Erstausgabe (1976) Sequenz 53

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Jugend
Absolute Datierung
-
Zuordnung
53
Kopie
nein
Durchschlag
nein
Ich schrieb, meine Mutter fürchtete die Schlangen. Sie sah sie im brackigen Grund, wenn wir am Meer entlang zum alten Gut gingen. Gras krankte in salziger Lauge. Das Rad der Saline stand still. Aus der Abdeckerei faulte Verwesung. Ich haßte die Stadt hinter den Wiesen, die berühmte Silhouette, die der Maler gemalt hatte. Ich sah sie von Ot<143>tern gefressen. Aber wird man mich verstehen? Ich darf nicht zugeben, daß es gleichgültig wäre, ob mich keiner versteht oder einer, der natürlich wichtig würde und meine Bemühung nicht ganz vergeblich sein ließe, wenn ich auch selber nicht weiß, ob ich etwas verstanden habe oder überhaupt etwas zu verstehen war. Es ereignete sich etwas, und es ereignet sich ja immer etwas und unendlich viel, es war einmal und wird sein, das ist unübersehbar, aber dies betraf mich, nicht andere, obwohl was andere zerschmettert auch mich vernichtet, oder ich beobachtete etwas, es ging vor, ich habe es erlebt, ich war Zeuge, es war ein Augenblick, eine Sekunde, ich könnte annehmen, möchte hoffen, es war ein bestimmter wenn auch winziger Punkt in der Zeit, ein immerhin zu lokalisierendes Ereignis im All, und schon weggewischt und wäre nie gewesen, ruhte es nicht gespeichert in mir, in dem Gedächtnis irgendeiner Zelle, die ermüden, krank, ausgemerzt, veröden, sterben kann, doch solange ich bin und denke, die furchtbaren Gefahren überstehe, nicht den Verstand verliere, sind Aufzeichnungen da, Daten, wie sie es nennen, die hervorgezogen, herbeigerufen werden können wie auf den jetzt modernen und unheimlichen Maschinen, die man elektrische Gehirne heißt, da liegt die Erinnerung in einem unordentlichen verwirrenden Netz, griffbereit, nur wehe, wenn ich den Schlüssel verloren habe, die Fähigkeit, den Mechanismus zu bedienen, wenn ich die Taste nicht mehr finde, die Vergangenheit herbeiruft, <144>sie zur Gegenwart und gar zur Zukunft in unentrinnbare Beziehung setzt, vielleicht konnte ich nie mit dem umgehen, mit dem mich die Schöpfung ausstattete, und nur noch zufällig löst irgendeine ungewollte Erregung ein Bild aus dem Vorrat bewahrter doch vergessener gleichgültiger Eindrücke und macht es bedeutsam, wiederholt den längst vergangenen Augenblick, schafft ihn neu oder täuscht mich darin. Es ist, als betrachte ich eine alte Photographie. Ich habe sie aufgenommen; vielleicht bin ich auch aufgenommen worden. Es ist Mittag. Ein hoher lichtloser Himmel im Januar. Meine oder ihre Augen von der unsichtbaren Sonne gequält. Ich marterte sie oder mich. Oder was wollte ich? Ein Gesicht einwecken wie Obst für den Winter, Fleisch für karge Jahre, und am Ende, in den jüngsten Tagen, der penetrante Geschmack der eisernen Ration und doch die Erdbeeren von einst, der Geruch des Gartens, das Beet an einem Sommermorgen nach dem Gewitterregen der Nacht, dieser Urwald kleiner Pflanzen, grüne überlappende Blätter der Stauden die rauhgraue Gewölbe bildeten, in denen die Erdkröte saß, und das Kind, dieser Riese, beugt sich über die Welt, ein Gottvater, der vertreiben konnte oder gnädig gewähren lassen, doch das eingelegte Fleisch erinnert besser nicht an das Kalb, an seinen sanften Blick, das warme staubtrockene Fell, dies ist die Hand, die dich streichelte, meine Hand, die das Messer nahm, die Kehle aufreißt, den Leib zerhackt, den Braten wendet, das Fleisch zum <145>Munde führt, eine alte Schuld, vom Naturrecht gebilligt, schließlich schon nicht mehr organisch, ein Vorgang, wie er grauenvoll in den Gesetzbüchern steht. Sie geht über die kleine Brücke aus morschem Holz, will zum Kastanienwall, es ist ihr letzter Spaziergang, sie kann das nicht wissen, zum letzten Mal ist sie von ihrem Bett aufgestanden, ein milder Tag wie er manchmal zwischen den Frösten kommt, der Himmel ist reingefegt von Nebel und Schnee und bebt Unendlichkeit, und sie erwartet das von mir, die Hilfe zum Sterben, eine Sinngebung nur, ihr Leben, das am Ende ist, soll einen Sinn bekommen, den sie verstehen könnte, oder ich soll ihr Leben rechtfertigen, so wie ich dastand auf jener Brücke, in einem Mantel reif für den Müll, mit lange nicht geschnittenem Haar, existenzlos, jeder sagte: ohne Zukunft, doch es ist ein Wort nur, ein Blick vielleicht, selbst eine kleine zurückhaltende Gebärde meiner Hand in den zerrissenen Handschuhen, auf die sie hofft, und ich sage nichts, kein Wort, ich blicke sie an und blicke sie nicht an, ich bewege mich nicht und bewege mich, nicht auf sie zu, mehr von ihr weg, ich weiß das alles, ich unterdrücke sogar mühsam ein Weinen, und doch ist die Begegnung mir hinderlich, hält mich auf, lenkt mich ab, von was, von nichts, ich weiß es nicht und merke, dies prägt sich mir ein, und vielleicht redete ich dann, viel, unsinnig, blickte umher wie in die Enge getrieben, auf zum Himmel, mir ähnlich, er schwieg, von der Brücke hinunter zum schmutzigen <146>Eis des Ryckgrabens, stellte mit erregten Gesten etwas dar, was meiner Empfindung völlig widersprach. Der Reif ist um die Brust gelegt, es brennen die Augen, die feucht werden, es brennt die Hand, die erstarrt, wie sehr das schmerzt, denn ich spürte nichts, es war nicht mein Tod, der sich im Eishaus der Sträucher unter den kahlen Kastanien entkleidete, ich verließ sie schon, oder ließ sie mich verlassen, Iphigenie, wie üblich, auch wenn ich ihr den Arm reichte, sie heimführte oder so tat und an das Geschäft dachte, das ich nicht habe.