In meiner Stadt war ich allein. Ich war jung, aber ich war mir meiner Jugend nicht bewußt. Ich spielte sie nicht aus. Sie hatte keinen Wert. Es fragte auch niemand danach. Die Zeit stand still. Es war eher ein Leiden. Doch gab es keinen, der mir glich. Ich trieb mich herum. Ich war unterwegs. Ich war auf den Straßen und Plätzen. Ich fiel überall auf. Ich hatte kein Ziel. Ich stellte mich mitten auf den Markt. Ich war unnütz; das gefiel mir. Ich genoß es, auf dem Markt zu stehen. Einfach nur so. Ich hatte nichts anzubieten. Nicht einmal mich selbst. Ich kaufte nichts. Ich wollte nicht teilhaben. Ich verachtete sie. Ich kannte die Kurse nicht. Ich fragte nicht nach dem Preis. Ich ging absichtlich gebeugt. Ich wünschte mir einen Buckel. Ich wollte ausgestoßen sein. Sie sollten es sehen. Sie sahen es. Ich hörte sie und hörte sie nicht. Sie riefen hinter mir her. Sie höhnten, geh, hol dir den Krankenschein zum Haareschneiden. Ich war in keiner Krankenkasse; ich war stolz, in keiner Kasse zu sein. Es berührte mich nicht. Sie schrien Bubikopf, Bubikopf. Das schulterlange Haar stand mir für eine bessere Welt. Ich zog meine Schuhe aus, knüpfte sie zusammen, <128>hängte sie über die Schulter, ging barfuß weiter. So fühlte ich die Stadt. Sie war unter meinem Fuß. Sie war hart und kalt. Die anderen merkten es nicht. Viele liebten Stiefel. Sie marschierten gern. Sie hatten den Krieg verloren. Sie würgten an der Niederlage und haßten die Republik. Sie sagten, wenn wir die Wehrpflicht hätten. Sie riefen, die Hammelbeine langziehen. Sie kniffen die Augen zusammen. Sie hofften, mich zu zerschneiden. Sie hatten alle nur ein Gesicht. Ich war nicht traurig. Ich amüsierte mich. Ich war der Ritter von der traurigen Gestalt. Das war lustig. Ich sehnte mich nach Freuden. Ich wollte es bunt. Ich fand sie komisch, wie sie die Augen zusammenkniffen, die Stirn in strenge Falten legten, die eiserne Zeit des Krieges beschworen und die Toten vergessen hatten. Ich versagte mir das Lachen. Ich dachte an die Leichenfelder, an die Siege, die wir gefeiert hatten. Ich gab mich düster. Ich schlug den Krimmerkragen meines Mantels hoch. Der Mantel war ein Kaftan. Ich hatte lange nach ihm suchen müssen. Ich zog einen Russenkittel an, schloß ihn um den Hals. Ich preßte mir den breiten jenseitigen Hut eines Landpfarrers tief über die Augen. Wenn ich einen Hut aufsetzte. Ein Kind auf dunkler Treppe; es nahm meine Hand, flüsterte Hochwürden. Ich war Raskolnikow. Ich war einer aus den Dämonen. Der aus dem Kellerloch. Der aus dem Totenhaus. Ich hatte unterm Galgen gestan<129>den. Der Bote war noch einmal gekommen. Begnadigt. Die Schlinge hing locker. Ich zündete die Stadt an. Erdmanns Warenhaus brannte. Eine Fackel in der Nacht. Das Rathaus brannte. Meine Stammrolle verbrannte. Das war gut. In Flammen stand das Gericht. Ich öffnete das Gefängnis. Ich verteilte die Waren der Geschäfte an die Armen und die befreiten Gefangenen. Aus Buggenhagens Buchhandlung bekam jeder ein Buch. Das Geld der Sparkasse auf die Straße. Kinder spielten mit den Scheinen, formten Schiffchen, setzten sie in die Gosse. Vielleicht liebte ich die Stadt. Ich stülpte sie um. Ich vernichtete ihre Ordnung. Ich störte die Feier. Ein Russe sprach mich russisch an. Das salbte mich. Ich eiferte Kropotkin nach. Der Russe war bekümmert. Er war Emigrant. Er hatte Heimweh nach einem anderen Rußland. Im Sommer ging ich unter einem Sonnenschirm. Der Schirm war weiß wie der heiße Himmel. Der Schirm hatte resedagrüne Volants. Ich wanderte in Tropen. Der Schirm hatte eine silberne Krücke, zu einem Vogel geschmiedet. Kam ein Wetter auf, flog der Vogel mit dem Sturm. Ich war weiß gepudert; ich hatte mein Gesicht mit Reismehl betupft. Ich ruhte, wo ich im Weg war. Ich legte mich auf die Straße, lang vor die Türen. Ich saß auf den Stufen zu den Denkmalen toter Männer. Ich streckte mich ins Gras der Verschönerungen, dem Schutz der Bürger empfohlen. <130>Die Bibliotheken zogen mich an. Ich suchte sie heim, gierig und süchtig. Zu ihren Verwaltern war ich wie ein Liebhaber, unwiderstehlich. Die Bibliothekare waren wehrlos. Sie wurden mir hörig. Sie öffneten ihre Schränke, trennten sich von ihren Schätzen. Ich breitete Schrift um mich aus. Ich verschlang, was gedruckt war. Ich vergaß mich. Auf belebtem Platz saß ich wie trunken. Das Alphabet trug mich fort. Ich versuchte die Stadt. Ich war ein Ärgernis. Ich wollte ein Ärgernis sein. Die Ordnung beobachtete mich. Die Bürger mikroskopierten mich in ihren Fensterspiegeln. Sie sahen ein Ungeheuer. Die Ordnung fühlte sich herausgefordert und wünschte ein Gesetz. Alle Ertüchtiger bliesen zur Jagd. Sie pirschten sich ran. Sie umstellten mich. Sie bauten Fallen, in die ich nicht fiel. Ich tat nichts. Ich tat keinem etwas. Das war verdächtig. Das war böse. Ich wollte ich sein, für mich allein. Da drängten sie sich auf. Die Stadt entblößte sich vor mir. Sie war nicht ehrbar. Sie hatte einen Untergrund. Die Polizei schlug. Die Richter waren parteiisch. Der Amtmann mißbrauchte sein Amt. Der Pfarrer glaubte nicht. Der Ertüchtiger war ein Sadist. Die Trinker kamen und entkorkten die Flaschen. Die Geilen machten ihre Offerten. Morphinisten und Kokser zeigten ihre Wunden und boten den Schnee. Dirnen gaben sich zu erkennen. Diebe luden ein. Der Anthroposoph stieg mit mir auf den Turm von Sankt Nikolai und schrie, Sie <131>sind der Teufel. Als er mich würgte, sah ich die See. Sie schwankte grau unter einem grauen Himmel. Lenz kam von den Kommunisten. Das verirrte Schaf war in die Herde zu führen. Lenz wollte der Herde entfliehen. Er war zerrissen. Er lief durch den Winter mit kurzen Hosen und nackten Knien. Das verband mich mit ihm. Wir badeten noch im November im Meer. Unsere Fahrräder lehnten beieinander und zitterten. An seinem Rad hing der rote Wimpel mit dem Emblem von Hammer und Sichel. Die Völker hörten die Signale. Die Völker hörten nichts. Die Sirenen schwiegen. Damals schwiegen sie noch. An meine Lenkstange hatte ich, um Lenz zu ehren, einen schwarzen Lappen gebunden, die stolze schwarze Fahne der Anarchie. Lenz wurde erschlagen. Das taten die mit dem verkniffenen Gesicht. Es gab da irgendwo ein Hünengrab; dort töteten sie ihn und verscharrten ihn gleich. Ich wünschte ein Schauspiel. Ich reiste vierter Klasse. Ich pochte auf die moralische Anstalt. Ich hatte zu viel gelesen. Die Stadt rutschte hinter den Schienen weg. In Nebel, in graue Wolken, in Schnee, in die verlorene Zeit. Sankt Nikolai drohte zuletzt wie eine erhobene Faust. Erst später spürte ich die Narben. Das Abteil war für Reisende mit Traglasten. Ich hockte auf einer Kiepe. Häcksel drang durch das Geflecht. Ein Huhn gackerte. Ein Schwein grunzte im Sack. Der Mann, dem das Schwein gehörte, sagte, was liest du da. Ich sagte, Tairoff, das entfesselte Theater. Der Mann sagte, <132>du wirst dir die Augen verderben. Es schneite. Es war kalt. Die Bahn war nicht geheizt, der Himmel trübe. Der Mann schenkte mir ein gekochtes Ei. Es schneite. Berlin lag im Schnee. Das Reich lag im Schnee. Der Stettiner Bahnhof war eine Höhle aus Wind und Ruß und den Geräuschen großer Bewegung. Er war Babylon; ein Ort, um aufzubrechen. Mir schmeckte die Luft. Ich kaute Freiheit. Sie standen auf allen Straßen, sie standen gegen die Mauern gelehnt, sie froren, sie hungerten, sie waren Arbeitslose, Ausgesteuerte, ohne Obdach, sie waren die Revolution. Sie standen anders herum als ich. Sie genossen es nicht. Ein Zug bildete sich, wie von selbst, es hatte kein Signal und keinen Befehl gegeben, und ich lief hinter dem Marsch dieser erschöpften, hoffnungslosen Gestalten her, und einer fragte mich, hast du die Karte, und ich sagte, was für eine Karte, und er schimpfte, die Stempelkarte, was denn sonst, und ich sagte, ich stempele nicht, und er stieß mich zurück und sagte, mach, daß du fortkommst. Es kam Polizei. Die Schupos sprangen vom Deck ihrer grünen Wagen. Sie schwärmten aus. Pfiffe gellten. Die Polizisten hoben ihre Knüppel. Sie zerstreuten uns. Ich rannte mit den anderen. Mein Herz bebte. Es schlug hoch. Das war es nun, ich hatte es gefunden, das wollte ich zeigen, die moralische Anstalt, das entfesselte Theater, die Straße, die Hungernden, die Frierenden, die Armen, die Desperaten, die rote Fahne, das Lied der Revolte. Ich ging schneller <133>und für eine Weile wie einer, der ein Ziel hat. Ich dachte an das Schauspiel »Gas« von Georg Kaiser. Ich stellte das Drama »Masse Mensch« von Ernst Toller in erhabene, düstere Kulissen. Auch der Schlesische Bahnhof war eine Höhle aus Wind und Ruß und Gekreisch. Er war nicht Babylon. Er war eine Hölle der Armen, die nicht wußten, wohin. Gegen Abend war ich in Grünberg. Es war sehr kalt. Ich suchte das Theater. Ich kam aus dem Schnee. Ich sah Licht. Ich hörte Gesang. Ich spürte Wärme. Der Direktor war in karierte Wolle gekleidet. Er sagte, da sind Sie ja. Er sagte, das ist gut. Irgendeiner war krank. Er sagte, Sie springen ein. Er sagte, heute in Salzach. Er sagte, Frack. Ich sah ihn an und dann auf mein Plaid, in das mein Kamm, ein Hemd und meine Bücher gewickelt waren; und das war alles. Er sagte, ach ja, Ihre Koffer sind noch nicht da. Er sagte, schön, gehen Sie zum Fundus. Ich sagte, »Gas«. »Kaiser«, sagte er. Er verzog das Gesicht. Er sagte, lieber Freund. Er sagte, wir werden sehen. Sie waren lustig. Sie waren traurig. Sie aßen belegte Brote. Sie taten gern, was sie taten. Sie taten es nicht gern. Sie tingelten, sie sangen, sie hüpften. Sie schliefen miteinander. Sie hatten ihre Liebschaften. Sie fürchteten sich allein in der Nacht. Wir froren im Bus nach Salzach. Sie hatten Sorgen. Sie kamen mit der Gage nicht hin. Sie hatten Kinder. Die Kinder wurden groß. Sie waren nicht unfreundlich. Aber sie waren nicht meine <134>Leute. Ich verschloß mich auch ihnen. Ich kroch wieder in mich hinein. Sie zogen mir den Frack an, zu groß und unendlich zu weit, ich war nicht zu sehen in dem Frack, sie stopften mir ein bretthart gestärktes Vorhemd in die Weste, sie banden mir einen Kragen und eine Schleife um, ich schlotterte, sie stießen mich auf die Bühne, da war eine feine Gesellschaft, sie schlürfte Wasser, die Kelche funkelten, die Münder kreischten, in der Nacht, wenn die Liebe erwacht, die Mädchen kicherten, einer dirigierte mich zu dem, den ich verhaften wollte, auch er war im Frack, er saß ihm besser, ich wußte nicht, was er verbrochen hatte, ich war Kriminalkommissar, was ging es mich an, ich streifte ihm Handschellen über, ich sagte, im Namen des Gesetzes, ein trauriger Tusch, der Vorhang fiel, ein Rokokopark, Schäfer und Schäferinnen auf allegorischen Wolken versöhnten das Gemüt, und alle gratulierten sie mir, sie sagten, ich hätte es gut gemacht. Es war keiner mehr da. Die Häuser hatten sie zu sich genommen, die behäbigen Häuser, die Häuser mit ihren breiten verschlossenen Türen, die Häuser der Bürger, die Häuser voll Wärme und Schlaf. Jedes Licht erlosch. Der Schnee lag ruhig. Der Mond war aufgegangen. Die Stadt war gemütlich und kalt. Sie war wie eine Weihnachtskarte. Ich war im Bild. Ich war ohne Obdach. Ich hatte kein Geld. Das konnte bestraft werden. Ich fürchtete den Schritt des Polizisten. Nur Frost <135>klirrte. Ich ging durch die Straßen, lautlos. Ich suchte Zuflucht. Ich fand sie. Ich kletterte über eine Mauer. Ich war auf dem Friedhof. Ich hatte Frieden. Ich suchte mir ein Grab. Ich sah die Kreuze, die Steine, ich las die Totensprüche. Es war die alte Stadt, die hier schlief. Ein ehrsamer Leinenweber. Er war mir ein milder Wirt. Ich breitete mein Plaid aus; ich warf die Bücher unter den Kopf. Ich war einig mit der Welt. Ich wars zufrieden. In Abständen nahm ich, um mich zu wärmen, das Plaid, legte es mir auf die Schulter, rannte neben der Friedhofmauer, zuweilen auf einem Hügel sie überragend, mit einem Blick auf die schlafende Stadt. Ich war bei ihren Ahnen; sie wußten es nicht in ihren Betten. Lachen schüttelte mich, eine herrliche Heiterkeit. Ich malte mir aus, daß einer mich sehen könnte, vermummt in mein Plaid, und daß er erzählen würde, da war ein Gespenst in der Nacht, es spukt auf unserem Friedhof. Ich war sehr gern ein Gespenst. Am Morgen litt ich Frost. Ich wusch mich unter dem schlagenden Strahl einer Pumpe und trank ihr eiskaltes Wasser. Ich hatte Hunger. Der Tag graute. In einem Bäckerladen brannte ein freundliches Licht. Der warme Geruch von frischem Brot drang ins Freie, und die Frau des Bäckers stand behaglich mit bloßen Armen hinter dem Tisch. Ich wollte kein Bürger sein, aber ich war nicht befreit von den Vorurteilen meiner Erziehung. Ich schämte mich so sehr, um eine Semmel zu betteln, daß ich in der Backofenwärme des Ladens zitterte und <136>schwieg. Die Bäckerin sah mich lange an, deutete dann auf ein Plakat, das neben ihr hing, und sagte, Sie sind vom Theater. Die Semmeln lagen frisch und knusprig in einem Korb und waren mir nah. Ich hätte sie greifen können. Ich sagte, ich inszeniere. Ich sagte es hochmütig. Ich sagte, »Gas«. Ich sagte, von Kaiser. Diese Antwort, oder wie ich sie gab, schien die rundliche, gutmütige Frau zu erschrecken. Es war, als gewahrte sie erst jetzt meine außerordentliche Erscheinung, einen Jungen, verfroren, hungrig, mit überlangen Haaren und schwarz angezogen wie ein geistlicher Herr. Und wenn die Bäckerin mich eben noch in wohlwollende Verbindung mit dem Theaterplakat gebracht hatte, der Werbung für die »Königin der Nacht«, der Operette, in der ich so erfolgreich debütiert hatte, erkannte sie nun in mir, gewarnt durch die Wörter »Gas« und »Kaiser«, eine ganz andere Nachtgestalt, vermutlich des Irrsinns. Sie streckte abwehrend ihre bloßen Arme, wich gegen die Wand, formte den Mund zum Schrei, während ich, brennend, errötend, mit einem scharfen Klingeln der Ladentür floh und davonlief. Im Theater saß der Direktor in seiner karierten Wolle auf der Bühne und probte mit seinen Schauspielern einen alten Schwank. Er sah mich an. Ist Ihre Garderobe gekommen? Auch ich sah ihn an, oder wollte ihn ansehen, fest fordernd und schweigend. Aber mir war schlecht, und alles drehte sich ein wenig. Er sagte, ich habe keine Rolle für Sie. Er maß meinen Mantel, den <137>Krimmerkragen, der sich auflöste, meine zerdrückten Hosen, die ungeputzten Schuhe. Ich sagte, ich bin als Regisseur engagiert. Er widersprach, aber er hob nicht die Stimme. Sie sind gar nicht engagiert. Ich sagte, »Gas« wird ein Erfolg werden, die Berliner Zeitungen werden berichten, Ihering und Kerr werden kommen. Er sagte, Sie sind zu jung. Jugend galt nicht. Sie genoß überhaupt kein Ansehen. Er sagte, meine Künstler ... Er deutete auf die Schauspieler in der dämmerigen, von einer einzigen Glühbirne erhellten Bühne. Ich blickte in die Gesichter von mürrischen kleinen Beamten, die ihrer Versorgung entgegenlebten. Er sagte, Sie sehen es, die würden sich nichts sagen lassen, sie könnten Ihre Väter sein. Er war kein Unmensch. Er zahlte mir die Reise. Ich ging, Geld in der Tasche, in den Schwarzen oder Roten oder Weißen Adler. Ich setzte mich zu ihnen, bei denen ich geschlafen, den ehrsamen Leinewebern und Fabrikanten. Ich bestellte Schlesisches Himmelreich und Grünberger Wein. Ich war ein junger Herr auf seiner Bildungsreise. Ich war mit der Kutsche gekommen. Ich war auf Abenteuer erpicht. Die Honoratioren luden mich in ihr Haus. Sie stellten mich den Töchtern vor. Weiße Betten. Ich stieg hinein. Da entschloß ich mich, zur See zu fahren, und Indien war mir nahe. Die Oder war zugefroren. Die Oderkähne lagen still und verschneit. Ich fuhr vorbei an den preußischen Festungen, an Küstrin und Landsberg, an den öden Exer<138>zierplätzen, an den Stätten der Erniedrigung, an den Verstecken der Schwarzen Reichswehr, an ihren Femegräbern, eingeebnet und vergessen. Ich sah es wuchern. Ich ahnte es. Im Abteil für Reisende mit Traglasten. Es war eine Pause. Sie hatten mich nicht. Es gab kein Entfliehen. Stettin roch nach Heringen, doch auch nach Ertrunkenen. Die Schiffe lagen vor dem Bahnhof. Der Weg nach Indien war frei. Die Ertrunkenen gingen über die Lastadie, eine Uferstraße. Es waren Kneipen da, mit glühendem Ofen, warm und heimelig. Es gab Grog gegen den steifen Wind. Ich trank keinen Grog. Ich mochte ihn nicht. Die Jugendherberge war auf dem Dachboden einer Schule, einem großen Gebäude aus rotem Backstein, und der Herbergsvater hatte mich in der Herberge und in der Schule eingeschlossen und war fortgegangen, und ich lag allein auf dem Dachboden und auf einem der hundert Betten, ich hatte kein Licht, und nur der Mond schien durch die Mansarden. Da hörte ich ihn. Er kam langsam die Treppe rauf, nicht schleichend, ruhig. Ich sah ihn im Dämmerlicht am Ende des Schlafsaals, einen Mann in einem Jägerhut, einem Lodenmantel und mit angeschnallten Ledergamaschen über seinen Schuhen. Ich stand auf und lief zur anderen Seite des Raums, zur Treppe, die dort hinunter führte, ich eilte über die Stufen, und im Gang unten, der Treppe mit Treppe verband, da stand er wieder, auf seiner Seite, mit Jägerhut <139>und Lodenmantel und ledernen Gamaschen, und so im zweiten Stock und im ersten und im Parterre, und ich stürmte in ein Klassenzimmer und rückte eine Schulbank vor die Tür und hörte seinen Schritt und wie er stehen blieb, und ich hörte ihn nicht mehr. Ich saß in einer Schulbank, und ich war ein Schüler und vor dem Examen. Ich ging an die Schultafel und schrieb mit Kreide an die Tafel Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Es machte sich gut. Ich war beruhigt. Ich öffnete ein Fenster und sprang in den Hof. Die Schiffe fuhren nicht nach Indien. Die Schiffe lagen still. In der Paritätischen Heuerstelle saßen die Seeleute und warteten auf ein Schiff. Sie warteten lange, und einige warteten nur noch so, an sich, um des Wartens willen. Es ging kein Schiff irgendwohin. Der Beamte hinter dem Schalter sagte, es ist zwecklos. Er sagte, fahr nach Hause. Ich sagte, ich habe kein Zuhause. Er trug mich in sein Buch ein und gab mir eine Karte. Auf der Karte war ich ein Jungmann. Ich hatte einen Beruf. Ich war ein Prolet. Ich setzte mich zu den Genossen. Aber auch die Genossen sagten, laß dir die Haare schneiden; sie machten den Witz mit der Krankenkasse. Sie waren Bürger. Sie waren Bürger ohne Haus und ohne Besitz. Sie waren Bürger für nichts und wieder nichts. Sie waren geduldig. Sie nahmen es hin. Sie enttäuschten mich. Ich hätte nicht lange bei ihnen gesessen; sie mißtrauten mir; auch hatte ich nicht zu essen und wieder kein Obdach. <140>Da kam ein Mann in die Heuerstelle, der von den Armen lebte. Er ähnelte etwas dem Jäger aus der Nacht in der Jugendherberge. Er war sein Bruder. Er war nicht unheimlich; er war durchtrieben. Er nahm sich einen Matrosen, setzte ihn auf einen Stuhl, beugte sich über ihn und sagte, schlafe, schlafe, und der Matrose schloß die Augen, sein festes Gesicht war ohne Gedanken, und der Mann sagte, heb den Arm, der Matrose hob den Arm, der Mann sagte, du kannst den Arm nicht senken, du kannst ihn nicht runterkriegen, und der Matrose konnte es nicht. Da sagte der Mann, du bist ein Esel, und der Matrose scharrte mit den Füßen und schrie wie ein Esel. Die Männer lachten; nur ich lachte nicht. Doch mehr war mit dem Matrosen nicht zu erreichen, und der Hypnotiseur weckte ihn auf. Der Mann sah mich an. Vielleicht sah er mich an, weil ich nicht gelacht hatte. Er sagte, komm her. Ich setzte mich auf den Stuhl, und er blickte mir in die Augen, und ich sah in seinem Gesicht den Hunger, die Not und die Furcht und die Verderbnis, er faulte, sein Atem roch übel wie er schlaf, schlaf schlaf sagte, und er strengte sich an, Schweiß trat auf seine Stirn, und es wollte ihm nicht gelingen. Da hatte ich Mitleid mit ihm, stand auf, stellte mich auf den Stuhl und rief, Lenin spricht zu euch, erhebt euch, zerbrecht eure Ketten. Der Hypnotiseur erhob seine Arme, wach auf, rief er, wach auf, komm runter, was anderes. Er blickte mich fragend an. Das geht nicht, zischte er mir ins Ohr. Er <141>massierte mir die Schläfen, streichelte mich und befahl mir, du bist Jesus, stehe auf und wandele. Ich ging zu den Seeleuten mit einem heiligen Schritt, sie wichen zurück, und ich segnete sie. Sie waren ergriffen. Ich wollte lachen, aber da ergriff es auch mich. Ich war nicht hypnotisiert, ich tat nur so, doch war etwas geschehen, ein Funke war übergeschlagen. Wir gingen am Abend und gingen jeden Abend über die Lastadie, wir gingen am Bollwerk entlang, vorbei an den liegenden Schiffen, dem Eis auf dem Wasser, fern von Indien, wir gingen von Kneipe zu Kneipe, ich ging hinein, mischte mich unter die Angetrunkenen, bestellte etwas, rührte es aber nicht an, dann kam er, mein Meister, bat um Aufmerksamkeit, schläferte einen ein, ließ ihn der Esel sein, rief mich dann auf, wählte mich aus der Menge, zum Schluß, blickte mir in die Augen, gab mir den faulen Atem, streichelte mich. Er hieß mich Jesus sein, und ich war Jesus und ging unter die Säufer und unter die Huren und unter die Armen, und ich segnete sie und sprach zu ihnen und gab ihnen Bibelworte, und es war still in der Kneipe, man hörte nur das Geld in den Teller fallen, wenn mein Meister die Kollekte machte. Ich schlief bei ihr. Sie hatte mich mitgenommen. Sie war ein Mädchen aus den Kneipen. Ich lag in ihrem Bett, in ihrer engen Kammer, sie zog sich aus, ich sah sie nackt im stockfleckigen Spiegel, ich sah in dieser Scherbe, daß sie mager war, ein hungriges Kind, und sie sah, daß ich <142>sie ansah, sie deckte Brust und Scham mit der Hand, wandte sich ab, ging zu einem Pappkoffer und holte ein Hemd heraus, ein langes bäuerisches Hemd aus kräftigem Leinen mit langen Armen, sie zog es an, es reichte bis zu den Füßen, sie sagte, das ist mein Sterbehemd, sie legte sich neben mich, wir schliefen und berührten uns nicht, und es dauerte acht Nächte oder mehr. Es kam der Tag. Der Schalterbeamte rief, ein Jungmann für Dampfer Eddy nach Finnland. Ich reichte ihm meine Karte. Er heuerte mich an. Der Arzt griff nach meinem Geschlecht. Er sagte, hüte dich vor den Weibern. Er hatte Schmisse in einem blauroten Gesicht. Sein Auge zwinkerte. Der Dampfer Eddy ging auf Fahrt. Ein Eisbrecher brachte uns durch das Haff. Ich sah die große graue See. Eine unendliche Grabplatte, wie aus Blei. Ich sah Seeschlachten, Versenkungen, Bombardierungen. Ich sah die großen Untergänge, die kommen sollten. ððððððððððððððððððððððð