Erstausgabe (1976) Sequenz 09

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Jugend
Absolute Datierung
-
Zuordnung
9
Kopie
nein
Durchschlag
nein
Mit Bismarck verbinden mich sehr persönliche Erinnerungen. Wir sind uns ähnlich. Bismarck weinte, er warf <38>sich, der schwere Leib, auf das Sofa, ich stelle sie mir vor, die weißen Sofaschoner, die von liebender Hand gestickten Sofakissen, die von dienender Hand schön gekämmten Sofafransen, und Bismarck weinte. Ich nicht. Sie hatten mir als Kind und im Namen Bismarcks oder auch eines preußischen Königs zu oft gesagt: Ein Mann weint nicht. So weine ich nur, wenn ich Bismarck bin. Ich lernte ihn in meinen jüngsten Jahren kennen, Bismarck stand auf der Nähmaschine, oder er stand neben der Nähmaschine, auf der meine Mutter das Bettzeug eines dieser pommerschen Rittergüter flickte, Lössin oder Wunkenhagen oder Demeritz, und Bismarck war aus Erz gegossen, er hatte Schaftstiefel aus reinem Erz an, er hielt einen Schleppsäbel aus Erz in der erzenen Hand, und auf dem Kopf aus Erz saß ihm ein Adler, auch aus Erz. Auf einem Helm aus Erz. Diese Figur sah aus, als ob sie mich einschüchtern wollte. Bismarck wog viel, und ich konnte ihn damals nicht heben, aber wenn ihn ein Mann richtig gefaßt hätte, hätte er einen anderen Mann mit ihm totschlagen können. Der Herr von Lössin oder der Herr von Wunkenhagen oder der von Demeritz tat das nicht. Er hatte zum Totschlagen einen Spaten. Aber auch mit dem Spaten schlug der Herr von Lössin oder der Herr von Wunkenhagen oder der von Demeritz nicht zu. Er hatte zum Totschlagen seine Leute. Sie hatten auf Lössin oder auf Wunkenhagen oder auf Demeritz immer Leute gehabt, und selbst nach der Aufhebung der preußischen Gesin<39>deordnung und der gutsherrlichen Polizeigewalt waren auf Lössin, Wunkenhagen oder Demeritz Leute geboren worden oder hatten sich Leute angefunden, zum Totschlagen und zu anderem. Dieses Rittergut, Lössin, oder Wunkenhagen oder Demeritz hatte meiner Mutter gehört, oder es hatte der Mutter meiner Mutter gehört, ich habe dies nie so ganz begriffen, man hat es mir zu oft und immer wieder anders erzählt oder anders verschwiegen, und meine Mutter war nun gelegentlich mildtätlich Weißnäherin auf diesen Rittergütern, sie konnte aber gar nicht nähen, wenn man auch anzunehmen schien, daß eine Frau in ihrer Lage zu nähen habe, und so flickte sie die Laken aus rohem bäuerlichen Leinen für eine Mark am Tag, und die große Vergünstigung war, daß sie mich mitnehmen durfte. So saß ich unter der Nähmaschine und sah die Füße meiner Mutter, wie sie das Tretwerk der Nähmaschine traten, und die Bettücher liefen unter der Nadel der Nähmaschine durch, stiegen auf und fielen und hoben und senkten sich vor meinem Blick wie der Vorhang einer Bühne, auf der Bismarck auftrat, oder auf der sich ein Schauspieler, der den Bismarck spielte, für den Applaus bedankte. Aus Erz gegossen, und die Studenten zogen mit Fackeln vor die Stadt und zum Bismarckturm und warfen dort die brennenden Fackeln zu Füßen des Denkmals, und Bismarck, auch er aus Erz, stand mit festen Füßen auf seinem Sockel, festen Gesichtes, festen Blickes, fest im Fleisch, aus Erz, im Flammenschein in der <40>Nacht, es konnte nichts schiefgehen. Ich bin damals unter der Nähmaschine neben den das Rad bewegenden Füßen meiner Mutter nicht darauf gekommen, daß die Bettlaken, die sich hoben und senkten und vor meinen Augen flatterten, auch mit Leichentüchern zu vergleichen gewesen wären, oder mit den weißen Fahnen der Niederlage.