie einen unbequemen zu klein gewordenen Mantel.
Erstausgabe (Suhrkamp) |
zwei Leerzeilen |
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eine Leerzeile |
Lizenzausgabe (Volk und Welt) |
drei Leerzeilen |
Werke (Suhrkamp) |
drei Leerzeilen |
33 Texte
Textgenese
Register
74|56|Er ging um das Rathaus herum, die
schöne hohe Scheune, das Rathaus in Schilda, sein Rathaus stand fest im Regen, im Nebel, Schnee,
in klirrendem Frost, in des Ostseesommers heller Nacht und immer ratlos, er ging über den
Fischmarkt, die Fischfrauen schliefen mit den toten Fischen, er ging über den Großen Markt, die
Gänse, die Weissagevögel der Juno, waren von der Insel Rügen in Booten gekommen, auf dem Markt
waren ihnen die Kehlen aufgerissen und ihr Blut in das Pflaster gefallen, auf das Blut von
Seeräubern, die dort enthauptet worden waren vor längerer Zeit, auf das Blut von Armen, die
erschossen wurden vor kürzerer Zeit, die Wurzelfrauen waren mit Gäa der betagten
Fruchtbarkeitsgöttin in die gerupften Federn der geschlachteten Gänse gesunken, schliefen
unbekümmert, Schlaf der Gerechten
34 Texte
Textgenese
Register
was geschah am
Tag der Mobilmachung? Der Leutnant kam mit seinen Leuten auf den Markt, die Soldaten stießen die
Stände der Marktfrauen beiseite, der Bürgermeister trat aus dem Rathaus,
73|der Apotheker verließ
die Ratsapotheke, aus der Post kamen die Postbeamten, in ihren blauen Uniformen glichen sie den
Soldaten, sie sahen wie die strammen Väter der strammen Infanteristen aus, die Fischfrauen
verstummten wie die Fische, die Beerenfrauen weinten, die
52| alten Häuser am Markt
atmeten Blut, geschichtsträchtige erfahrene Giebel, verläßliche Sterbezeugen, Herr Störtebecker,
hochzu
75|verehrender Herr von Wallenstein Durchlaucht, unsere liebe rechtgläubige Majestät Herr
Gustav Adolf und Luthers nicht Münzers feste Burg, in Rutenbergs Weinstube ging es hoch, den
Franzosen die Hälse gebrochen, den Rotspon getrunken, es braust der Donnerhall, der Landrat kam
in Reitstiefel Graf Bär-Bärenhof, der Polizeihauptmann präsentierte, Wangerins Schulbuchhandlung
zog alle Flaggen auf, die Fahne schwarzweißrot, die Farben schwarzundweiß und etwas beschämt den
roten Greif auf weißem Grund, der Leutnant hielt das Schicksal
57|in weißen Handschuhen, das
Kaiserhoch, sie schrien es dreimal, der Himmel musterte sie, ein stechendes Auge, die Soldaten
blickten mutig zur grellen Sonne, in vierzehn Tagen waren der Leutnant und seine Leute
tot
35 Texte
Textgenese
Register
er wanderte durch die Lange Straße, er
war auf dem Dienstweg, dem Weg zur Fledermausdiele, er ging langsam, die Stadt war still, es war
nach Mitternacht, es war noch zu früh, der Mond schien wenn er schien, das Himmelslicht streifte
die
74|Dächer, eine tote Natur, er hatte vor den Schaufenstern gestanden, vor Erdmanns Kaufhaus,
vor Sparaganis Konditorei und lange vor den Fenstern der drei Akademischen Buchhandlungen, und
alle Fenster waren dunkel, die Straßenbeleuchtung abgeschaltet, nur im Umkreis alter Gaslaternen
zuckelte ein bleicher Schimmer, eine Lichtblume, die sich nicht recht entfaltete, aber er hatte
in den dunklen und viel
76|leicht leeren Schaufenstern weihnachtsglänzend gesehen, was er sehen
wollte, was vielleicht einmal dagewesen und nur noch in seinem Gedächtnis bewahrt war, bei
Erdmann das stahlfunkelnde Tretautomobil und die Arche Noah mit den Tieren aus Holz, das Theater
mit dem Kaspar, dem Juden, dem Krokodil und dem Tod, die Indianer aus Blei und irgendeines
Friedrich Wilhelm Lange Kerle mit den hohen Mützen wie aus alten Zeitungen gedreht, des Kaisers
Feldhaubitzen, den fallenden Krieger die Fahne fest in der Hand, die kleine Stadt mit ihren
roten
53| Dächern, dem Rathaus und der Kirche, so friedlich und falsch, die Eisenbahn die
drumherum fuhr, unaufhörlich, die Adventszeit lang, und bei Sparagani die große Schokoladentorte
und die andere fette Torte mit dem Bild der Universität aus Sahne und Marzipan in einem Kreis
von Orangenscheiben, doch die Auslagen der Akademischen Buchhandlungen mußten nicht von der
Erinnerung aus der Nacht gehoben werden, oder doch, kostbare Schätze, Grimms Märchen in einem
zerlesenen
ReklambandReclambandReklambandReklamband
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Reklamband |
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Reklamband |
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Reclamband |
Werke (Suhrkamp) |
Reklamband |
und Aladins
75|Wunderlampe und der Orient wundersamer Rei
58|sen, die fernen
Inseln, die Geheimnisse der Chinesen, das Glück der Schiffbrüche, auch das Buch vom Eisernen
Kanzler und der Flottenkalender, der Kolonialkalender, auch der Gute Kamerad der artigen Knaben
und das Neue Universum für rechterzogene Jungen, die im Universum herrschen wollten, gedrillt
auf die Eroberung der Erde, Eroberung des Wassers,
77|Eroberung der Luft, vielleicht Eroberung des
Mondes, keine weißen Flecken mehr auf den Erd- und Himmelskarten, kein unbekanntes Land, keine
ferne Hoffnung, kein Reich Utopia, aber er wollte dies gar nicht sehen, was er bekommen und
gelesen hatte, und er wollte ebensowenig sehen, was bei Licht wirklich zu sehen gewesen wäre,
Ludendorffs Erinnerungen, des Kaisers, des Kronprinzen, ihrer Feldherren Rechtfertigungen und
das Weißbuch über die Schmach von Versailles und das Schwarzbuch über die schwarze Schmach am
Rhein, er schaute nach anderem aus, was hier nicht zu finden war, den Päan gegen die Zeit, die
Bücher einer neuen Gesellschaft, die Zeichen einer Wandlung.
Hinter der Tür des Geschäfts
hing eine Zeitung, und er las im Schimmer der Gaslaterne, daß Lenin gestorben war. Da wünschte
er sich einen schwarzen Schlips, ihn umzubinden oder zu einer Schleife zu knoten, wie sie früher
die Künstler getragen hatten, Wagner, der auch in der Buchhandlung zu sehen war. Er näherte sich
langsam der Fleder
76|mausdiele, sah das rote Licht ihres Namens über den geschwärzten Fenstern,
hörte das Klavierspiel der Frau Kasch, der Greisin, die er abholen und nachhause leiten sollte
zur Polizei
54|stunde. In der Fledermaus war es immer dunkel, saßen Frauen auf den Tischen
oder unter den Tischen, und die Männer an den Tischen waren von den Frauen auf oder unter den
Tischen seltsam erregt. Sie lachten oder grunzten oder
78|schrien und hatten im gedeckten Licht von
roten Lampions rote geschwollene Köpfe. Er ging an ihnen vorbei und sah sie und sah sie nicht.
Frau Kasch spielte geduldig die Musik der Operetten aus dem Stadttheater, und später
59|spielte
sie, wenn es keiner mehr merkte und sie sehr müde war, den Totenmarsch von Chopin. Sie war
blind, und wenn er sie ansah, sah er den blinden Homer; ihr Gesicht war aus alter Welt. Ihre
Tochter war eingeschlossen und verwahrt in der Irrenklinik, in Heil und Pflege ohne Heil und
Liebe, die nach Berlin und nach Schweden fuhren, und sie hätte der Stadt entkommen können, rechtzeitig.
Käthe Kasch war die Freundin seiner Mutter gewesen in jungen Mädchenjahren.
36 Texte
Textgenese
Register
Die Universität ist für welchen Triumph gebaut? Der
weltberühmte Gründer Stifter Erbauer: hier stock ich schon. Wie denn? Wo denn? Wer denn?
77|Kein
Hund in Teheran, kein Löwe im Wald, nicht einmal der gedemütigte Gefangene hinter Gittern in der
schmutzigen Menagerie auf unserem Jahrmarkt, kein schwarzer Mann, kein gelber Bruder, nicht wer
weiß wer in der neuen Welt nennt seinen Namen, und zu schweigen von den weißen Flecken, den
buntgekleideten und den nackten Menschen, den Ungeheuern der Meere, der
79|Länder und der Lüfte auf
Mercators oder Vissers Atlanten. Unnötig, fern zu schweifen. Wer nennt ihn hier, den
weltberühmten Weisen? Nicht König, Ritter, Bauer, Bettelmann, vielleicht der Schneider seiner
Anzüge, der Schuster seiner Schuhe, Bäcker seines täglichen Brots. Wohlfeil die Laudatio, kleine
gängige Münze in der Gelehrtenrepublik. Anrüchiger Verein. Natürlich konnten sie stolz sein auf
ihre feine Märtyrertafel: erschlagen, gesteinigt,
55| gekreuzigt, verbrannt, mit Feuer und
Schwert ausgerottet, in Verließe gesperrt, den Giftbecher gereicht, außer Landes gejagt. Für
nichts, für Hirngespinste, eitle Mittagsträume, Fortschritt, Freiheit, Erkenntnis, Wahrheit,
oder was sie dafür hielten. Er ist aber nicht eingebildet, er läßt sichs gern entgehen. Wes Brot
ich esse, des Lied ich singe, untertan jedweder Obrigkeit, dem Himmel was des
60|Himmels nach
Anweisung des jeweils zuständigen Pontifex, des Landesherren Höchstdero Unterwertester. Also der
weltberühmte Verfasser einer erbaulichen Chronik. Was meint er nur? Was beglückt ihn so, womit
erbaut er? Im Anfang war Wüste und Finsternis, und es wurde
78|Licht, und Adam begegnete Eva, Kain
beneidete Abel. Tausend Jahre, Millionen Jahre. Lauter herrliche Siege, die Erde war ein flacher
überschaubarer Teller, kreisend im Fruchtwasser der Herrlichkeit, nun eine Kugel, Stern unter
Myriaden Sternen entthront aus der Mitte der Schöpfung; dies bis auf weiteres. Er aber steht
fest, hier und jetzt, und fest steht auch, dort und jetzt,
80|schwer zu glauben, der Antipode. Zwei
Philosophen in Pantoffeln oder in Schaftstiefeln, auch in Lackschuhen, Sohle gegen Sohle und
zwischen ihnen der fliegende Erdball. Erstaunliche Äquilibristen! Moses gab es und den großen
Aristoteles, den noch größeren Alexander und Nero und Vergil und Charlemagne, Petrus und die
Stellvertreter und vielleicht noch Mohammed vom heiligen Grab bis Wien, von Buddha kam
märchenhafte Kunde, Jesuitenklatsch, und irgendein Hutzliputzli reiste auf einem Schiff unter
Wahnsinnigen und Gold. Bleibt der emsige Erforscher der Historie unserer lieben Heimat. Der
bedeutende Mann wirft sich in den Staub, scharrt und kräht wie ein Hahn auf dem Mist und findet
seinen Atlas pommerscher Vorgeschichte. Ein in jeder Hinsicht ordentlicher Professor. Wirklicher
Geheimer Rat. Wer war töricht genug, ihn um Rat zu fragen, wirklich und geheim? Inhaber des
Lehrstuhls. Hier steht er, klammert sich fest und kann auch anders. Stimmberechtigt in der
Königlichen gelehrten Gesellschaft zu Kopenhagen oder Uppsala. Willkommene Aureole des Magiers
aus
79|dem Norden, polarlichtgeblendet, er schloß die
56| Augen, stimmte nicht mit, doch ein,
hatte kein Geld zu reisen. Korrespondierendes Mitglied, das die Briefe schuldig blieb oder nie
Antwort bekam, der Royal Academy, London, des Institut de France, Paris. London, nie erfahren,
nie gesehen, vielleicht Kant über London gehört.
61|Kollege war auch nie da gewesen. Paris, Stadt
der heiligen Könige,
81|Thron der großen Könige, der Bartholomäus- und anderer Nächte. Residenz der
Sonne, Quartier der Hohen Schulen, Feuer des Aufstandes, Klause auch Pascals, aus der Traum.
Dekan der Fakultät. Frucht der Jahre. Einmal selbst Magnifizenz. Es war Zeit. Sein Stehpult ist
ihm nun zu hoch gerichtet. Über die Schulter blickt der Tod. Das lastet im Nacken, krümmt den
Rücken. Oder war es das Leben, die stolze Laufbahn, erbärmliche Stipendien, winterkalte Stifte,
das schwere Latein, der hungernde Studiosus, der kriechende Magister, die ersehnte Berufung, die
kleine Anstellung? Auf wackligen Beinen halten sich Pult und Herr, der Autor und sein Knecht.
Über ihnen wie berstende Regenwolken die vollgestopften Regale, Papier, Papier, die eigenen
Schriften, die benutzten Bücher, die alten, die wiederholten Vorlesungen, die neu belebten, die
aufgefrischten, schön gekämmten, glatt gebügelten Gedanken, Exzerpte auch, Zettelkästen, das
beschlossene, erträumte, gemiedene, nie gewagte Werk, das große Fragen, die Entschleierung, die
Zerstörung der Hoffnung, kein mildes Alter und
80|Staub Staub und Staub. Er hat keinen sauberen
Schlafrock an, lebt ja mißachtet im Haus, sein Ruhm blüht in den Annalen, vom Neid der
Fachgenossen gepflegt, vom Spott der Schüler benagt, wie kleine scharfe Mäusezähne den Rand der
Folianten zerfetzen, Mäusedreck hinterlassen, das Schlafgewand, das Arbeitskleid,
heruntergekommene Kutte des Heiligen Benediktus ist speisenfleckig, notdurftverschmiert,
82|schnupftabakgebräunt, pfeifenglutversengt, eine Kappe deckt das ehrfurchtgebietende schüttere
Haar, alter Duttel, sagen sie, und überall lugen die Geier, wetzen die Schnäbel, signalisieren
den Würmern, die Seide der Kappe mit Blümchen bestickt zu Weihnachten oder zum Jubelfest von der
Gattin, der dreißig Jahre lang bitter treuen, enttäuscht, ach, wovon, unver
57|stehend, wie
könnt es anders sein, oder von der Tochter, der zu ihm aufblickenden, die es graut, wenn sie
sieht, in seinem Gesicht sieht,
62| was sie wird, wie sie wie er wird, und der Vater bedeckt die
Augen, denkt, sie wächst heran, das Kind, zwanzig Jahre, dreißig Jahre und der Dämmerung zu, dem
Stift für die mittellosen Töchter gebildeter Stände, oder sie wird dem letzten Famulus endlich
angetraut zu später Fortpflanzung, ein blasser ehrgeiziger Judas, dem auf die Leiter geholfen
wird, mit Bücklingen und Winkelzügen und Selbstverleugnung in die Fakultät gebracht, der
präsumtive Fälscher und Vernichter der literarischen Hinterlassenschaft, der natürliche Verräter
der alten Koryphäe, doch
81|vielleicht trägt der Meister noch die Perücke, den Zopf fritzisch
gebunden, ferkelschwänzig, mehlpuderbestäubt, oder er ist schon mit dem Schlapphut, das
Silberhaar schön gepflegt, glänzend in langen Locken, auf dem Weg zur Paulskirche, seiner
Vollendung nahe, bald eine Spottfigur der Fliegenden Blätter, Herr oder nicht einmal mehr Herr
eines vergessenen Regenschirms, Mut, Geduld, im Schrank warten schon
83|der Sedanfrack, die
Reserveleutnantsuniform und all die Lakaienröcke seines erbärmlichen ordengeschmückten
Niederganges. Die Decke des Zimmers drückt, wie eine schwere Hand, das Fenster ist klein, als
koste das Licht Geld, vor den unterteilten Scheiben jedoch das Idyll der Laube, Jasmin und
wilder Wein, so siehts das Gemüt, er hat keins, er haßt es, jede Stunde bleibt dunkel, bei Sonne
im Schatten des Turms von Sankt Nikolai, bei Nebel im Schleier der See, in der Waschküche der
Welt, im Steckkissen der Schöpfung. Homer schaut dem Professor zu, sein blindes Haupt auf die
Estrade gesetzt, oder ist es Perikles, der gepriesene Staatsmann mit dem Helm? Unsere schwache
alte Hand klammert sich doch energisch an das rettende Pult, während die andere zitternd
begeistert die Säule zeichnet, wir messen auch mit dem Zirkel, rechnen mit dem Winkelmaß, nach
einer klassischen Vorlage, dem zerstörten Tempel von Athen oder einem geborstenen Bogen vom
Forum, lateinische oder griechische Schrift. Schimmel frißt sie. Auf der Wiese hinter der Laube
hängen sie die Wäsche
82|auf,
63| Gattin,
58| Tochter, Magd, vielleicht eine und dieselbe Person,
vom Pflaumenbaum zum Apfelbaum, seine Hemden, Galeerenlumpen, Mönchsbinden, Kragen von
spanisch-katholischer Weltfrömmigkeit, humanistischer Frivolität, lutherischer Reform,
calvinischer Strenge, ignazischer Schläue, dann Jakobinerjabots, Fichtemoden, Hegelschleifen,
Turnvatertrikots, Metternichpolster, Vater
84|mörder, küraßsteife Regierungsbrüste,
angstschweißaufsaugende Jägerhemden, dazu den Zylinderhut für das berühmte Kolleg über die
deutschen Kaiser als Vollstrecker des Schöpfungswillens und der römischen Weltreichsidee, warme
Unterhosen jedoch für die Ausflüge ins Moor, den Fundstätten unserer germanisch-wendischen
Knochen, und ferner die haushälterisch geflickten Laken, die mütterlich gestopften Bezüge zur
nächtlichen Erquickung, er ruht allein, ein Professor für sich in der Nestwärme aus Schweiß und
vergehendem Fleisch der allmählichen Auflösung der Gattin, vom ersten Tag war Verwesung, von der
Stunde der Erkennung, er sah nicht hin, nicht in den eigenen Leib, wie die Zeit ihn fraß, nachts
kam der Geist, kam mit der Eule der Minerva, kam aus dem Tempel der Diana von Ephesus,
Hierodulen gaben sich hin, dem Fremden, auch dem Vertriebenen, selbst noch dem Träumenden, er
blieb, beharrte im Traum Ehre sei Gott in der Höhe, war nur ein Käuzchen, das schrie, kiwitt,
der Knochenmann, oder die Ideen kamen, die Geburt der Nation, das
83|Volk stand auf, aber der Sturm
brach nicht los, das flammende Schwert züchtete für Thron und Altar, das Eingemachte harrte im
Keller in Gläsern und Töpfen, daß einer krank werde, von der Seilerbahn raspelt die Winde des
Seilers, ihr Toten in den Gräbern in Etrurien, vom Hanfflechter geführt, in der Unterwelt
beschützt, und der Maurer kommt und holt den Plan und mischt den weißen Sand und den bindenden
Kalk, und
85|der Zimmermann zimmert das Gerüst und die Form und den Sarg, am Mittag riecht die
Stadt nach Bratflundern, am Abend nach Räucherfisch aus
SusemihlsSusemihlsSudemihlsSusemihls
Erstausgabe (Suhrkamp) |
Susemihls |
Gesammelte Werke (Suhrkamp) |
Sudemihls |
Lizenzausgabe (Volk und Welt) |
Susemihls |
Werke (Suhrkamp) |
Susemihls |
Laden, Colonialwaren, ff.
Delika
64|tessen, und das Geld reicht nicht, und die Stadt wird müde des Erhabenen, die Stadtväter
sagen, mit allem Respekt, zwei Säulen sind
59| genug, Cäsar und Alexander sind nicht
vergessen in Greifswald, doch der schwere Giebel, der Sarkophag aus Quadersteinen, das
Hünengrab, das nichts enthält als die umschlossene Leere oder die Sage vom großen Ahn, lastet zu
den Seiten des Tores schwer auf den wahren Trägern, den unscheinbaren gedrungenen grauen Sockeln
aus gemeinem Lehm.
37 Texte
Textgenese
Register
der Park von Putbus und im Hintergrund das Schloß des Fürsten von Putbus, und
das Schloß sieht genau wie das Schloß des Fürsten von Putbus auf der Ansichtspostkarte aus, die
sie am Eingang des Parkes verkaufen, für zehn Pfennig eine
84|schwarzweiße, nein eine graue
nebelfleckige Natur, für zwanzig Pfennig das weiße Schloß unter azurblauem, fast tropischem
Himmel auf einem stechendgrünen Rasen. Das Schloß ist nicht klein und nicht groß, es ist hell
angestrichen wie mit blendendem Kalk beworfen, es ist ein sehr hübsches weißangestrichenes
Schloß, und für die Insel Rügen und für Pommern ist es Versailles oder Sanssouci oder sonst so
86|etwas. Auf dem schwarzen Schieferdach des Schlosses weht die Standarte des Fürsten, der
Schullehrer des Ortes Putbus sagt, das Banner seiner Hoheit ist gesetzt, die Kurgäste flüstern,
der Fürst ist zu Hause. Was ahnen die Kurgäste? Der Fürst speist von goldenen Tellern, des
Fürsten Krone ist in das Tischtuch gestickt, die Schüsseln, das schwere Besteck tragen des
Fürsten Wappen, der Fürst regiert, aber wen regiert er? der Fürst schläft, er umarmt die
Fürstin, er zeugt den nächsten Fürsten von Putbus, der nicht herrschen, der fallen wird,
gemeuchelt unterm Schnee, verscharrt im Wüstensand, begraben im Eis der Fjorde, versenkt in die
Tiefe des Ozeans. Der alte Fürst liebt eine Mätresse und zeugt einen Schriftsteller oder einen
Minister
65|oder einen Volksverderber oder einen Hotelbesitzer, aber manche der Einheimischen sagen
auch, ons Först is dood. Der Park ist nach englischer Weise angelegt, der Fürst oder die Fürstin
oder ihre Ahnen oder der Architekt, den sie
60| bezahlten oder nicht bezahlten, oder
irgendwer, der ihr Ohr erreichte, ein Einflüsterer, ein Schmeichler, ein
85|Bodenspekulant,
vielleicht ein echter Engländer, der homosexuell und emigriert war und seine Erinnerung an den
Hydepark bekämpfte oder pflegte, vielleicht an
einemeinemeineneinen
Erstausgabe (Suhrkamp) |
einem |
Gesammelte Werke (Suhrkamp) |
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Lizenzausgabe (Volk und Welt) |
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Werke (Suhrkamp) |
einen |
Knaben mit einem Mädchenteint, oder ein
Milchmädchen knäbischen Gesichts auf den regennassen kurzgeschorenen Rasen geworfen und
vergessen oder nicht vergessen – sie alle liebten und über alles die Natur. In den weiten
Lichtungen sollten
87|Rehe weiden. Rehe weideten auch dort, kamen zutraulich heran, ließen sich
füttern mit verschimmeltem Brot aus der Hand ihrer Feinde, die Rehe schnupperten, prusteten mit
feuchten Lippen über die hingehaltene selbstzufriedene Hand, doch man sieht keine Rehe mehr, die
Rehe sind verschwunden, geraubt, geplündert, mit dem Armeegewehr erschossen, von Handgranaten
erledigt, bei Nacht geschlachtet, vielleicht hat der Fürst sie gefressen, während die Standarte
seiner Hoheit und seiner Anwesenheit auf dem Dach seines Schlosses wehte, vielleicht aßen auch
andere die Rehe, taten sich am Rehfleisch gütlich, während der Fürst vor gedeckter Tafel, vor
leerenleerenleeerenleeren
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Gesammelte Werke (Suhrkamp) |
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Lizenzausgabe (Volk und Welt) |
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Werke (Suhrkamp) |
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goldenen Tellern im Prunksaal ohne Feuer und ohne Licht saß und auf die Schüsse
lauschte, auf die Explosionen der Handgranaten vor seinem Haus, in seinem Park, bei seinen
Rehen, die er liebte und nicht schlachten wollte, und vielleicht geschah dies alles während der
Fürst starb. Die Wege des Parkes sind sorgsam mit Sand bestreut, der von der Ostsee angespült,
von Tagelöhnern hergekarrt wurde und hier sehr
86|ordentlich aussieht. Der Sand ist weiß,
feinkörnig, meergewaschen, manchmal knirscht eine zertretene Muschel, und immer ist ein alter
Mann beschäftigt, der dem Fürsten ähnlich sieht und vielleicht sein Bruder ist, die Pfade zu
harken. Wenig
66|stens in der Saison. Meine Mutter sitzt im Park auf einer Bank, die der
Schloßverwaltung oder dem Kurverein gehört. Meine Mutter schreibt. Sie schreibt keine
Ansichts
88|postkarte, sie transportiert nicht das Schloß des Fürsten von Putbus nach Hause oder in
die weite Welt. Keine Grüße aus der Sommerfrische. Auf ihren Knien ruht ein abgegriffener Band,
eine
61| Sammlung von Fingerabdrücken, von Erinnerungen an fremde, unachtsam verschlungene
Mahlzeiten, Brandflecken mißmutig verpaffter Zigaretten, der Klavierauszug einer lustigen
Operette, und auf dem schäbigen alten Klavierauszug liegt ein Bogen gelblichen Kanzleipapiers,
den meine Mutter irgendwo gefunden oder mitgenommen hat, und sie schreibt mir: verhungere, wenn
du verhungern willst, wenn es deine Bosheit ist, mir dies anzutun, ich kann dir nicht helfen,
wenn du dir nicht hilfst, und sie entschließt sich zu schreiben, hilf dir selbst, dann hilft dir
Gott, und es ist der Gott Luthers und des kleinen Katechismus und seiner
ehebettreuehebetttreuehebettreuehebettreu
Erstausgabe (Suhrkamp) |
ehebettreu |
Gesammelte Werke (Suhrkamp) |
ehebettreu |
Lizenzausgabe (Volk und Welt) |
ehebetttreu |
Werke (Suhrkamp) |
ehebettreu |
sich vermehrenden Prediger die untertan der Obrigkeit, und sie blickt zum Himmel hoch und weiß, daß
dies ein Gestöhn der Hilflosigkeit ist oder, von anderer Hand gesetzt, aus anderem Mund
gesprochen, der Hauch der Kälte. Auf den Park
87|wegen promenieren die Kurgäste, weil sie dazu
hergekommen sind. Die Röcke der Frauen sind nach dem Morden kurz, sie enden gleich unter dem
Knie, das ist neu, man findet es unerhört, eine Errungenschaft des Verfalls, ein Zeichen für das
Weltende, und die alte Fürstin von Putbus macht die Mode nicht mit, ihre Röcke, Unterrock und
Oberrock, fegen noch immer den Sand, hinterlassen eine deutliche Spur ihres
89|Vorüberschreitens
wie einst in Potsdam im Ehrendienst der Kaiserin oder am Hof der Zarin, sie ist tot, von einem
Strudel verschlungen, einem Ungeheuer verspeist, und die Männer zeigten noch Würde, trugen sie
erhobenen Hauptes, hoch behütet, kragensteif, über dem Bauch goldgekettet und alles
Unaussprechliche unter Schwalbenschwänzen und anderen Schößen wie in einen Sack gesteckt, so
schritten sie aufrecht auf
67|ihre Zukunft zu, die unglaublich fern und unsagbar dreckig, nur
Kassandra erkennbar, in einem stolzen blendenden Licht das Grab verbarg, die großen neuen
Leichenfelder. Meine Mutter ist noch jung. Auch ihr Rock ist gekürzt. Meine Großmutter hätte den
Rock nicht gebilligt. Der Rock ist zerdrückt und fadenscheinig, er ist aus einem schäbigen
billigen Stoff, einem Stoffersatz geschneidert, aus Brennesseln vielleicht, eine Erfindung der
großen Zeit und von ihr übrig
62| geblieben. Die grauen Zwirnstrümpfe meiner Mutter zeigen
Löcher; einige sind gestopft, zum Stopfen der anderen reichte der Faden oder die Stunde nicht.
Die
88|Sohlen meiner Mutter Schuhe sind durchgetreten, die Absätze schief. Der Kragen und die
Manschetten der Bluse meiner Mutter sind schmutzig. Meine Mutter besitzt keine zweite Bluse.
Manchmal wäscht sie die Bluse in der Waschschüssel auf dem Waschständer in ihrer engen Kammer
bei des Fischers Frau, der Fischer, zum Butt geschickt, blieb im Skagerrak, aber meine Mutter
kann die Bluse nicht immer waschen. Auch ihr entflieht die
90|Zeit. Die Kunst beansprucht sie. Es
ist aber nicht die Kunst, es ist das Schicksal. Meiner Mutter Gesicht ist so weiß wie Schnee, so
rot wie Blut und so schwarz wie Ebenholz, erstarrt und zerschrunden wie die Haut auf Dr. Oetkers
Götterspeise aus entrahmter Milch, meine Mutter ist gejagt, sie ist am stürzen, sie fühlt es,
ist am Ende. Der Tod steht hinter dem Baum, kein Freund, kein Feind, eine Amtsperson,
verknöchert. Meine Mutter hatte auf vielen Ämtern vorzusprechen. Ihre Hand, die den
Bleistiftstummel über das
gelblichegelblichegeblichegelbliche
Erstausgabe (Suhrkamp) |
gelbliche |
Gesammelte Werke (Suhrkamp) |
gebliche |
Lizenzausgabe (Volk und Welt) |
gelbliche |
Werke (Suhrkamp) |
gelbliche |
Kanzleipapier führt und mich in die Verdammnis stoßen will,
der sie nicht Herr wird, zittert. Meine Mutter sitzt in einem Käfig. Der Käfig ist eng. Er hat
drei Wände, und die drei Wände schließen sie ein. Die vierte Wand fehlt. Die Luft in dem Käfig
west nach Hobelspänen, nach Tischlerleim, nach roher Leinwand und scharfer Farbe, vor allem nach
Staub. Die Luft dunstet auch von heißen Füßen in für die Jahreszeit zu festen und zu lange
getragenen Schuhen. Der gepriesene Himmel der Ba
68|degäste ist nicht zu sehen. Die schöne Ostsee
89|ist auch nicht zu sehen. Vom Sommer ist hier nur die Hitze zu spüren und fällt schwer in den
Keller, den Käfig, in dem meine Mutter sich nicht rühren kann. Eine Glühlampe glüht grell und
heiß über ihrer Stirn. Meine Mutter beugt sich aus dem Käfig vor und flüstert; aber mit einem
Flüstern, das ein flüsterndes angestrengtes Schreien ist. Meine Mutter sitzt im Soufflierkasten
des fürstlichen Putbuser Sommertheaters und
91|liest laut den Klavierauszug und spricht scharf
flüsternd den Text der lustigen Operette. Die Sänger haben ihre Rollen
63| nicht gelernt.
Sie schwimmen, wie sie es nennen. Stumme Fische. Stummes, staubbahniges gefirnistes Aquarium.
Aus der Schau meiner Mutter gesehen, wenn sie über den Klavierauszug blickt, nur Füße und die
Füße verstaubt und feucht und arm. Erst wenn meine Mutter zu den Sängern aufsieht, beschwörend
das Wort ruft, das sehnlich erwartete, das lustige, diesmal voranbringende, erkennt sie die
Gesichter der Akteure. Hungrige Gesichter, wütende, mitleidlose; sie fordern von meiner Mutter
das Leben. Denn auch sie, die Elenden sind aus Lehm gefügt und verlangen, durch einen Atem
belebt zu werden. Ihr Ausdruck ist herrisch, arrogant, eingebildet, vorwurfsvoll, die Gesichter
der Sänger klagen an, weil ihre Ohren oder ihr Gedächtnis oder ihr Verstand die Sätze, die meine
Mutter flüstert oder schreit, nicht empfangen oder nicht begreifen. Die Sänger öffnen den Mund,
aber sie singen nicht; sie vergessen, den Mund, der nicht singt, wieder zu
90|schließen; meine
Mutter blickt in kleine schwarze Löcher unsäglicher Torheit, und die Augen der Sänger wandern
oder stechen, sind ratlos oder nur böse. Die Probe zieht sich erschlaffend hin. Am Himmel, der
so fern ist, versammeln sich Gewitter. Der Regisseur schimpft, er schläft mit der Soubrette, er
schimpft nicht mit der Soubrette, die alte Bettstelle knarrt, die Zimmer vermietende
Fischerswitwe horcht und erregt sich hin
92|ter der aus Holz gefügten dünnen Wand, das steinschwere
Federbett wird von verschwitzten Gliedern zurückgesto
69|ßen, die Nacht beklemmt in der Mansarde,
wer in den Tropen war oder was über Tropen las, mag denken: Lianenwald, die Nacht
wetterleuchtet, das Schwein grunzt in der Witwe kleinem Stall, trüffelt den nassen
Soubrettenleib, Quell unter feuchtem Moos, Moder wie in einer Grabkammer, das Stichwort nicht
vernommen, leichenweißes gepudertes Gesicht, Rinnsale von Hitze und Angst, kein Begreifen,
natürlich nicht, woher begreifen? der Regisseur schimpft nicht mit den Sängern, Kollegen setzen
sich zum Skat, der dritte Mann gibt, die Kiebitze glotzen, wissen es besser, lustvoll einen Korn
genommen und noch ein Bier, was sind das für Männer in ihren Hosen, sind auch Soldaten gewesen,
mit Auszeich
64|nung gedient, im Baltikum, nein beim Fronttheater, der Regisseur schimpft
zu meiner Mutter hinunter, wer arm ist, sitzt unten, er wird erhoben werden, sagt Pastor
Büttentien, Hofprediger zu Putbus, der Regisseur hüpft in die Luft, wahrlich, Gott
91|ergreift ihn,
er macht nun den Buffo, hopst umher, Schwenkebauch, nun alle, untergefaßt, Arm in Arm, das
Universum noch einmal in die Schranken gefordert, und das Bein hoch, rot in die Fußrampe
getreten, Heiligenscheine aus den Soffitten. Wirbel des Finale, die Liebe die Liebe ist eine
Himmelsmacht
38 Texte
Textgenese
Register
93|er ging zum Bahnhof, ging in der Dämmerung oder wenn es schon dunkel war im Winter,
ging zum Achtuhrzug der von Berlin kam, eilte schon früher hin, schweifte herum am Bahnhof wie
ein Obdachloser, stieg auf die Brücke, die über die Gleise führte von der man unter sich die
Züge sah, die nach Skandinavien fuhren Malmö Stockholm oder nach Pasewalk oder nach Stettin oder
Berlin, oder die Züge rangierten hier, die Lokomotive zog oder schob, sie stieß ab, die
Güterwagen prallten gegen die Puffer, quietschten im Bremsschuh, Kartoffeln auf offenen
Güterloren oder Zuckerrüben oder Korn oder Vieh in überdachten Waggons das
70|hinauslugte durch die
Sprossenwand in diesen Abend vor der Reise, der mild war oder rauh, bei Kälte war der Atem der
Tiere zu sehen, die feuchten Nüstern der Kühe, ihr rosa Maul, die Nasenlöcher, durch die sie die
Rauchluft des Bahnhofs schnoben, Abschied nahmen von der Weide dem Gras dem Wind dem Blick ohne
Grenzen aufs Meer in die Nebelwelt, bestimmt für
92|Berlin, seinen großen Appetit, gierig, sie zu
fressen, sanfte Rinder, lustige Schweine, verloren von Geburt, und jenseits des Bahnhofs, wo der
Weg an Zäunen vorbeiführte, hinter denen nichts lag oder nur Unrat Abfall ein verdorrtes Stück
Land eine verfallene Laube und dann leuchtend in der Nacht aus hohen Fenstern, aus kleinen
Fenstern, aus geöffneten oder vergitterten Fenstern die Psychiatrische Klinik, die Irrenanstalt,
er stand über dem
65| Rauch der Lokomotiven, er
94|rußte ein, dampfte zu, es war nur der
kleine Zug nach Stralsund, er stieg die Stufen hinunter, wieder zum Bahnhof, ging in die
Schalterhalle, vorsichtig, sah, ob der Polizist lauerte, der geheime mit der
PellerinePellerinePelerinePellerine
Erstausgabe (Suhrkamp) |
Pellerine |
Gesammelte Werke (Suhrkamp) |
Pelerine |
Lizenzausgabe (Volk und Welt) |
Pellerine |
Werke (Suhrkamp) |
Pellerine |
, mit dem
Jägerhut, sah die anderen Jungens, die sich herumdrückten, nach dem Polizisten spähten, Feinde,
Denunzianten, Analphabeten, er ging zum Zeitungsstand, wandte sich hin, hatte kein Geld, mit dem
Achtuhrzug kamen die Berliner Zeitungen, er fragte nach den liegengebliebenen von gestern, bekam
sie oder bekam sie nicht, den Zeitungskopf abgerissen, für Pfennige, die er zahlte oder schuldig
blieb, dann fuhr der D-Zug ein, und sie kamen, er stand hinter der Sperre und beäugte sie, nicht
die Geschäftsreisenden mit den Musterkoffern größer als er, sie wurden von den Hoteldienern
erwartet, wurden verladen zum Nordischen Hof oder zum Preußischen Hof oder zum Schwarzen Adler,
er spekulierte auf die Passagiere die aus unbekannten Gründen die Stadt besuchten, die Koffer
hatten
93|zu schwer zu tragen, aber nicht schwer genug zum Verladen, die noch nicht wußten, in
welches Hotel sie gehörten, oder die einfach erst mal sich umsehen wollten, und er lugte nach
dem Polizisten, lief neben den Reisenden her, sprach sie an,
71|flüsterte ergebenst, erbot sich,
ihre verehrten Koffer zu tragen, die anderen Jungen drängten ihn weg, stellten Beine, stießen,
pufften, aber er fand Lücken, war flinker, oder die anderen hatten andere Beute, und der
Reisende zögerte, sah ihn an,
95|musterte ihn, und bevor der Reisende nein sagen konnte, griff er
den Griff des Koffers, dreht
eee
Erstausgabe (Suhrkamp) |
e |
Gesammelte Werke (Suhrkamp) |
leer |
Lizenzausgabe (Volk und Welt) |
e |
Werke (Suhrkamp) |
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ihnihninihn
Erstausgabe (Suhrkamp) |
ihn |
Gesammelte Werke (Suhrkamp) |
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Lizenzausgabe (Volk und Welt) |
ihn |
Werke (Suhrkamp) |
ihn |
aus der fremden Hand, nahm den Koffer auf, lud ihn sich auf die
Schultern, schwankte unter der Last und trug ihn neben dem Fremden her, sie gingen über den
Wall, er führte ihn, wenn der Reisende fremd war, beschrieb ihm die Stadt, sagte, hier wohnte
Nachtigall, der Afrika erforschte, und der Reisende hatte von Nachtigall gehört oder nichts
gehört, und es war dem Reisenden egal und der Knabe dachte, der Reisende zu sein, Nachtigall,
der aus Afrika zurückkam, den Koffer voll Elfenbein oder voll Gold, doch Nachtigall war arm
gestorben, ein Professor, und er ging als der reiche Herr Nachtigall zum Markt in den
66|
Nordischen Hof, schritt nonchalant über den roten Läufer, ein verwahrloster Knabe, trug seinen
Koffer mit Afrikas Gold, dem Elfenbein, den Zähnen seiner Elefanten, dem gefleckten Fell der
Leoparden, und er gab dem Träger eine Mark oder gar zwei oder gab einen
94|Dollar und forderte ein
Zimmer im ersten Stock, ein Zimmer zum Markt selbstverständlich, und er bestellte Bratflundern
auf dem Zimmer serviert oder eine Gans mit Äpfeln und Backpflaumen gefüllt, und der Reisende
drückte ihm dreißig Pfennig in die Hand oder fünfzig, und der Portier des Hotels kam mit grüner
Schürze, packte den Koffer und schrie, scher dich hinaus. Hinaus bleib vor der Tür du bist
draußen vor der Tür geh außen rum.
39 Texte
Textgenese
Register
96|Das Haus des Gerichts war aus Klinkersteinen gebaut und
glänzte im Sommer wie im Winter, in der Nässe des Regens, im Sonnenlicht oder Laternenschein.
Sein beliebter altdeutscher Baukastenstil von 1870 ließ an süddeutsche Städte
72|denken, eine
volkstümliche Romantik, die ich von Bildern kannte, seine Fassade, mit einem Hauch von
Renaissance, an Paläste und Kerker. Innen war das Gericht ein verwirrendes Gegänge der Ordnung,
von preußischen Beamten, sparsam versorgten Unteroffizieren bewacht, wie von Kafka in Prag
beschrieben, was ich nicht wußte und dann Erinnerung war, wie von Piranesi gezeichnet, den ich
liebte. Ich verirrte mich in Furcht, lief tollkühn die Treppen. Ich suchte eine Tür und meinte
einen Ausweg. Ich war angezeigt worden, von wem, von jedermann, keiner Tat bezichtigt, oder das
Vormundschaftsgericht hatte mich in den Akten gefunden, beschuldigt, zu leben. Gewalt nahte,
stand vorm Haus, in ihren Absichten unerkennbar. Meine Mutter und ich
95|berieten, uns tot zu
stellen, die Vorladung zu ignorieren, die Vorhänge gegen die Stadt zuzuziehen. Wir waren eine
Gesellschaft für uns, geschlossen, zuweilen hochmütig. Wir lagen in unsern zu einem rechten
Winkel gestellten Betten und schliefen nicht. Wir lauschten auf des andern Atem; gewärtig, er
könne aufhören, zu müde oder im Zorn. Hinter dem Gericht, zum Kastanienwall hin, war das
Gefängnis
67| der Justiz verbunden, mit ihm ein Leib und vielleicht eine Seele. Aus den
Zellen blickten die Gefange
97|nen durch Gitter auf den Wall, auf die Spaziergänger unter den
Kastanien, auf meine Mutter und mich, auf die roten Tennisplätze des Akademischen Clubs und
seine gebildeten Spieler. Zur schönen Jahreszeit war das Aufschlagen der Bälle die Bastonade der
feinen Leute, zugedacht den Eingeschlossenen. Wenn Winter war, täuschte der Schnee einen
Ausgleich vor zwischen den Glücklichen und Unglücklichen. Doch als ich erkundet hatte, daß Tante
Martha der Vormundschaftsrichter war, machte ich mich auf zu ihm, ohne meine Mutter zu
verständigen, neugierig, ihn kennenzulernen, ihn zu sehen und zu sprechen, ihn in seinem Amt zu
beobachten.
Tante Martha war eine stadtbekannte Persönlichkeit und gehörte schon längst zu den
Menschen, die mich beschäftigten, denen ich heimlich folgte, in die ich mich verwandelte,
73| um sie
zu erkennen und wie sie zu träumen. Tante Martha war Amtsgerichtsrat. Die Stadt hatte sich
schwer, sehr allmählich und peinlich lächelnd an
96|ihn gewöhnt. Als Alter und hoher Beamter wurde
er geduldet, was energische Charaktere skandalös fanden. Die Studenten in ihrem gemeinen Sinn
hatten den Richter schon früh Tante Martha gerufen, und die Bürger hatten den Namen mit ihrem
nimmersatten Appetit auf Anrüchiges gierig übernommen. Tante Martha war lang und hager, hatte
eine große Kaspernase und tiefliegende traurige Augen hinter dichten Falten. Hob er die Lider,
blickten die Augen wie aus dem Panzer einer
98|Schildkröte. Ich sah ihn, wie er sich auf der Straße
klein machte, gebückt ging, Akten unter dem Arm, wie um sich tief zu verneigen, zu
entschuldigen, zu demütigen. Ein Lächeln aus angeborener Liebenswürdigkeit und entsetzlicher
Verlegenheit verzerrte seine Züge. Mich schmerzten die unvernarbten Wunden in seinem Gesicht. Er
trippelte mit kleinen Damenschritten durch die wehe Luft in den Gängen des Gerichts. Seine
rechte Hand war gehalten, als hebe sie einen langen schleppenden Frauenrock aus dem Schmutz.
Zuhause saß er, so glaubte die Fama ein Aufwärterinnengeschwätz, in ärmellosen, vorn und hinten
recht ausgeschnit
68|tenen Kleidern aus einem Vorkriegsmodeheft vor einem Stickrahmen und
zauberte schöne bunte Blumensträuße aus Garn oder Wolle. Mir gefiel das nicht. Es machte mich
wütend. Ich sah den Richter in einer ererbten Villa hinter dem alten Friedhof zwischen Büchern
leben, eine Katze auf dem Schoß, den Platon lesend. So beneidete ich ihn. Gern hätte ich ihn
97|gebeten, mich im Altgriechischen zu unterrichten. Ich hatte ein Lehrbuch, ein Lexikon, schrieb
griechisch auf die Ränder der Zeitungen und las die antiken Dichter in den klassischen
Übersetzungen der deutschen Hellasschwärmer, der Idealisten und Humanisten, die es einmal
gegeben hatte. Auf der Treppe des Gerichts ahmte ich Tante Martha nach, trippelte wie er hinter
ihm her, hob den imaginären Damenrock; das war nicht bös gemeint, ich wollte,
74|indem ich ihn
imitierte, seine Gedan
99|ken lesen. Tante Martha vertrat amtlich öffentlich die Moral und ihre
Gesetze. Heuchelte er? Ich glaubte es nicht. Ihm war nur etwas gebrochen oder zerbrochen in
seiner Stadt, er fand sich und seine Wünsche frivol, oder der Zölibat hatte ihn weise gemacht
wie alte Priester. So kam ich vor ihn, und in Akten, Spionenberichten, Nachtragenschaft aus den
Rinnsteinen und den guten Stuben stand, er rebelliert. Gegen wen, und wo anfangen, und warum
nicht? Tante Martha war Macht verliehen, er hätte töten können, Herr der Erziehungsanstalten,
verderbende Folterkammern der Kinder im Land, doch gutherzig und angesprochen von Jugend und
nicht ohne Zweifel am Gesetz und der allgemeinen Sitte, behauptete sich seine Freundlichkeit,
seine Einsicht und Trauer gegen die ihm aufgepreßte Strenge. Ich erkannte in Tante Martha früh
schon den Außenseiter der Gesellschaft. Das gefiel mir sehr und gab mir Vertrauen. Da alle Welt
Tante Martha verhöhnte, spottete
98|das Kind nicht. Den Richter schlug das. Meine Akte blieb
liegen, fiel in die toten Schächte des Hauses. Spinnweb hüllte sie schließlich ein und die
manchmal gnädige Zeit.
40 Texte
Textgenese
Register
69|Die Deutschen Lichtspiele hatten mich immer schon angezogen, ihr
langer, am Tage schummerig zwielichtig träumender, am Abend und an den Sonntagnachmittagen
festlich erleuchteter Gang mit den schwarzen Ta
100|feln der Verkündigung zu erwartender Freuden, den
Werbeparaden, den Standbildern aus den Filmen, die vordem nie gesehene und unerreichbare
Menschenwesen in den lockenden glanzvollen Welten des Reichtums, der Lust, der Ferne, des
Überflusses und der Abenteuer, freilich auch der Schmerzen und Gefahren zeigten, einen Kosmos
voller Fortüne und Tücke, voll Fallgruben und Versuchungen, frühem und gewaltsamem Tod, aber
auch satt von Triumph und Götter
75|geschenken. Die grellbunten Jahrmarktsplakate der flimmernden
Spiele lockten mit überlebensgroßen, in einem fast nicht zu ertragenden Maß liebender und
hinsterbender Münder oder dem Dolch in der leidenschaftlich erregten, blutig aufgerissenen
Brust. Jeden Dienstag und Freitag wechselte das Programm, änderten sich die Ausstellungen und
die Vorankündigungen, und ich ging hin und betrachtete alles und sah mich verfolgt und am Ende
überlegen, ich
99|sprang auf fahrende Züge, von steilen Schornsteinen in die Gondel
vorüberschwebender Ballons, ich kämpfte mit Indianern, eroberte Land, rettete Frauen und
verzichtete auf den Dank, um als Gespenst in alten Schlössern die weiße Beute aus den Himmeln
der Betten zu heben, Glück zu haben, Gold und Millionen zu gewinnen, gehängt zu werden mit einem
Lächeln. Ich atmete gierig die dumpfe verbrauchte Luft, die durch den schwarzen staubschweren
Vorhang brach, die den Saal von dem Gang und dem kleinen Rokokokäfig der Kasse trennte.
101|Manchmal
war mein Verlangen zu schauen, was in der durch den Lichtstrahl des Bildwerfers magisch
erhellten Nacht vorging, so groß gewesen, daß ich meiner Mutter Geld gestohlen, mir aus Höfen
und fremde
nmmm
Erstausgabe (Suhrkamp) |
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Gesammelte Werke (Suhrkamp) |
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Lizenzausgabe (Volk und Welt) |
m |
Werke (Suhrkamp) |
m |
Speicherkram die Würde des erwachsenen Mannes, einen steifen Kragen, ein panzerfest
gebügeltes Vorhemd, einen zerdrückten Bürgerhut besorgt hatte, um in dieser Verkleidung als
ernster Mensch in das Jugendlichen verbotene schwarzweiße Paradies zu gelangen. Jetzt jedoch war
ich des Kinos
70| Gefangener, Herr Segebracht, der Besitzer der Deutschen Lichtspiele,
hatte mich auf meine Bewerbung hin angenommen, den Besuchern seines Theaters die Plätze
anzuweisen und für das Haus Besorgungen zu erledigen. Niemand fragte mehr, ob ich nun alt genug
sei, hinter dem schwarzen Vorhang zu verschwinden und den Schatten zu dienen. Ich brauchte mich
nicht länger mit einer Haltung gebenden Wäsche und abgetragenen Hüten zu
100|kostümieren. Am Abend
eilte ich mit einer Taschenlampe, deren Batterie ich nach Herrn Segebrachts
76|strenger Weisung
möglichst zu schonen hatte, durch die dämmerigen Reihen, Ariadne gleich, die durch das Labyrinth
führte. Aber Theseus war tot, ich hatte ihn nie vergessen, er hatte mich zum ersten Mal in die
erregende Welt der Zauberspiele mitgenommen, ich war sechs oder sieben Jahre alt, der Krieg war
ausgebrochen, und Theseus war unser möblierter Herr, doch von geringem Ansehen gewesen, kein
echter Zimmergast, kein Student
102|oder gar ein Dozent, er war nur Verkäufer in Erdmanns Warenhaus,
Substitut für Stoffe, wir hatten ihn besucht, ich hatte ihn mit der Elle in der Hand, die er wie
die Corpsstudenten das Rapir hielt, zum Stoß gegen einen unsichtbaren Feind bereit, vor dem
Ladentisch gesehen, ein Held wie Siegfried einer war, aber keiner außer mir hatte es bemerkt
oder anerkannt, daß er ein Held war und vor seiner Fahrt zum Minotaurus stand. Gegen Abend hatte
er leise an unsere Tür geklopft und gefragt, ob er mich mitnehmen dürfe in die Deutschen
Lichtspiele, und meine Mutter hatte es nicht erlauben wollen, ich hatte gebettelt und geweint
und geschrien, denn die Deutschen
LichtspieleLchtspieleLichtspieleLichtspiele
Erstausgabe (Suhrkamp) |
Lichtspiele |
Gesammelte Werke (Suhrkamp) |
Lichtspiele |
Lizenzausgabe (Volk und Welt) |
Lchtspiele |
Werke (Suhrkamp) |
Lichtspiele |
schienen mir ein Tempel zu sein, das Lockendste in
der Welt, der Schrein der Wahrheit, das alles erklärende Geheimnis, das die Erwachsenen mir
eifersüchtig vorenthielten, und daß Theseus mich mitnehmen wollte, war das unverhoffte Glück,
der entscheidende glückliche
101|Zufall der Märchen, es war die nur mir bestimmte und nie
wiederkehrende Gelegenheit, eingeweiht zu werden, und wenn ich auch nicht Pastor Kochs
theologisches Rüstzeug besaß, so fühlte ich doch, daß ich die Frucht vom Baum der Erkenntnis
essen würde. Theseus sagte zu
71| meiner Mutter, sie solle mich doch mit ihm gehen lassen,
er fühle sich einsam, es sei sein letzter Abend, er habe seine Einberufung bekommen, und meine
Mutter blickte ihn an, und ich weiß nicht, ob sie sah, wie er vor ihr stehend verschwand, sich
auflöste, einfach nicht
103|mehr da war und die Luft sich dahin drängte, wo er gestanden hatte, die
Luft nahm seinen Platz ein, als habe es ihn niemals gegeben, und so faßte er meine
77|Hand und ging
mit mir hinüber zu den Deutschen Lichtspielen. Wir schritten durch die leuchtende Pforte, gingen
durch den vielversprechenden hellen Gang, und Theseus kaufte zwei Logenplätze an seinem letzten
Abend in unserer Stadt, in der er Seide verkauft hatte und Barchent und andere Gewebe, und
setzte sich mit mir, einem Kind, das alles bestaunte und zum erstenmal die Wirklichkeit in der
Dunkelheit sah, in
demdemdendem
Erstausgabe (Suhrkamp) |
dem |
Gesammelte Werke (Suhrkamp) |
den |
Lizenzausgabe (Volk und Welt) |
dem |
Werke (Suhrkamp) |
dem |
kistenartigen Verschlag der Loge, ganz hinten im Saal. Wir bewunderten
bald einen großen, breiten, befehlenden Mann, der Hindenburg hieß und tausend Russen oder auch
hunderttausend Russen, fliehende insektengleiche graue Schwärme, in die masurischen Sümpfe
trieb, und eine Hand, eine Zauberhand, erschien auf der leuchtenden Vor
102|führfläche, hielt einen
Stift und zeichnete flink und begeistert den Kaiser mit Adlerhelm und Adlerblick und im
gezwirbelten gleichsam blitzenden Spitzen des Bartes in eherner Wehr und mit Stulpenstiefeln,
und er trat mit diese
mmnn
Erstausgabe (Suhrkamp) |
m |
Gesammelte Werke (Suhrkamp) |
n |
Lizenzausgabe (Volk und Welt) |
m |
Werke (Suhrkamp) |
n |
n blank gewichsten sporengerüsteten Stulpenstiefeln irgendwelchen
jämmerlichen Gestalten, die unsere Feinde waren, und Serb und Russ und Franzos und Brit hießen,
in die angstvollen Hosen, in die davonlaufenden Hintern, die sie sich dann hielten, jammernd und
in ohnmächtiger niedriger Wut.
Später erschien vom Lichtstrahl, der Sternenstaubbahn
104|aus der
Kabine des Filmvorführers gebracht, passenderweise, doch in anderer Landschaft oder Kulisse der
Tod im Bild. Der zivile Tod schritt mit geschulterter Sense bäuerisch ruhig über einen Acker,
der wohlbestellt, fruchtbringend und kein Schlachtfeld war. Trotz des Mähmessers wirkte der
ruhig über die Schollen schreitende Tod wie der vertraute Sämann der Fibel bei der Saat. Er trug
einen schwar
72|zen Schlapphut wie Pastor Koch, wenn der Seelsorger zu uns in die Stube
trat, uns zu ermahnen; nur das Knochengesicht des Todes gab sich freundlicher als Pastor Kochs
fleischiges Kinn. In dieser Nacht träumte ich schwer. Meine Mutter saß an meinem Bett und hielt
mich fest, während ich um
78|mich schlug und schrie. Es war
gradegeradegradegrade
Erstausgabe (Suhrkamp) |
grade |
Gesammelte Werke (Suhrkamp) |
grade |
Lizenzausgabe (Volk und Welt) |
gerade |
Werke (Suhrkamp) |
grade |
ein neues Wort in die Welt
gekommen und wurde gern und beinahe ehrfürchtig gebraucht, was sich später gab, als es zuviele
wurden, der Ausdruck Kriegerwitwe,
103|und ich meinte, meine Mutter schwarzgekleidet, über eine
Todesnachricht gebeugt zu sehen. Gegen wen kämpfte ich mich durch die Nacht? Am Morgen schon war
mir im Gedächtnis nicht der Tod, allein der Kaiser geblieben in all seiner Pracht und Stärke,
und bald sagte mir meine Mutter, daß Theseus gefallen war. Mich hatte er im Labyrinth der
modischen flimmernden Schatten in ihrem bald alltäglichen Landregen zurückgelassen. Die Schatten
weinten nicht um Theseus. Ich sah, ein Diener des Minotauros, der sich manchmal als Ariadne
fühlte, die Schatten zwei- oder gar dreimal am Tag und durch
105|schaute sie allmählich in ihren
stereotypenstereotypensterotypenstereotypen
Erstausgabe (Suhrkamp) |
stereotypen |
Gesammelte Werke (Suhrkamp) |
sterotypen |
Lizenzausgabe (Volk und Welt) |
stereotypen |
Werke (Suhrkamp) |
stereotypen |
Wiederholungen. Ich betrachtete die Scherzhaften, wie sie einander begegneten,
umeinander schwärmten, buhlten, sich liebten, täuschten, haßten, mit Sehnsucht oder Abscheu
immer ängstlich verfolgten, vor Verbrechen und selbst Mord nicht zurückschreckten,
umumbisum
Erstausgabe (Suhrkamp) |
um |
Gesammelte Werke (Suhrkamp) |
bis |
Lizenzausgabe (Volk und Welt) |
um |
Werke (Suhrkamp) |
um |
endlich
in der Gloriole der letzten laufenden Meter ein Mann und ein Weib, Held und Heldin, ein Paar mit
Aussicht auf Nachkommen und Fortbestand der wahren falschen Gefühle einander in die Arme sanken.
Vo
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Erstausgabe (Suhrkamp) |
r |
Gesammelte Werke (Suhrkamp) |
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Lizenzausgabe (Volk und Welt) |
n |
Werke (Suhrkamp) |
r |
all den andern Menschen, die sie umgaben, in der Handlung weitergebracht, ihnen Freude und
Kummer bereitet, Hindernisse in den Weg gelegt hatten, vielleicht auch freundlich gewesen waren,
sprach keiner mehr, ihr Tod und Opfer war vergebens und gerechtfertigt durch das Glück einer
höheren Klasse der Schatten. Arm in Arm, Mund auf
104|Mund, zweidimensional klebten der weibliche
und der männliche Star zusammen, das Markenzeichen eines Herrn William Fox, der sich beehrte,
sie darzubieten.
41 Texte
Textgenese
Register
73|Die Jungen vom Bahnhof, die kleinen futterneidischen Kofferträger, die
zänkischen Fremdenführer, die ich gemieden, die untertänigen Bürgerkinder der Schule, die ich
nicht ge
79|mocht, zornig oder glücklich verlassen hatte, kamen zu mir wie Lemuren in die Deutschen
Lichtspiele, bittend oder fordernd, und ich, ein Wächter des Hades, mit einem Amt betreut, ließ
sie heimlich durch den schwarzen Vorhang in das dunkle Myste
106|rium
diediedesdie
Erstausgabe (Suhrkamp) |
die |
Gesammelte Werke (Suhrkamp) |
des |
Lizenzausgabe (Volk und Welt) |
die |
Werke (Suhrkamp) |
die |
Styx überschreiten. Sie
mußten mit mir ringen. Nach Räuber- und Indianerstreifen, nach Sittenromanen und für Jugendliche
verbotene Dramen gingen wir in den Hof des Theaters zu den Müllkübeln mit den abgerissenen, im
Wind flatternden Plakaten der Filmkunst und zogen uns zu bösen Kämpfen aus, die nicht der Lust
entbehrten, Schmerz zu fürchten, die Muskeln des andern zu spüren, sein Herz in der Knabenbrust
am eigenen Pochen zu hören, den heißen Atem zu saugen. Auch das Fräulein von Lössin besuchte an
einem Nachmittag unser Kino. Es gab einen Film über Friederikus Rex zu sehen, der viel Zulauf
hatte und der Stadt sehr gefiel
,,.,
Erstausgabe (Suhrkamp) |
, |
Gesammelte Werke (Suhrkamp) |
. |
Lizenzausgabe (Volk und Welt) |
, |
Werke (Suhrkamp) |
, |
Friedrichs Siege waren unsere, seine Niederlagen vergessen, er
war ein Preuße, kennt ihr seine Farben, auch die Studenten kamen in Scharen und riefen Hurra,
und das
105|Fräulein von Lössin war hinten in der Loge, in der ich als Kind mit Theseus gesessen und
zugesehen hatte, wie man den Feind schlug und in die Sümpfe trieb. Noch schämte ich mich meiner
Erniedrigung, versteckte mich, machte mich klein, versuchte mit der Taschenlampe der Ariadne das
Fräulein von Lössin zu blenden und mich in Finsternis zu hüllen. Ich wußte damals noch nicht,
daß sie, von der ich annahm, sie sonne sich im Glanze des Königs und des Krieges, an einem
Erschlagenen litt, verscharrt hinter einem Hünengrab im Wald des verlorenen Gutes. Ich verfolgte
sie beharrlich, doch nicht, weil sie im Geruch der Feme stand, ich ging ihr nach durch die
Straßen, verbarg mich
107|in Hauseinfahrten, nutzte die Dämmerung; ich weiß nicht warum. Es
berührte, es betraf mich nicht, daß sie oder ihre Familie auf dem Gut waren, das Gut besaßen,
das nach den Erzählungen meiner Mutter meiner Großmutter gehört hatte. Eine lange Zeit
bil
74|dete ich mir ein, das Fräulein von Lössin zu lieben, es gefiel mir, ich empfand
80|Liebe in meinem Bett, rettete das Fräulein aus brennenden Scheunen, gekippten Booten, Wunen im
Eis, nahm sie von durchgehenden Pferden, begehrte keinen Lohn, weder das Gut noch sie, die
verehrt wurde von den hochnäsigen Corpsstudenten, den brutalen Söhnen einer geschockten
Gesellschaft. Einst folgte ich ihr und ihrem grünbemützten Beschirmer in ein
Universitätsinstitut, erwartete, daß sie sich küßten, was vor einem meterhohen Glasbehälter
106|geschah, in den Kaninchen und Mäuse zu großen Schlangen in einen für sie ausweglosen Raum getan
waren, sich aber dort nicht fürchteten, ihr nahes Ende nicht ahnten oder nicht begriffen, sich
ganz gewöhnlich benahmen, ohne Entsetzen, ja sich in den Körperwindungen der Schlangen putzten,
weder Ekel erkennen ließen noch Panik. Erst als das Fräulein von Lössin, sechzehn Jahre alt,
mich, den sie nicht kannte, allenfalls als ihren unwürdigen Verfolger, durch den Glaskasten des
alptraumgleichen Todes erblickte, erschrak sie und stieß den akademischen Mützenträger zurück.
42 Texte
Textgenese
Register
108|Durch die Lange Straße ging der Trauerzug, zwölf Särge auf Lastwagen gestellt und einer
stellvertretend für alle auf den Trauerwagen des Fuhrunternehmers mit Pferden in schwarzen
Talaren und schwarzen Vorhängen am Gestänge, der Gefallene lag wie in einem schwarzen Himmelbett
und auf ihm, wie auf den anderen auf den Lastwagen, die Kränze mit den roten Schleifen, die
Genossen den Genossen, die städtische Beerdigungskapelle spielte Unsterbliche Opfer ihr sanket
dahin, und sie trotteten schweigend hinterher und unbewaffnet und nicht einmal mit Stöcken
versehen, nur mit Fahnen einige, mit roten und den gestickten und verzierten der
Arbeitervereine, die Lange Straße war auf den Bürgersteigen unbegangen, vor den Geschäften waren
die
107|Rolläden herabgelassen, es waren nicht zu sehen die Far
81|bentragenden, die Zeitfreiwilligen,
die Schwarze und die andere Reichswehr, die Kappleute mit dem Totenkopf und die aus dem Baltikum
mit dem Hakenkreuz.
43 Texte
Textgenese
Register
75| Anderntags war die Straße voll von Flanierenden, die Gymnasiasten
und die Schülerinnen des Auguste-Viktoria-Lyzeums hatten sich schwarzweißrote Schleifen
angesteckt, die Studenten trugen Couleur, traten in Korporationen auf, alle Läden waren
geöffnet, die Geschäftsleute lächelten, man begrub mit Tschindera und Paukenschlag den von einer
verirrten Kugel getroffenen Zeitfreiwilligen, und die Reichswehr ging hinterher
109|mit dem
Ehrengewehr, die Studenten folgten, und Magnifizenz reihte sich ein in seinem Ornat.
44 Texte
Textgenese
Register
Sie hatten ihn erschlagen, sie hatten ihn im Wald erschlagen, er hatte um Hilfe geschrien, vielleicht hatte
er auch nicht um Hilfe geschrien, denn er wußte ja, daß alle Ohren taub waren und einer hatte
einen Spaten, einen Feldspaten mit kurzem Stiel, die Waffe, die die
GeneräleGeneräleGeneraleGeneräle
Erstausgabe (Suhrkamp) |
Generäle |
Gesammelte Werke (Suhrkamp) |
Generale |
Lizenzausgabe (Volk und Welt) |
Generäle |
Werke (Suhrkamp) |
Generäle |
überrascht hatte, mit der die
GeneräleGeneräleGeneraleGeneräle
Erstausgabe (Suhrkamp) |
Generäle |
Gesammelte Werke (Suhrkamp) |
Generale |
Lizenzausgabe (Volk und Welt) |
Generäle |
Werke (Suhrkamp) |
Generäle |
nicht fertig geworden waren, die den Krieg entschieden verloren oder
gewonnen hatten, sie konnten den Spaten am Koppel tragen, und sie trugen ihn gern am Koppel,
auch als sie nicht mehr dazu gezwungen waren den Spaten am
108|Koppel oder sonstwo zu tragen, und
sie hätten gehen können, wohin sie gewollt hätten, auseinanderlaufen, von der Fahne fort, die es
schon lange nicht mehr gab, aus der erzwungenen Gemeinschaft weg, vom Regiment des Todes, aber
sie wollten nicht auseinanderlaufen, nicht von der Gemeinschaft weg, vom Tod und dem Befehl, sie
fürchteten, ihre Körper könnten verlorengehen in der Freiheit, hinweggezaubert werden, plötzlich
nicht mehr da sein, sie brauchten ein Koppel um den Leib und ein festes Schloß mit Gott für
König und Vaterland oder nur mit Gott mit uns,
82|und einer schlug mit dem Spaten auf ihn ein, von
hinten, sie hatten ihn vorangehen lassen, sie trotteten durch den
110|Wald, der eine traf seinen
Hinterkopf gut und von hinten, dann fiel er, fiel auf den Waldboden, fiel in das Eichenlaub das
Lindenlaub die Buchenblätter das Birkenholz, er schmeckte noch das Moos, bitter, und vielleicht
hätte er
76| Kresse gemocht zum Karpfen oder zum Heilbutt, wenn er Pastor geworden wäre
wie er Pastor hatte werden wollen, am Karfreitag oder am Heiligen Abend nach dem heiligen
Abendmahl nach der Predigt, und sie drehten ihn auf den Rücken und traten ihn mit ihren
genagelten Marschstiefeln, die zurückmarschiert waren von Verdun, Brest-Litowsk und Gallipoli,
sie marschierten vorwärts mit ihren genagelten Marschstiefeln in sein Gedärm hinein,
zerquetschten seine Brust, stampften die Marschnägel der Knobelbecher auf seine Augen, bohrten
die metallbeschlagenen Stiefel
109|spitzen in seine gespaltene Stirn, sahen schließlich, was sie
sehen wollten, sein Hirn, begriffen nichts, blickten stumpf auf graue Zellen, auf den Abfall
eines Menschen, der gehabt hatte, womit sie nicht gesegnet waren, Einmaligkeit, Verstand, ein
Herz, eine Zunge zu reden, den Glauben an die Unsterblichkeit seiner Seele, der mutig gewesen
war, nicht nur vor Verdun, nicht nur auf Befehl, den der Tod geschmerzt hatte, wo er ihn
erblickte, der Verwundungen erlitten hatte, sichtbare und unsichtbare, und der in sich
gespeichert hatte die Schätze seines menschlichen Erbes, Bibliotheken von Ephesos, von Babylon,
von Alexandria, die Bergpredigt, die Freiheit eines Christenmenschen im
111|Pfarrhaus besprochen,
die Menschenrechte aller Menschen, die lateinische die griechische die hebräische Sprache,
Tolstoi im Wintersturm ein armer Bauer auf Jasnaja Poljana und der ferne Sturm der O-Mensch-Rufe
an Berliner Kaffeehaustischen, und dann gruben sie ihn ein, wozu hatten sie den Spaten, sie
mühten sich nicht sehr, sie höhlten das Loch mit dem blutbeschmierten Eisen, oberflächlich, sie
hatten nichts zu fürchten, sie fluchten nur über die Wurzeln
83|der Bäume, die sie hinderten, sie
hackten mit dem Spaten in die weitverzweigten Wurzeln hinein, sie gaben seinem Leichnam den
letzten Tritt in die Grube, sie scharrten ihn zu. Hier lag ein Hünengrab. Ein Fuchs fand sein
Fleisch. Oder ein Eber. Er war ihnen zu mager.
45 Texte
Textgenese
Register
110|Er lag im Wald verscharrt, bis sie ihn ausgruben und auf den Seziertisch der Anatomie legten, auf die ekle Gummidecke,
77| auf die naßkalte
feuchtschnauzige Haut eines Frosches, auf das algenglatte schneckenschleimige gänsefrostweckende
geschundene Kleid einer Schlange oder eines anderen Reptils, vor dem ihm gegraust hatte, wenn
sie die Kröte oder den Salamander oder die Blindschleiche in seine Schulmappe getan hatten, und
das Gelächter dann als er nach dem Geschichtsbuch gegriffen, die Siege, die Niederlagen, die
Könige und all die Erschlagenen, der Institutsdiener konnte das Tuch mit einem Strahl aus dem
Wasserleitungsschlauch abspülen wie er die Hinrichtungsstätte in einem Zuchthaus ab
112|spritzte,
seine Nebenbeschäftigung, nach dem Urteil, nach dem Gebet, nach der Exekution, die nach den wohl
ausgedachten Regeln der kaiserlich-republikanischen Hinrichtungsordnung geschah, feierlich und
unsagbar schäbig, nach einem Protokoll wie beim Besuch von Majestäten, nicht von Präsidenten,
blank gebürstete Zylinderhüte waren der Gattinnen Stolz, belebten Erinnerungen an den Traualtar
und das legitime Bett und die Hoffnung auf ein honoriges Begräbnis, Orden zeigten, daß man wer
war und daß man nichts war, nur daß man oben saß und mächtig blieb und allen Feinden trotzte,
den Vorgesetzten ein Diener, oder doch teilhatte an der Macht, zumindestens, sie trugen
urgemeine erzverschlagene gründlich habgierige verlogene Gesichter, spritzt ab das
111|Blut, spült
fort die Leibesnot, hinweg mit dem schüchtern im Hals würgenden Mitleid und ins stinkende
chlorende Abflußrohr das Gebot, du sollst nicht töten, auf das sie sich beriefen wenn sie das
Beil fallen ließen, und sie öffneten diesen Leib, soweit er
84|noch nicht geöffnet war, ihre
Gummihände und ihre Skalpelle bastelten bohrten sich den Weg, sie wollten lernen, sie lernten
zu, ihr Herz schlug, ich hoffe es, unter der Gummischürze, schlug es wirklich, es schlug
versteckt, sie hörten es selber nicht, es war fest eingewickelt von erhebenden Gefühlen, es war
gepanzert mit falscher Geschichte, es war, sie lobten es selbst, ein Herz aus Kanonen- und
Granatenstahl und, wie sie und ihre Väter dachten, bewahrt vor Versuchungen, die
113|vielleicht doch
kommen mochten, eines Tages, zu unvorhergesehener Stunde, in der Nacht, nach dem ersten Schlaf,
78| oder auch am Mittag, wenn man müde war vom Essen und vom Bier, dies Herz war
isoliert vom immerhin kommunizierenden Strom der Welt, entzogen einer Brüderlichkeit die sein
sollte, sie lernten von ihm, der nun kälter war als die froschige Unterlage als die wärmelose
Gummihaut über ihren Händen als der feste Gummipanzer ihrer Schürzen, fühlloser nun war unter
ihrem Messer als die kühlen Klingen, sie lernten schnell, daß man sich so nicht verhalten durfte
wenn man vorankommen wollte im Leben, und sie wollten vorankommen, nicht so wie er, und sie
billigten es, daß man es so wie er nicht durfte, sie waren sehr zufrieden, daß es so
112|übel
ausgegangen war, denn sie sympathisierten offen mit seinen Mördern, Beflissene der Medizin,
Kandidaten der gerichtsmedizinischen der vereidigt sachverständigen Karriere, Nachwuchs,
Schondavongekommene, die nicht wußten wie davonkommen und sich benachteiligt fühlten gegen die
Toten, sie schätzten feldgraue Joppen über zu eng oder zu weit gewordenen Zivilhosen oder
umgekehrt feldgraue ausgebuchtete Breeches, das Gesäß mit Leder besetzt, verschwitzt und
blankgerieben, und das Pferd war tot, war zerfetzt auf dem Ausflug geblieben, oder das Pferd war
immer nur ein Traum gewesen, zu bürgerlichen Jacken die im Schrank gehangen hatten oder vom
Bruder, für den es keine Auferstehung gab, geerbt waren, Heimgekehrte
114|aus dem Kriege,
Überlebende von den Leichenfeldern fern hinter dem Horizont, Gespen
85|ster vom Toten Mann, ins
Väterreich zurückgekrochen, in die Väterlüge eingelullt, in die Väterschuld aufgenommen,
gemeinsam haftend, freiwillig wie eh und je, verhärtet, zornig, aber zornig gegen wen, sie
blickten zurück auf so viele Tote, daß sie nicht sahen wie tot die geretteten oder die niemals
gefährdeten, die wieder gewonnenhabenden Alten waren, die sie hinausgeschickt hatten zu sterben,
und sie krochen zu Kreuz und waren sich ihrer Unterwerfung nicht bewußt, der Vergeblichkeit
müde, des Lebens müde, nicht des Todes müde, allem aber nicht mehr der Wahrheit gewachsen,
Geschlagene (doch nicht im Feld) und bis zum Lebensende Betäubte
113|von den leeren Gesängen, von
den dröhnenden hohlen Trompeten, von den
79| dröhnenden aufgeblasenen Trommeln, von den
dummstolzen Worten, den windeiernden Lehren, die sie hatten leiden lassen, es war gelungen, es
war vollbracht, sie glaubten nun an diese Welt der Alten, die sie nicht verteidigt hatten und
doch stützten, sie beugten sich gierig unter das Joch von dem sie ausgezogen waren in
Wandervogeltracht und auf der Straße nach Langemark, Burschen der Burschenschaft, Brüder der
Corps, dachten: das Schwein, dachten dies ist sein Leib, studierten was sie vor sich sahen, was
von ihm übriggeblieben war, vorläufig, waren angewidert, wünschten sich ein Bier, tief in die
Kanne gestiegen, und der Chef Alter Herr des Corps oder der Burschenschaft
115|und seiner Bänder
Jugend kahles Reis dachte wie sie: ihm ist Recht geschehen, und er erzog sie nach seinem großen
Vorbild, kleine heranwachsende Chefs, wenn sie Glück hatten und sich brav verhielten und
untertan blieben
derder
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der |
Lizenzausgabe (Volk und Welt) |
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Werke (Suhrkamp) |
der |
wahren, der unzerstörbaren Macht, die wohl das Gesicht wechselte aber nicht
die Gesinnung, und der Prosektor dachte: rechtgeschehen, und er dienerte, Chef zu werden, und
sie waren voll Verachtung für den Toten und voll Eifer für die Lebenden, sie schrieben mißmutig
den Befund, den der Staatsanwalt, einer Meinung mit ihnen, mißmutig empfing, sie taten sein
Skelett nicht in das Glasspind ihrer Sammlungen, er hatte zu viele
86|gebrochene Knochen, zu viele
zerschossene ver
114|wachsene Knorpel, die das Eiserne Kreuz bedeckt hatte, es war auch zu viel der
Ehre für ihn, wer ein Bein haben wollte oder den Arm oder den Kiefer nahm das Glied mit, legte
es auf den Nußbaumschreibtisch im möblierten Zimmer unter die schwarzweißrote oder die
Stahlhelm- oder die Hakenkreuzfahne, vergaß es abzustauben.
46 Texte
Textgenese
Register
Ich hörte die Schüsse, die Detonation der Handgranaten, entfernt, über Straßen, Höfe, spitze Dächer, Stadtgärten mit Blumen
und Obst, Echo hallte nach, zerbrach am Himmel, senkte sich wie ein Zelt, rauschte über mein
Bett; sie kämpften am Markt, kämpften in
116|der Langen Straße, kämpften am
80| Armenhof,
wehrten sich vorm Gewerkschaftshaus, sie verloren.
47 Texte
Textgenese
Register
Im photographischen Atelier hatte sich die junge Liebhaberin aufnehmen lassen, im Glaszelt nah dem Himmel, die vergilbten weißen Vorhänge
spielten Licht und Schatten, der Meister verkroch sich im schwarzen Sack, sah die Liebliche
kopfstehen, rückte ihr näher mit dem Kasten aus Messing und Holz, sah sie scharf, ließ den
Kuckuck raus, sie hing mit Kirschen am schwellenden Mund in einem Schaukasten, Wolken hinter
sich, ein Engel albernen Gesichtes, unter den Hochzeitspaaren erstarrt in der Furcht des
Ehestandes, unter den Konfirmanden in den Altmänneranzü
115|gen, den zu weiten gestärkten Kragen,
einen schwarzen Sargträgerhut in der Hand, die sich verstecken möchten, das unnütze Glied steif
in der kratzenden Hose.
48 Texte
Textgenese
Register
Die Handgranaten hatten das Atelier zersprengt, und im Schaukasten waren hinter dem zersplitterten Glas den Photographierten die Glieder weggerissen, manchen
der Kopf oder der ArmKopf oder Armder Kopf oder der Armder Kopf oder der Arm
Erstausgabe (Suhrkamp) |
der Kopf oder der Arm |
Gesammelte Werke (Suhrkamp) |
der Kopf oder der Arm |
Lizenzausgabe (Volk und Welt) |
Kopf oder Arm |
Werke (Suhrkamp) |
der Kopf oder der Arm |
, und das Mädchen hatte einen Teil seines
87|Mundes verloren
,.,,
Erstausgabe (Suhrkamp) |
, |
Gesammelte Werke (Suhrkamp) |
, |
Lizenzausgabe (Volk und Welt) |
. |
Werke (Suhrkamp) |
, |
so daß die Kirschen nun zwischen den halbierten Lippen wie in einer Wunde hingen und den Ausdruck der Albernheit ins
Gepeinigte verwandelten.
49 Texte
Textgenese
Register
Die Bilder der Schauspieler auf einen Karton geklebt im Schaufenster des Zigarrengeschäftes: der Mann im
117|Abendcape, das weiße Futter seines Mantels geschwungen wie
Fledermausflügel, das Monokel im Auge, den Zylinderhut schräg aufgesetzt, einen Stock mit einem
goldenen oder silbernen Griff wie zum Taktgeben oder zum Totschlagen erhoben.
50 Texte
Textgenese
Register
Der Gang war rötlich linoleumbedeckt feucht vom Aufwischen mit feuchten Tüchern roch nach Petroleum und
Karbol entflammbare Luft durch die er lief in grüngelb blauro
81|ter Iris blühendes Gezücht
es kribbelte die Beine hoch die Feuertür war nicht gesperrt führte in den Dachstuhl der
116|Stadthalle Tanzabend Ballettabend Schlagernacht die Sterne von Film und Funk verehrliche
Gastspieldirektion der berliner Hillermillerzillerrevue tausend süße Beinchenweibchen im großen
Stadtsaal auf der Wahlrednerbühne der vaterländischen Gesänge im Giebel die Garderoben er beugte
sich hinunter erniedrigte sich wie er wußte gab sich nach ergab sich Gottes Willen verstohlen
schaute sich um guckte durchs Schlüsselloch der verschlossenen Tür sah die Reihe der
Schminktische die Spiegel die Glühbirnen eingefangen hatten die Spiegel kleine Monde Leibteile
Rißgesichter er roch die fallengelassenen Schlüpfer die über den Kopf gezogenen Spitzenhemden
die Leibchen die Halter für Brust und Strumpf über die Lehnen der Brauereistühle gelegt auf den
Boden geworfen saßen sie
118|reckten sich strampelten verfingen sich mit bloßen Füßen in abgetanen
Gewändern den anzuziehenden Tütüs und Flittern die berliner Mädchen nackt bis zu den Binden das
Geschlecht hervorhebend in
88|der Verpackung ihre Binden schnitten ihm in den Schritt er malte die
unter Mull und Gaze gepreßten Haare er hatte sie noch nie in Natur gesehen befeuchtet von ihrem
Blut und Saft und Lack auf der nassen Scheide in Döderleins Atlas der Gynäkologie in der
Universitätsbibliothek aufgeschlagen im Lesesaal der Handbücherei entnommen dem Regal Medizin
auf der grauen Eisengalerie gelochte Stufen schalltragende Platten über die er ging wie im
Maschinenraum eines Dampfers und hielt den
117|Döderlein in Händen die ein wenig zitterten errötete
Döderlein wußte Bescheid kannte sich aus sah das weibliche Menschentier gesund und meist krank
klammerte die Schamlippen auf ließ nichts verhüllt öffnete den strotzenden Bauch zeigte das Kind
in der Höhle gekrümmten Homunkulus oder wie der Mensch schon in die Welt fiel den Kopf das kahle
Greisenhaupt voraus greinend wohl oder mit dem entsetzten ersten Schrei oder gar in die Zange
die der Arzt spreizte um den Schädel hakte zupackte und ein Bürger mehr kein Kretin kein Genie
vielleichtvielleichtvielleichvielleicht
Erstausgabe (Suhrkamp) |
vielleicht |
Gesammelte Werke (Suhrkamp) |
vielleich |
Lizenzausgabe (Volk und Welt) |
vielleicht |
Werke (Suhrkamp) |
vielleicht |
ein Ärgernis ein Stotterer prenatal traumatisiert und vor dem
82| Schlüsselloch
in der Tür sein Auge und hinter der Tür und durch das Loch gesehen die berliner Girls ihre
dicken kurzen Schenkel ihre dünnen mageren Hinterhausbeine rachitische Knollen
119|an den Gelenken
die englische Krankheit Krieg Hunger und Kellerjahre aber die Haut weiß von durchschnittlich
zwanzig sie puderten ihr Fleisch die Quaste wischte über den vorgewölbten Leib ein Tupfer Rouge
auf die Brustspitze oder sie rieben sie kreischten kicherten berührten sich sangen komm mein
Lieschen Lieschen Lieschen Pagenköpfe Kätekrusepuppen dauergewellt schon brüchig das gebleichte
Haar blieb im Kamm wurde ausgezuzzelt deckte den Boden haftete an den nackten Sohlen Wasser
rauschte Spülung der Toilette näßte bohrte den Nacken auf das Rückgrat hinab Härte löste sich
Schmerz ging wie ein scharfes Messer hinter die Stirn das Auge müd es schrillte die Glocke im
118|Hennenhof Auftritt der tausend Beinchen Parademarsch die berliner Luft Luft Luft er lief
89|über
den Flur zurück durch die Feuertür den Notausgang erreichte den Stadttheatertrakt kam in die
Garderobe der Anfänger der Kleindarsteller Spiegel Schweiß und Leichners Fettschminke Göbel
stand da in langen Unterhosen er verachtete Göbel langer Fuß lange Zehen phallisch erregt du
mußt dich jeden Tag waschen Tag für Tag und sei es in einem Blechkübel den ganzen Körper es ist
das mindeste das ein Mädchen verlangen kann Göbel sah es hygienisch sein schwarzer Scheitel
glänzte werbend ein hübsches trübes Lächeln er hatte Erfolg bei den Damen er schlief sich durch
es war ihm egal ob sie sprechen konnten jung schön waren oder nicht
51 Texte
Textgenese
Register
120|An anderen Abenden besuchte ich das Theater. Wenn meine Mutter nicht allzu niedergedrückt war, nannte sie mich einen
Premierentiger. Sie mußte diesen Ausdruck in irgendeinem Buch gelesen haben, und sie gebrauchte
ihn mir gegenüber spöttisch, doch auch mit etwas Verwunderung, in der eine schwache Hoffnung
lag, daß ich mich, sie wußte nicht wie, und es wäre ein Wunder gewesen, von dem Elend unserer
Verhältnisse entpuppen und zu einem hohen
83| Flug erheben würde. Dieses Wort und die
Anschauung meiner Mutter ärgerten mich. Ich stellte mir eine Vogelscheuche vor wie auf dem
Umschlagbild des »Junggesellen« oder der »Eleganten Welt«, einen
119|Herrn im Frack mit einem weiß
und rot gefütterten Cape, einem Zylinderhut auf brillantineglänzendem Haar und einem Gesicht,
das man nach den Schafen nannte, die dieses Gesicht niemals zeigten, ein Ignorant, der aus
gesellschaftlichen Überlegungen in das Theater ging, und dieser Gedanke war mir so zuwider, daß
ich seinetwegen alle Theater hätte in die Luft sprengen mögen. Später erfuhr ich allerdings, daß
meine Mutter während dieser Zeit Briefe geschrieben hatte, in denen sie sich bitter beklagte,
daß ich einen schönen Winter verbringe
90|und am Abend ins Theater ginge. War dieser Winter schön?
Er war kalt und mich hungerte. Im Theater hatte ich Anspruch auf eine Freikarte, ich hatte
diesen Anspruch durchgesetzt und er war eine Art Gewohnheitsrecht geworden, das ich immer wieder
verteidigte, wenn es mich auch wun
121|derte, daß es überhaupt anerkannt wurde. Ich betrat das
Theater durch den Porticus aus Sandsteinsäulen, die auf die klassische Herkunft aller Bildung
hinweisen und vielleicht auch gelegentlich an die Geburt der Tragödie erinnern sollten. Die
Säulen waren von Kugeleinschlägen aus den Kämpfen zwischen den Zeitfreiwilligen des
Kapp-Putsches und den streikenden Arbeitern durchlöchert und zerschrammt. Diese Beschädigungen
waren noch offene Wunden. Verteidiger und Feinde der Republik waren an dieser Stelle gefallen,
doch die Zuschauer des Theaters waren in ihrer Mehrheit geneigt, nur den Tod der jungen Leute,
die die
120|Republik und ihre verhaßte Fahne abschaffen wollten, heldisch und tragisch zu nennen.
Die anderen waren vergessen wie ein unangenehmes, ein höchst peinliches Ereignis, und ihre
Angehörigen gingen nicht in das Theater, es sei denn, daß Lenz in das Theater ging, der auf der
Seite stand, die gesiegt und verloren hatte. In Wandervogeltracht blickte Lenz vom zweiten Rang,
vom Olymp auf seine Widersacher hinunter, aber sie fanden es garnicht mehr nötig, zu ihm
aufzusehen: sie zählten ihn zu den Toten. Die Kassenhalle aus nachge
84|machtem Marmor gab
dem Theater das Ansehen eines öffentlichen Bades. Ich war jedesmal erregt und niedergeschlagen.
Die Aussicht auf das Schauspiel beflügelte mich, aber die sichere Vorahnung der Enttäuschung
drückte mich nieder. Zwischen den kalten Wänden wärmte wohl Theaterluft, aber sie versprach
nicht mehr als sich selbst, ein
122|bürgerliches Spektakulum. Ich wandte mich zum Kassenschalter,
ängstlich im Herzen, hochgemut im Gesicht, ich blickte Fräulein Mannhart, die hinter der
Kassiererin stand und die Verteilung der Freikarten überwachte, fest und fordernd an und war
über
91|zeugt, daß sie mich nicht mochte. Zuweilen biß sich mein Blick in ihren Zügen fest, nicht
feindlich, ich hatte nichts gegen Fräulein Mannhart und wollte sie nicht verletzen, aber der
Gedanke, daß sie mir etwas antun konnte, ließ sie mich neugierig betrachten, denn die Neugierde
auf ihr Leben, die ich in Wahrheit garnicht empfand, führte von meiner Person fort
121|zu ihr, und
ich suchte in ihrem etwas teigigen fraulichen Gesicht die Wahrheit des Klatsches, der über sie
im Theater verbreitet war, und ich fragte mich, warum Emanuel mit Fräulein Mannhart geschlafen
haben sollte und nun in seinem Büro Eifersuchtsszenen von ihr erdulden mußte. Nie kam mir der
Gedanke, daß Fräulein Mannhart leide. Ihre vielbesprochene Affäre langweilte mich, aber vor dem
Kassenschalter, wenn ich meine Karte forderte und in dieser Hinsicht von Fräulein Mannhart
abhängig war, fand ich ihren Anspruch auf Emanuels Treue lächerlich, ja, daß er sie überhaupt
beachtet haben sollte, schien mir so unwahrscheinlich, daß ich in ihren trübe schimmernden Augen
Irrsinn zu lesen glaubte, und der Klatsch kam mir wie ein von ihr, weil sie ja wahnsinnig war,
verbreitetes Märchen vor. Fräulein Mannhart warf mir meine Karte zu, widerwillig, und wie über
meine
123|Existenz empört. Ich ging durch die Flügeltür in das Foyer, der noch leere Zuschauerraum
lag hinter den offenen Türen wie eine dämmrige Höhle da und versprach Zuflucht. Ich floh nicht.
Ich nützte den Schatten nicht. Ich war nicht unschuldig. Ich war mir meiner langen, nie
geschnittenen Haare, meines zerrissenen, meines schmutzigen, meines einzigen Anzuges,
85|
seiner geflickten Ärmel, der zu kurzen und ausgefransten Hose, meiner bis zum Oberleder
schiefgetretenen Absätze und der Löcher in meinen Schuhen bewußt, und ich stellte mich an den
sichtbarsten Punkt des Wandelganges, wo
122|meine schäbige Erscheinung von drei Spiegeln
multipliziert wurde, wie ein nicht zu übersehendes Mahnmal hin. Dieser Standort erlaubte mir,
die Theaterbesucher zu beobachten sie zu irritieren und zu verachten.
92|Da kamen die
Geschäftsleute, die Ladenbesitzer, unsere Gläubiger, die den beliebten Schauspielern Freßkörbe
schickten, weil dies Mode geworden war in der Stadt und sie sich, wurde der Korb auf der Bühne
überreicht, als Mäzene der Kunst fühlen konnten, nach fettem Abendbrot im Sonntagsstaat, und
ihre Damen versuchten, durch Schmuck und Kleiderpracht die Frauen der Professoren in der Gunst
des öffentlichen Ansehens zu schlagen, ein Kampf, der nicht gewonnen wurde, denn die
Angegriffenen der akademischen Gesellschaft hatten sich in taubengraue Schlichtheit gehüllt, in
Tarnkleider, die ihre Mittellosigkeit in bare Vornehmheit verwandelten. Ich musterte sie streng,
124|aber ich hoffte, das Fräulein von Lössin zu sehen. Dem Fräulein von Lössin galt meine
Herausforderung, die ich mit Herzklopfen aufrecht hielt. Da sie noch nicht kam, vielleicht
überhaupt nicht kommen würde, amüsierte ich mich über die beiden Theaterkritiker der Stadt, über
den Oberlehrer, der für die deutschnationale Zeitung arbeitete, und nicht weniger über den
Volksschullehrer, der für das sozialdemokratische Blatt die Rezensionen schrieb. Beide kamen sie
mit ihren Gemahlinnen gegangen, unter deren Fuchtel sie standen, die sie aber im Theater in
seltsamer Verblendung wie
123|kostbare Beutestücke am Arm führten, beide schritten sie wie beliebte
Klassikerbüsten, die ins Wandeln geraten waren und über zu engen Schwalbenschwanzröcken die
Gesichter in strenge Falten aus vergeistigtem Gips gelegt hatten. Sie waren beide beachtliche
Dummköpfe und pflegten den gleichen Geschmack, verehrten auch beide über alle Maßen die
Salondame, Fräulein Danata, waren aufeinander eifersüchtig und hatten ihretwegen zu Hause die
Hölle, doch da sie meinten,
86| nach berühmten berliner Vorbildern es sich schuldig zu
sein, gegeneinander polemisieren zu müssen, produzierten sie nach jeder Premiere die seltsamsten
Hirngespinste, denn da sie ja nicht miteinander sprachen und nicht wissen konnten, was der
andere sich diesmal ausdenken würde, führte sie ihre
93|Beschränkung dazu, zur eigenen, zu späten
Überraschung dieselbe Meinung drucken zu lassen, die nicht die ihre
125|war und die sie sich
mühevoll zusammengebraut hatten, um originellerer Ansicht als der verachtete Gegner zu sein. Nur
im Lob des Weibes waren sie sich herzlich einig und steigerten sich wechselseitig zu den
überschwenglichsten Hymnen, so daß die Theatergemeinde allmählich fürchtete, und nur wenige
hofften das sogar, daß ein Stern wie Fräulein Danata ihnen nach Berlin verloren gehen könnte. Da
kam sie, sie war da, war großes Theater, herrschte in der finsteren Provinz dieses Foyers,
leuchtete blond, das Fräulein von Lössin, ich glaubte, sie zu erkennen, ihren bornierten
124|Gang,
ihre hochnäsige Haltung, ich folgte ihr zur Mantelabgabe, in einiger Entfernung, klopfenden
Herzens und dringlich zugleich, ich stellte mich ins Licht, Lohengrin, verkannt und schäbigst
gekleidet, hochnäsig auch wie sie, und dann sah ich, daß die Person, die mich so anzog und
erschreckte, schwarze Haare hatte, fremdländisch schwarz, zigeunerschwarz, so schwarz, daß das
Schwarz blau schimmerte, es war Baudelaires Göttin, die den Mantel ablegte, das Phantom der
Chevelure, nicht sie, das Fräulein vom Bottnischen Meerbusen, es war nicht zu denken, sie habe
sich das Haar gefärbt, den Kamm, die Bürste in einen Topf voll Lack getaucht und sich Trauer
über die hellen Strähnen gemalt, und doch war sie es, das Fräulein von Lössin, nicht Baudelaires
schwarze Magie, und ich war es, der sie verfremdete, dunkel färbte, in die Urwälder setzte, sie
in die Tropen des Dichters übertrug, nicht weil ich sie in solcher
126|Verkleidung erregender
gefunden hätte, ihr blondes Haar band mich fester als das indische Seil, aber vielleicht war
meine Täuschung der Wunsch, daß sie nicht sie selber sei, oder es war ein Versuch, ihren Hochmut
zu brechen, diesen dummen Rittergutsbesitzerstolz, denn
87| schwarz, zigeunerhaft,
tropisch dunkel war sie heimatlos und entkleidet, ein Geschöpf der Einbildung, eine mir
verfallene Beute, ich konnte auf sie zugehen, sie in die Arme schließen, sie auf
94|dem Tisch der
Garderobe schwächen, hier unter all den entsetzlichen Leuten, aber nein, es brauchte nichts mehr
gesagt und
125|getan zu werden, ich war stumm und bewegungslos, und die Schwarze blieb stumm und
rührte sich nicht, und alle Worte waren tot, und Schweigen allein brachte uns zusammen, vereinte
uns vor dem Theater, wir verschmolzen als die Glocke zur Vorstellung läutete, der Couloir sich
entleerte, und sie ging und sah mich nicht sehend und enteilte mir, da war schon ihr Vetter, das
blaue Band um die Brust, die hellblaue Mütze in der Hand, hoch und vor den Leib gehalten, das
Corps Pommeriana, der zerhackte verschmißte Mund, ein Georges-Grosz-Gesicht, das Fräulein von
Lössin nahm seinen Arm und war blond und elfisch auf eine liebliche und sehr unangenehme Weise,
ein Wasser- oder Luftgeist aus nordischer Sage und schon von einer Zukunft bestrahlt, die Frau
Landrat oder Frau Regierungspräsident hieß und den Vorstand im deutschnationalen Frauenverein
oder im Luisenbund bedeutete,
127|und ich dachte an Flucht aus dieser Stadt, aus diesem Land,
Flucht, Flucht, und ich folgte gehorsam dem Schauspiel.
52 Texte
Textgenese
Register
In meiner Stadt war ich allein. Ich war jung, aber ich war mir meiner Jugend nicht bewußt. Ich spielte sie nicht aus. Sie hatte keinen
Wert. Es fragte auch niemand danach. Die Zeit stand still. Es war eher ein Leiden. Doch gab es
keinen, der mir glich.
Ich trieb mich herum. Ich war unterwegs. Ich
126|war auf den Straßen und
Plätzen. Ich fiel überall auf. Ich hatte kein Ziel. Ich stellte mich mitten auf den Markt. Ich
war unnütz; das gefiel mir. Ich genoß es, auf dem Markt zu stehen. Einfach nur so. Ich hatte
nichts anzubieten. Nicht einmal mich selbst. Ich kaufte nichts. Ich wollte nicht
teilha
88|ben. Ich verachtete sie. Ich kannte die Kurse nicht. Ich fragte nicht nach dem
Preis.
95|Ich ging absichtlich gebeugt. Ich wünschte mir einen Buckel. Ich wollte ausgestoßen sein.
Sie sollten es sehen. Sie sahen es. Ich hörte sie und hörte sie nicht. Sie riefen hinter mir
her. Sie höhnten, geh, hol dir den Krankenschein zum Haareschneiden. Ich war in keiner
Krankenkasse; ich war stolz, in keiner Kasse zu sein. Es berührte mich nicht. Sie schrien
Bubikopf, Bubikopf. Das schulterlange Haar stand mir für eine bessere Welt. Ich zog meine Schuhe
aus, knüpfte sie zusammen,
128|hängte sie über die Schulter, ging barfuß weiter.
So fühlte ich die
Stadt. Sie war unter meinem Fuß. Sie war hart und kalt. Die anderen merkten es nicht. Viele
liebten Stiefel. Sie marschierten gern. Sie hatten den Krieg verloren. Sie würgten an der
Niederlage und haßten die Republik. Sie sagten, wenn wir die Wehrpflicht hätten. Sie riefen, die
Hammelbeine langziehen. Sie kniffen die Augen zusammen. Sie hofften, mich zu zerschneiden. Sie
hatten alle nur ein Gesicht.
Ich war nicht traurig. Ich amüsierte mich. Ich war der Ritter von
der traurigen Gestalt. Das war lustig. Ich sehnte mich nach Freuden. Ich wollte
127|es bunt. Ich
fand sie komisch, wie sie die Augen zusammenkniffen, die Stirn in strenge Falten legten, die
eiserne Zeit des Krieges beschworen und die Toten vergessen hatten. Ich versagte mir das Lachen.
Ich dachte an die Leichenfelder, an die Siege, die wir gefeiert hatten.
Ich gab mich düster. Ich
schlug den Krimmerkragen meines Mantels hoch. Der Mantel war ein Kaftan. Ich hatte lange nach
ihm suchen müssen. Ich zog einen Russenkittel an, schloß ihn um den Hals. Ich preßte mir den
breiten jenseitigen Hut eines Landpfarrers tief über die Augen. Wenn ich einen Hut aufsetzte.
Ein Kind auf dunkler Treppe; es nahm meine Hand, flüsterte Hochwürden. Ich war Raskolnikow. Ich
war einer aus den Dämonen. Der aus dem Kellerloch. Der aus dem Totenhaus. Ich hatte unterm
Galgen gestan
129|den. Der Bote
96|war
89| noch einmal gekommen. Begnadigt. Die Schlinge hing
locker.
Ich zündete die Stadt an. Erdmanns Warenhaus brannte. Eine Fackel in der Nacht. Das
Rathaus brannte. Meine Stammrolle verbrannte. Das war gut. In Flammen stand das Gericht. Ich
öffnete das Gefängnis. Ich verteilte die Waren der Geschäfte an die Armen und die befreiten
Gefangenen. Aus Buggenhagens Buchhandlung bekam jeder ein Buch. Das Geld der Sparkasse auf die
Straße. Kinder spielten mit den Scheinen, formten Schiffchen, setzten sie in die Gosse.
Vielleicht liebte ich die Stadt. Ich stülpte sie um.
128|Ich vernichtete ihre Ordnung. Ich störte
die Feier.
Ein Russe sprach mich russisch an. Das salbte mich. Ich eiferte Kropotkin nach. Der
Russe war bekümmert. Er war Emigrant. Er hatte Heimweh nach einem anderen Rußland. Im Sommer
ging ich unter einem Sonnenschirm. Der Schirm war weiß wie der heiße Himmel. Der Schirm hatte
resedagrüne Volants. Ich wanderte in Tropen. Der Schirm hatte eine silberne Krücke, zu einem
Vogel geschmiedet. Kam ein Wetter auf, flog der Vogel mit dem Sturm. Ich war weiß gepudert; ich
hatte mein Gesicht mit Reismehl betupft.
Ich ruhte, wo ich im Weg war. Ich legte mich auf die
Straße, lang vor die Türen. Ich saß auf den Stufen zu den Denkmalen toter Männer. Ich streckte
mich ins Gras der Verschönerungen, dem Schutz der Bürger empfohlen.
130|Die Bibliotheken zogen mich
an. Ich suchte sie heim, gierig und süchtig. Zu ihren Verwaltern war ich wie ein Liebhaber,
unwiderstehlich. Die Bibliothekare waren wehrlos. Sie wurden mir hörig. Sie öffneten ihre
Schränke, trennten sich von ihren Schätzen. Ich breitete Schrift um mich aus. Ich verschlang,
was gedruckt war. Ich vergaß mich. Auf belebtem Platz saß ich wie trunken. Das Alphabet trug
mich fort.
Ich versuchte die Stadt. Ich war ein Ärgernis. Ich wollte ein Ärgernis sein. Die
Ordnung beobachtete mich. Die Bürger
97|mikroskopierten mich in ihren Fensterspiegeln. Sie sahen
ein Ungeheuer.
129|Die Ordnung fühlte sich herausgefordert
90| und wünschte ein Gesetz. Alle
Ertüchtiger bliesen zur Jagd. Sie pirschten sich ran. Sie umstellten mich. Sie bauten Fallen, in
die ich nicht fiel. Ich tat nichts. Ich tat keinem etwas. Das war verdächtig. Das war böse.
Ich
wollte ich sein, für mich allein. Da drängten sie sich auf. Die Stadt entblößte sich vor mir.
Sie war nicht ehrbar. Sie hatte einen Untergrund. Die Polizei schlug. Die Richter waren
parteiisch. Der Amtmann mißbrauchte sein Amt. Der Pfarrer glaubte nicht. Der Ertüchtiger war ein
Sadist. Die Trinker kamen und entkorkten die Flaschen. Die Geilen machten ihre Offerten.
Morphinisten und Kokser zeigten ihre Wunden und boten den Schnee. Dirnen gaben sich zu erkennen.
Diebe luden ein. Der Anthroposoph stieg mit mir auf den Turm von Sankt Nikolai und schrie, Sie
131|sind der Teufel. Als er mich würgte, sah ich die See. Sie schwankte grau unter einem grauen
Himmel.
Lenz kam von den Kommunisten. Das verirrte Schaf war in die Herde zu führen. Lenz wollte
der Herde entfliehen. Er war zerrissen. Er lief durch den Winter mit kurzen Hosen und nackten
Knien. Das verband mich mit ihm. Wir badeten noch im November im Meer. Unsere Fahrräder lehnten
beieinander und zitterten. An seinem Rad hing der rote Wimpel mit dem Emblem von Hammer und
Sichel. Die Völker hörten die Signale. Die Völker hörten nichts. Die Sirenen schwiegen. Damals
schwiegen sie noch. An meine Lenkstange hatte
130|ich, um Lenz zu ehren, einen schwarzen Lappen
gebunden, die stolze schwarze Fahne der Anarchie. Lenz wurde erschlagen. Das taten die mit dem
verkniffenen Gesicht. Es gab da irgendwo ein Hünengrab; dort töteten sie ihn und verscharrten
ihn gleich.
Ich wünschte ein Schauspiel. Ich reiste vierter Klasse. Ich pochte auf die
moralische Anstalt. Ich hatte zu viel gelesen. Die Stadt rutschte hinter den Schienen weg. In
Nebel, in graue Wolken, in Schnee, in die verlorene Zeit. Sankt Ni
98|kolai drohte zuletzt wie eine
erhobene Faust. Erst später spürte ich die Narben. Das Abteil war für Reisende mit Traglasten.
Ich hockte auf einer Kiepe. Häcksel drang durch das Geflecht. Ein Huhn gackerte. Ein Schwein
grunzte im Sack.
91| Der Mann, dem das Schwein gehörte, sagte, was liest du da. Ich sagte,
Tairoff, das entfesselte Theater. Der Mann sagte,
132|du wirst dir die Augen verderben. Es schneite.
Es war kalt. Die Bahn war nicht geheizt, der Himmel trübe. Der Mann schenkte mir ein gekochtes
Ei.
Es schneite. Berlin lag im Schnee. Das Reich lag im Schnee. Der Stettiner Bahnhof war eine
Höhle aus Wind und Ruß und den Geräuschen großer Bewegung. Er war Babylon; ein Ort, um
aufzubrechen. Mir schmeckte die Luft. Ich kaute Freiheit. Sie standen auf allen Straßen, sie
standen gegen die Mauern gelehnt, sie froren, sie hungerten, sie waren Arbeitslose,
Ausgesteuerte, ohne Obdach, sie waren die Revolution. Sie standen anders herum als ich. Sie
genossen es nicht. Ein
131|Zug bildete sich, wie von selbst, es hatte kein Signal und keinen Befehl
gegeben, und ich lief hinter dem Marsch dieser erschöpften, hoffnungslosen Gestalten her, und
einer fragte mich, hast du die Karte, und ich sagte, was für eine Karte, und er schimpfte, die
Stempelkarte, was denn sonst, und ich sagte, ich stempele nicht, und er stieß mich zurück und
sagte, mach, daß du fortkommst. Es kam Polizei. Die Schupos sprangen vom Deck ihrer grünen
Wagen. Sie schwärmten aus. Pfiffe gellten. Die Polizisten hoben ihre Knüppel. Sie zerstreuten
uns. Ich rannte mit den anderen.
Mein Herz bebte. Es schlug hoch. Das war es nun, ich hatte es
gefunden, das wollte ich zeigen, die moralische Anstalt, das entfesselte Theater, die Straße,
die Hungernden, die Frierenden, die Armen, die Desperaten, die rote Fahne, das Lied der Revolte.
Ich ging schneller
133|und für eine Weile wie einer, der ein Ziel hat. Ich dachte an das Schauspiel
»Gas« von Georg Kaiser. Ich stellte das Drama »Masse Mensch« von Ernst Toller in erhabene,
düstere Kulissen. Auch der
99|Schlesische Bahnhof war eine Höhle aus Wind und Ruß und Gekreisch. Er
war nicht Babylon. Er war eine Hölle der Armen, die nicht wußten, wohin. Gegen Abend war ich in
Grünberg. Es war sehr kalt. Ich suchte das Theater. Ich kam aus dem Schnee. Ich sah Licht. Ich
hörte Gesang. Ich spürte Wärme. Der Direktor war in
92| karierte Wolle gekleidet. Er
sagte, da sind Sie ja. Er sagte, das ist gut. Irgendeiner war krank. Er sagte, Sie
132|springen ein.
Er sagte, heute in Salzach. Er sagte, Frack. Ich sah ihn an und dann auf mein Plaid, in das mein
Kamm, ein Hemd und meine Bücher gewickelt waren; und das war alles. Er sagte, ach ja, Ihre
Koffer sind noch nicht da. Er sagte, schön, gehen Sie zum Fundus. Ich sagte, »Gas«. »Kaiser«,
sagte er. Er verzog das Gesicht. Er sagte, lieber Freund. Er sagte, wir werden sehen.
Sie waren
lustig. Sie waren traurig. Sie aßen belegte Brote. Sie taten gern, was sie taten. Sie taten es
nicht gern. Sie tingelten, sie sangen, sie hüpften. Sie schliefen miteinander. Sie hatten ihre
Liebschaften. Sie fürchteten sich allein in der Nacht. Wir froren im Bus nach Salzach. Sie
hatten Sorgen. Sie kamen mit der Gage nicht hin. Sie hatten Kinder. Die Kinder wurden groß. Sie
waren nicht unfreundlich. Aber sie waren nicht meine
134|Leute. Ich verschloß mich auch ihnen. Ich
kroch wieder in mich hinein.
Sie zogen mir den Frack an, zu groß und unendlich zu weit, ich war
nicht zu sehen in dem Frack, sie stopften mir ein bretthart gestärktes Vorhemd in die Weste, sie
banden mir einen Kragen und eine Schleife um, ich schlotterte, sie stießen mich auf die Bühne,
da war eine feine Gesellschaft, sie schlürfte Wasser, die Kelche funkelten, die Münder
kreischten, in der Nacht, wenn die Liebe erwacht, die Mädchen kicherten, einer dirigierte mich
zu dem, den ich verhaften wollte, auch er war im Frack, er saß ihm besser, ich wußte nicht, was
er verbrochen hatte, ich war
133|Kriminalkommissar, was ging es mich an, ich streifte ihm
Handschellen über, ich sagte, im Namen des Gesetzes, ein trauriger Tusch, der
100|Vorhang fiel, ein
Rokokopark, Schäfer und Schäferinnen auf allegorischen Wolken versöhnten das Gemüt, und alle
gratulierten sie mir, sie sagten, ich hätte es gut gemacht.
Es war keiner mehr da. Die Häuser
hatten sie zu sich genommen, die behäbigen Häuser, die Häuser mit ihren breiten verschlossenen
Türen, die Häuser der Bürger, die Häuser voll Wärme und Schlaf. Jedes Licht erlosch. Der Schnee
lag ruhig. Der Mond war aufgegangen. Die Stadt war gemütlich
93| und kalt. Sie war wie
eine Weihnachtskarte. Ich war im Bild. Ich war ohne Obdach. Ich hatte kein Geld. Das konnte
bestraft werden. Ich fürchtete den Schritt des Polizisten. Nur Frost
135|klirrte. Ich ging durch die
Straßen, lautlos. Ich suchte Zuflucht. Ich fand sie. Ich kletterte über eine Mauer. Ich war auf
dem Friedhof. Ich hatte Frieden. Ich suchte mir ein Grab. Ich sah die Kreuze, die Steine, ich
las die Totensprüche. Es war die alte Stadt, die hier schlief. Ein ehrsamer Leinenweber. Er war
mir ein milder Wirt. Ich breitete mein Plaid aus; ich warf die Bücher unter den Kopf. Ich war
einig mit der Welt. Ich wars zufrieden. In Abständen nahm ich, um mich zu wärmen, das Plaid,
legte es mir auf die Schulter, rannte neben der
FriedhofmauerFriedhofsmauerFriedhofmauerFriedhofmauer
Erstausgabe (Suhrkamp) |
Friedhofmauer |
Gesammelte Werke (Suhrkamp) |
Friedhofmauer |
Lizenzausgabe (Volk und Welt) |
Friedhofsmauer |
Werke (Suhrkamp) |
Friedhofmauer |
, zuweilen auf einem Hügel sie überragend, mit einem Blick auf die schlafende Stadt. Ich war bei
134|ihren Ahnen; sie wußten es
nicht in ihren Betten. Lachen schüttelte mich, eine herrliche Heiterkeit. Ich malte mir aus, daß
einer mich sehen könnte, vermummt in mein Plaid, und daß er erzählen würde, da war ein Gespenst
in der Nacht, es spukt auf unserem Friedhof. Ich war sehr gern ein Gespenst.
Am Morgen litt ich
Frost. Ich wusch mich unter dem schlagenden Strahl einer Pumpe und trank ihr eiskaltes Wasser.
Ich hatte Hunger. Der Tag graute. In einem Bäckerladen brannte ein freundliches Licht. Der warme
Geruch von frischem Brot drang ins Freie, und die Frau des Bäckers stand behaglich mit bloßen
Armen hinter dem Tisch. Ich wollte kein Bürger sein, aber ich war nicht befreit von den
Vorurteilen meiner Erziehung. Ich schämte mich so sehr, um eine
101|Semmel zu betteln, daß ich in
der Backofenwärme des Ladens zitterte und
136|schwieg. Die Bäckerin sah mich lange an, deutete dann
auf ein Plakat, das neben ihr hing, und sagte, Sie sind vom Theater. Die Semmeln lagen frisch
und knusprig in einem Korb und waren mir nah. Ich hätte sie greifen können. Ich sagte, ich
inszeniere. Ich sagte es hochmütig. Ich sagte, »Gas«. Ich sagte, von Kaiser. Diese Antwort, oder
wie ich sie gab, schien die rundliche, gutmütige Frau zu erschrecken. Es war, als gewahrte sie
erst jetzt meine außerordentliche Erscheinung, einen Jungen, verfro
94|ren, hungrig, mit
überlangen Haaren und schwarz angezogen wie ein geistlicher Herr. Und wenn die Bäckerin
135|mich
eben noch in wohlwollende Verbindung mit dem Theaterplakat gebracht hatte, der Werbung für die
»Königin der Nacht«, der Operette, in der ich so erfolgreich debütiert hatte, erkannte sie nun
in mir, gewarnt durch die Wörter »Gas« und »Kaiser«, eine ganz andere Nachtgestalt, vermutlich
des Irrsinns. Sie streckte abwehrend ihre bloßen Arme, wich gegen die Wand, formte den Mund zum
Schrei, während ich, brennend, errötend, mit einem scharfen Klingeln der Ladentür floh und
davonlief.
Im Theater saß der Direktor in seiner karierten Wolle auf der Bühne und probte mit
seinen Schauspielern einen alten Schwank. Er sah mich an. Ist Ihre Garderobe gekommen? Auch ich
sah ihn an, oder wollte ihn ansehen, fest fordernd und schweigend. Aber mir war schlecht, und
alles drehte sich ein wenig. Er sagte, ich habe keine Rolle für Sie. Er maß meinen Mantel, den
137|Krimmerkragen, der sich auflöste, meine zerdrückten Hosen, die ungeputzten Schuhe. Ich sagte,
ich bin als Regisseur engagiert. Er widersprach, aber er hob nicht die Stimme. Sie sind gar
nicht engagiert. Ich sagte, »Gas« wird ein Erfolg werden, die Berliner Zeitungen werden
berichten, Ihering und Kerr werden kommen. Er sagte, Sie sind zu jung. Jugend galt nicht. Sie
genoß überhaupt kein Ansehen. Er sagte, meine Künstler ... Er deutete auf die Schauspieler in
der dämmerigen, von einer einzigen
102|Glühbirne erhellten Bühne. Ich blickte in die Gesichter von
mürrischen kleinen Beamten,
136|die ihrer Versorgung entgegenlebten. Er sagte, Sie sehen es, die
würden sich nichts sagen lassen, sie könnten Ihre Väter sein. Er war kein Unmensch. Er zahlte
mir die Reise.
Ich ging, Geld in der Tasche, in den Schwarzen oder Roten oder Weißen Adler. Ich
setzte mich zu ihnen, bei denen ich geschlafen, den ehrsamen Leinewebern und Fabrikanten. Ich
bestellte Schlesisches Himmelreich und Grünberger Wein. Ich war ein junger Herr auf seiner
Bildungsreise. Ich war mit der Kutsche gekommen. Ich war auf Abenteuer erpicht. Die Honoratioren
luden mich in ihr Haus. Sie stell
95|ten mich den Töchtern vor. Weiße Betten. Ich stieg
hinein. Da entschloß ich mich, zur See zu fahren, und Indien war mir nahe.
Die Oder war
zugefroren. Die Oderkähne lagen still und verschneit. Ich fuhr vorbei an den preußischen
Festungen, an Küstrin und Landsberg, an den öden Exer
138|zierplätzen, an den Stätten der
Erniedrigung, an den Verstecken der Schwarzen Reichswehr, an ihren Femegräbern, eingeebnet und
vergessen. Ich sah es wuchern. Ich ahnte es. Im Abteil für Reisende mit Traglasten. Es war eine
Pause. Sie hatten mich nicht. Es gab kein Entfliehen.
Stettin roch nach Heringen, doch auch nach
Ertrunkenen. Die Schiffe lagen vor dem Bahnhof. Der Weg nach Indien war frei. Die Ertrunkenen
gingen über die Lastadie, eine Uferstraße. Es waren Kneipen da, mit glühendem Ofen, warm und
137|heimelig. Es gab Grog gegen den steifen Wind. Ich trank keinen Grog. Ich mochte ihn nicht.
Die
Jugendherberge war auf dem Dachboden einer Schule, einem großen Gebäude aus rotem Backstein, und
der Herbergsvater hatte mich in der Herberge und in der Schule eingeschlossen und war
fortgegangen, und ich lag allein auf dem Dachboden und auf einem der hundert Betten, ich hatte
kein Licht, und nur der Mond schien durch die Mansarden. Da hörte ich ihn. Er kam langsam die
Treppe rauf,
103|nicht schleichend, ruhig. Ich sah ihn im Dämmerlicht am Ende des Schlafsaals, einen
Mann in einem Jägerhut, einem Lodenmantel und mit angeschnallten Ledergamaschen über seinen
Schuhen. Ich stand auf und lief zur anderen Seite des Raums, zur Treppe, die dort hinunter
führte, ich eilte über die Stufen, und im Gang unten, der Treppe mit Treppe verband, da stand er
wieder, auf seiner Seite, mit Jägerhut
139|und Lodenmantel und ledernen Gamaschen, und so im zweiten
Stock und im ersten und im Parterre, und ich stürmte in ein Klassenzimmer und rückte eine
Schulbank vor die Tür und hörte seinen Schritt und wie er stehen blieb, und ich hörte ihn nicht
mehr. Ich saß in einer Schulbank, und ich war ein Schüler und vor dem Examen. Ich ging an die
Schultafel und schrieb mit Kreide an die Tafel Freiheit,
96| Gleichheit, Brüderlichkeit.
Es machte sich gut. Ich war beruhigt. Ich öffnete ein Fenster und sprang in den Hof.
Die Schiffe
fuhren nicht nach Indien. Die
138|Schiffe lagen still. In der Paritätischen Heuerstelle saßen die
Seeleute und warteten auf ein Schiff. Sie warteten lange, und einige warteten nur noch so, an
sich, um des Wartens willen. Es ging kein Schiff irgendwohin. Der Beamte hinter dem Schalter
sagte, es ist zwecklos. Er sagte, fahr nach Hause. Ich sagte, ich habe kein Zuhause. Er trug
mich in sein Buch ein und gab mir eine Karte. Auf der Karte war ich ein Jungmann. Ich hatte
einen Beruf. Ich war ein Prolet. Ich setzte mich zu den Genossen. Aber auch die Genossen sagten,
laß dir die Haare schneiden; sie machten den Witz mit der Krankenkasse. Sie waren Bürger. Sie
waren Bürger ohne Haus und ohne Besitz. Sie waren Bürger für nichts und wieder nichts. Sie waren
geduldig. Sie nahmen es hin. Sie enttäuschten mich. Ich hätte nicht lange bei ihnen gesessen;
sie mißtrauten mir; auch hatte ich nicht zu essen und wieder kein Obdach.
140|Da kam ein Mann in die
Heuerstelle, der von den Armen lebte. Er ähnelte etwas dem Jäger aus der Nacht in der
Jugendherberge. Er war sein Bruder. Er war nicht unheimlich;
104|er war durchtrieben. Er nahm sich
einen Matrosen, setzte ihn auf einen Stuhl, beugte sich über ihn und sagte, schlafe, schlafe,
und der Matrose schloß die Augen, sein festes Gesicht war ohne Gedanken, und der Mann sagte, heb
den Arm, der Matrose hob den Arm, der Mann sagte, du kannst den Arm nicht senken, du kannst ihn
nicht runterkriegen, und der Matrose konnte es nicht. Da sagte der
139|Mann, du bist ein Esel, und
der Matrose scharrte mit den Füßen und schrie wie ein Esel. Die Männer lachten; nur ich lachte
nicht. Doch mehr war mit dem Matrosen nicht zu erreichen, und der Hypnotiseur weckte ihn auf.
Der Mann sah mich an. Vielleicht sah er mich an, weil ich nicht gelacht hatte. Er sagte, komm
her. Ich setzte mich auf den Stuhl, und er blickte mir in die Augen, und ich sah in seinem
Gesicht den Hunger, die Not und die Furcht und die Verderbnis, er faulte, sein Atem roch übel
wie er schlaf, schlaf schlaf sagte, und er strengte sich an, Schweiß trat auf
97| seine
Stirn, und es wollte ihm nicht gelingen. Da hatte ich Mitleid mit ihm, stand auf, stellte mich
auf den Stuhl und rief, Lenin spricht zu euch, erhebt euch, zerbrecht eure Ketten. Der
Hypnotiseur erhob seine Arme, wach auf, rief er, wach auf, komm runter, was anderes. Er blickte
mich fragend an. Das geht nicht, zischte er mir ins Ohr. Er
141|massierte mir die Schläfen,
streichelte mich und befahl mir, du bist Jesus, stehe auf und wandele. Ich ging zu den Seeleuten
mit einem heiligen Schritt, sie wichen zurück, und ich segnete sie. Sie waren ergriffen. Ich
wollte lachen, aber da ergriff es auch mich. Ich war nicht hypnotisiert, ich tat nur so, doch
war etwas geschehen, ein Funke war übergeschlagen.
Wir gingen am Abend und gingen jeden Abend
über die Lastadie, wir gingen am Bollwerk entlang, vorbei an den liegenden Schiffen, dem Eis auf
dem Wasser, fern von Indien, wir gingen von
140|Kneipe zu Kneipe, ich ging hinein, mischte mich
unter die Angetrunkenen, bestellte etwas, rührte es aber nicht an, dann kam er, mein Meister,
bat um Aufmerksamkeit, schläferte einen ein, ließ ihn der Esel sein,
105|rief mich dann auf, wählte
mich aus der Menge, zum Schluß, blickte mir in die Augen, gab mir den faulen Atem, streichelte
mich. Er hieß mich Jesus sein, und ich war Jesus und ging unter die Säufer und unter die Huren
und unter die Armen, und ich segnete sie und sprach zu ihnen und gab ihnen Bibelworte, und es
war still in der Kneipe, man hörte nur das Geld in den Teller fallen, wenn mein Meister die
Kollekte machte.
Ich schlief bei ihr. Sie hatte mich mitgenommen. Sie war ein Mädchen aus den
Kneipen. Ich lag in ihrem Bett, in ihrer engen Kammer, sie zog sich aus, ich sah sie nackt im
stockfleckigen Spiegel, ich sah in dieser Scherbe, daß sie mager war, ein hungriges Kind, und
sie sah, daß ich
142|sie ansah, sie deckte Brust und Scham mit der Hand, wandte sich ab, ging zu
einem Pappkoffer und holte ein Hemd heraus, ein langes bäuerisches Hemd aus kräftigem Leinen mit
langen Armen, sie zog es an, es reichte bis zu den Füßen, sie sagte, das ist mein Sterbehemd,
sie legte sich neben mich, wir schliefen und berührten uns nicht, und es dauerte acht Nächte
oder mehr.
98|Es kam der Tag. Der Schalterbeamte rief, ein Jungmann für Dampfer Eddy nach
Finnland. Ich reichte ihm meine Karte. Er heuerte mich an. Der Arzt griff nach meinem
Geschlecht. Er sagte, hüte
141|dich vor den Weibern. Er hatte Schmisse in einem blauroten Gesicht.
Sein Auge zwinkerte. Der Dampfer Eddy ging auf Fahrt. Ein Eisbrecher brachte uns durch das Haff.
Ich sah die große graue See. Eine unendliche Grabplatte, wie aus Blei. Ich sah Seeschlachten,
Versenkungen, Bombardierungen. Ich sah die großen Untergänge, die kommen sollten.
53 Texte
Textgenese
Register
Ich schrieb, meine Mutter fürchtete die Schlangen. Sie sah sie im brackigen Grund, wenn wir am Meer entlang
zum alten Gut gingen. Gras krankte in salziger Lauge. Das Rad
106|der Saline stand still. Aus der
Abdeckerei faulte Verwesung. Ich haßte die Stadt hinter den Wiesen, die berühmte Silhouette, die
der Maler gemalt hatte. Ich sah sie von Ot
143|tern gefressen. Aber wird man mich verstehen? Ich darf
nicht zugeben, daß es gleichgültig wäre, ob mich keiner versteht oder einer, der natürlich
wichtig würde und meine Bemühung nicht ganz vergeblich sein ließe, wenn ich auch selber nicht
weiß, ob ich etwas verstanden habe oder überhaupt etwas zu verstehen war. Es ereignete sich
etwas, und es ereignet sich ja immer etwas und unendlich viel, es war einmal und wird sein, das
ist unübersehbar, aber dies betraf mich, nicht andere, obwohl was andere zerschmettert auch mich
vernichtet, oder ich beobachtete etwas, es ging vor, ich habe es erlebt, ich war Zeuge, es war
142|ein Augenblick, eine Sekunde, ich könnte annehmen, möchte hoffen, es war ein bestimmter wenn
auch winziger Punkt in der Zeit, ein immerhin zu lokalisierendes Ereignis im All, und schon
weggewischt und wäre nie gewesen, ruhte es nicht gespeichert in mir, in dem Gedächtnis
irgendeiner Zelle, die ermüden, krank, ausgemerzt, veröden, sterben kann, doch solange ich bin
und denke, die furchtbaren Gefahren überstehe, nicht den Verstand verliere, sind Aufzeichnungen
da, Daten, wie
99| sie es nennen, die hervorgezogen, herbeigerufen werden können wie auf
den jetzt modernen und unheimlichen Maschinen, die man elektrische Gehirne heißt, da liegt die
Erinnerung in einem unordentlichen verwirrenden Netz, griffbereit, nur wehe, wenn ich den
Schlüssel verloren habe, die Fähigkeit, den Mechanismus zu bedienen, wenn ich die Taste nicht
mehr finde, die Vergangenheit herbeiruft,
144|sie zur Gegenwart und gar zur Zukunft in unentrinnbare
Beziehung setzt, vielleicht konnte ich nie mit dem umgehen, mit dem mich die Schöpfung
ausstattete, und nur noch zufällig löst irgendeine ungewollte Erregung ein Bild aus dem Vorrat
bewahrter doch vergessener gleichgültiger Eindrücke und macht es bedeutsam, wiederholt den
längst vergangenen Augenblick, schafft ihn neu oder täuscht mich darin. Es
107|ist, als betrachte
ich eine alte Photographie. Ich habe sie aufgenommen; vielleicht bin ich auch aufgenommen
worden. Es ist Mittag. Ein hoher lichtloser Himmel im Januar. Meine oder ihre Augen von der
143|unsichtbaren Sonne gequält. Ich marterte sie oder mich. Oder was wollte ich? Ein Gesicht
einwecken wie Obst für den Winter, Fleisch für karge Jahre, und am Ende, in den jüngsten Tagen,
der penetrante Geschmack der eisernen Ration und doch die Erdbeeren von einst, der Geruch des
Gartens, das Beet an einem Sommermorgen nach dem Gewitterregen der Nacht, dieser Urwald kleiner
Pflanzen, grüne überlappende Blätter der Stauden die rauhgraue Gewölbe bildeten, in denen die
Erdkröte saß, und das Kind, dieser Riese, beugt sich über die Welt, ein Gottvater, der
vertreiben konnte oder gnädig gewähren lassen, doch das eingelegte Fleisch erinnert besser nicht
an das Kalb, an seinen sanften Blick, das warme staubtrockene Fell, dies ist die Hand, die dich
streichelte, meine Hand, die das Messer nahm, die Kehle aufreißt, den Leib zerhackt, den Braten
wendet, das Fleisch zum
145|Munde führt, eine alte Schuld, vom Naturrecht gebilligt, schließlich
schon nicht mehr organisch, ein Vorgang, wie er grauenvoll in den Gesetzbüchern steht. Sie geht
über die kleine Brücke aus morschem Holz, will zum Kastanienwall, es ist ihr letzter
Spaziergang, sie kann das nicht wissen, zum letzten Mal ist
100| sie von ihrem Bett
aufgestanden, ein milder Tag wie er manchmal zwischen den Frösten kommt, der Himmel ist
reingefegt von Nebel und Schnee und bebt Unendlichkeit, und sie erwartet das von mir, die Hilfe
zum Sterben, eine Sinngebung nur, ihr Leben, das am Ende ist, soll einen Sinn bekom
144|men, den sie
verstehen könnte, oder ich soll ihr Leben rechtfertigen, so wie ich dastand auf jener Brücke, in
einem Mantel reif für den Müll, mit lange nicht geschnittenem Haar, existenzlos, jeder sagte:
ohne Zukunft, doch es ist ein Wort nur, ein Blick vielleicht, selbst eine kleine zurückhaltende
Gebärde meiner Hand in den zerrissenen Handschuhen, auf die sie hofft, und ich sage
108|nichts, kein
Wort, ich blicke sie an und blicke sie nicht an, ich bewege mich nicht und bewege mich, nicht
auf sie zu, mehr von ihr weg, ich weiß das alles, ich unterdrücke sogar mühsam ein Weinen, und
doch ist die Begegnung mir hinderlich, hält mich auf, lenkt mich ab, von was, von nichts, ich
weiß es nicht und merke, dies prägt sich mir ein, und vielleicht redete ich dann, viel,
unsinnig, blickte umher wie in die Enge getrieben, auf zum Himmel, mir ähnlich, er schwieg, von
der Brücke hinunter zum schmutzigen
146|Eis des Ryckgrabens, stellte mit erregten Gesten etwas dar,
was meiner Empfindung völlig widersprach. Der Reif ist um die Brust gelegt, es brennen die
Augen, die feucht werden, es brennt die Hand, die erstarrt, wie sehr das schmerzt, denn ich
spürte nichts, es war nicht mein Tod, der sich im Eishaus der Sträucher unter den kahlen
Kastanien entkleidete, ich verließ sie schon, oder ließ sie mich verlassen, Iphigenie, wie
üblich, auch wenn ich ihr den Arm reichte, sie heimführte oder so tat und an das Geschäft
dachte, das ich nicht habe.