Erstausgabe (1976) Sequenz 51

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Jugend
Absolute Datierung
-
Zuordnung
51
Kopie
nein
Durchschlag
nein
<120>An anderen Abenden besuchte ich das Theater. Wenn meine Mutter nicht allzu niedergedrückt war, nannte sie mich einen Premierentiger. Sie mußte diesen Ausdruck in irgendeinem Buch gelesen haben, und sie gebrauchte ihn mir gegenüber spöttisch, doch auch mit etwas Verwunderung, in der eine schwache Hoffnung lag, daß ich mich, sie wußte nicht wie, und es wäre ein Wunder gewesen, von dem Elend unserer Verhältnisse entpuppen und zu einem hohen Flug erheben würde. Dieses Wort und die Anschauung meiner Mutter ärgerten mich. Ich stellte mir eine Vogelscheuche vor wie auf dem Umschlagbild des »Junggesellen« oder der »Eleganten Welt«, einen Herrn im Frack mit einem weiß und rot gefütterten Cape, einem Zylinderhut auf brillantineglänzendem Haar und einem Gesicht, das man nach den Schafen nannte, die dieses Gesicht niemals zeigten, ein Ignorant, der aus gesellschaftlichen Überlegungen in das Theater ging, und dieser Gedanke war mir so zuwider, daß ich seinetwegen alle Theater hätte in die Luft sprengen mögen. Später erfuhr ich allerdings, daß meine Mutter während dieser Zeit Briefe geschrieben hatte, in denen sie sich bitter beklagte, daß ich einen schönen Winter verbringe und am Abend ins Theater ginge. War dieser Winter schön? Er war kalt und mich hungerte. Im Theater hatte ich Anspruch auf eine Freikarte, ich hatte diesen Anspruch durchgesetzt und er war eine Art Gewohnheitsrecht geworden, das ich immer wieder verteidigte, wenn es mich auch wun<121>derte, daß es überhaupt anerkannt wurde. Ich betrat das Theater durch den Porticus aus Sandsteinsäulen, die auf die klassische Herkunft aller Bildung hinweisen und vielleicht auch gelegentlich an die Geburt der Tragödie erinnern sollten. Die Säulen waren von Kugeleinschlägen aus den Kämpfen zwischen den Zeitfreiwilligen des Kapp-Putsches und den streikenden Arbeitern durchlöchert und zerschrammt. Diese Beschädigungen waren noch offene Wunden. Verteidiger und Feinde der Republik waren an dieser Stelle gefallen, doch die Zuschauer des Theaters waren in ihrer Mehrheit geneigt, nur den Tod der jungen Leute, die die Republik und ihre verhaßte Fahne abschaffen wollten, heldisch und tragisch zu nennen. Die anderen waren vergessen wie ein unangenehmes, ein höchst peinliches Ereignis, und ihre Angehörigen gingen nicht in das Theater, es sei denn, daß Lenz in das Theater ging, der auf der Seite stand, die gesiegt und verloren hatte. In Wandervogeltracht blickte Lenz vom zweiten Rang, vom Olymp auf seine Widersacher hinunter, aber sie fanden es garnicht mehr nötig, zu ihm aufzusehen: sie zählten ihn zu den Toten. Die Kassenhalle aus nachgemachtem Marmor gab dem Theater das Ansehen eines öffentlichen Bades. Ich war jedesmal erregt und niedergeschlagen. Die Aussicht auf das Schauspiel beflügelte mich, aber die sichere Vorahnung der Enttäuschung drückte mich nieder. Zwischen den kalten Wänden wärmte wohl Theaterluft, aber sie versprach nicht mehr als sich selbst, ein <122>bürgerliches Spektakulum. Ich wandte mich zum Kassenschalter, ängstlich im Herzen, hochgemut im Gesicht, ich blickte Fräulein Mannhart, die hinter der Kassiererin stand und die Verteilung der Freikarten überwachte, fest und fordernd an und war überzeugt, daß sie mich nicht mochte. Zuweilen biß sich mein Blick in ihren Zügen fest, nicht feindlich, ich hatte nichts gegen Fräulein Mannhart und wollte sie nicht verletzen, aber der Gedanke, daß sie mir etwas antun konnte, ließ sie mich neugierig betrachten, denn die Neugierde auf ihr Leben, die ich in Wahrheit garnicht empfand, führte von meiner Person fort zu ihr, und ich suchte in ihrem etwas teigigen fraulichen Gesicht die Wahrheit des Klatsches, der über sie im Theater verbreitet war, und ich fragte mich, warum Emanuel mit Fräulein Mannhart geschlafen haben sollte und nun in seinem Büro Eifersuchtsszenen von ihr erdulden mußte. Nie kam mir der Gedanke, daß Fräulein Mannhart leide. Ihre vielbesprochene Affäre langweilte mich, aber vor dem Kassenschalter, wenn ich meine Karte forderte und in dieser Hinsicht von Fräulein Mannhart abhängig war, fand ich ihren Anspruch auf Emanuels Treue lächerlich, ja, daß er sie überhaupt beachtet haben sollte, schien mir so unwahrscheinlich, daß ich in ihren trübe schimmernden Augen Irrsinn zu lesen glaubte, und der Klatsch kam mir wie ein von ihr, weil sie ja wahnsinnig war, verbreitetes Märchen vor. Fräulein Mannhart warf mir meine Karte zu, widerwillig, und wie über meine <123>Existenz empört. Ich ging durch die Flügeltür in das Foyer, der noch leere Zuschauerraum lag hinter den offenen Türen wie eine dämmrige Höhle da und versprach Zuflucht. Ich floh nicht. Ich nützte den Schatten nicht. Ich war nicht unschuldig. Ich war mir meiner langen, nie geschnittenen Haare, meines zerrissenen, meines schmutzigen, meines einzigen Anzuges, seiner geflickten Ärmel, der zu kurzen und ausgefransten Hose, meiner bis zum Oberleder schiefgetretenen Absätze und der Löcher in meinen Schuhen bewußt, und ich stellte mich an den sichtbarsten Punkt des Wandelganges, wo meine schäbige Erscheinung von drei Spiegeln multipliziert wurde, wie ein nicht zu übersehendes Mahnmal hin. Dieser Standort erlaubte mir, die Theaterbesucher zu beobachten sie zu irritieren und zu verachten. Da kamen die Geschäftsleute, die Ladenbesitzer, unsere Gläubiger, die den beliebten Schauspielern Freßkörbe schickten, weil dies Mode geworden war in der Stadt und sie sich, wurde der Korb auf der Bühne überreicht, als Mäzene der Kunst fühlen konnten, nach fettem Abendbrot im Sonntagsstaat, und ihre Damen versuchten, durch Schmuck und Kleiderpracht die Frauen der Professoren in der Gunst des öffentlichen Ansehens zu schlagen, ein Kampf, der nicht gewonnen wurde, denn die Angegriffenen der akademischen Gesellschaft hatten sich in taubengraue Schlichtheit gehüllt, in Tarnkleider, die ihre Mittellosigkeit in bare Vornehmheit verwandelten. Ich musterte sie streng, <124>aber ich hoffte, das Fräulein von Lössin zu sehen. Dem Fräulein von Lössin galt meine Herausforderung, die ich mit Herzklopfen aufrecht hielt. Da sie noch nicht kam, vielleicht überhaupt nicht kommen würde, amüsierte ich mich über die beiden Theaterkritiker der Stadt, über den Oberlehrer, der für die deutschnationale Zeitung arbeitete, und nicht weniger über den Volksschullehrer, der für das sozialdemokratische Blatt die Rezensionen schrieb. Beide kamen sie mit ihren Gemahlinnen gegangen, unter deren Fuchtel sie standen, die sie aber im Theater in seltsamer Verblendung wie kostbare Beutestücke am Arm führten, beide schritten sie wie beliebte Klassikerbüsten, die ins Wandeln geraten waren und über zu engen Schwalbenschwanzröcken die Gesichter in strenge Falten aus vergeistigtem Gips gelegt hatten. Sie waren beide beachtliche Dummköpfe und pflegten den gleichen Geschmack, verehrten auch beide über alle Maßen die Salondame, Fräulein Danata, waren aufeinander eifersüchtig und hatten ihretwegen zu Hause die Hölle, doch da sie meinten, nach berühmten berliner Vorbildern es sich schuldig zu sein, gegeneinander polemisieren zu müssen, produzierten sie nach jeder Premiere die seltsamsten Hirngespinste, denn da sie ja nicht miteinander sprachen und nicht wissen konnten, was der andere sich diesmal ausdenken würde, führte sie ihre Beschränkung dazu, zur eigenen, zu späten Überraschung dieselbe Meinung drucken zu lassen, die nicht die ihre <125>war und die sie sich mühevoll zusammengebraut hatten, um originellerer Ansicht als der verachtete Gegner zu sein. Nur im Lob des Weibes waren sie sich herzlich einig und steigerten sich wechselseitig zu den überschwenglichsten Hymnen, so daß die Theatergemeinde allmählich fürchtete, und nur wenige hofften das sogar, daß ein Stern wie Fräulein Danata ihnen nach Berlin verloren gehen könnte. Da kam sie, sie war da, war großes Theater, herrschte in der finsteren Provinz dieses Foyers, leuchtete blond, das Fräulein von Lössin, ich glaubte, sie zu erkennen, ihren bornierten Gang, ihre hochnäsige Haltung, ich folgte ihr zur Mantelabgabe, in einiger Entfernung, klopfenden Herzens und dringlich zugleich, ich stellte mich ins Licht, Lohengrin, verkannt und schäbigst gekleidet, hochnäsig auch wie sie, und dann sah ich, daß die Person, die mich so anzog und erschreckte, schwarze Haare hatte, fremdländisch schwarz, zigeunerschwarz, so schwarz, daß das Schwarz blau schimmerte, es war Baudelaires Göttin, die den Mantel ablegte, das Phantom der Chevelure, nicht sie, das Fräulein vom Bottnischen Meerbusen, es war nicht zu denken, sie habe sich das Haar gefärbt, den Kamm, die Bürste in einen Topf voll Lack getaucht und sich Trauer über die hellen Strähnen gemalt, und doch war sie es, das Fräulein von Lössin, nicht Baudelaires schwarze Magie, und ich war es, der sie verfremdete, dunkel färbte, in die Urwälder setzte, sie in die Tropen des Dichters übertrug, nicht weil ich sie in solcher <126>Verkleidung erregender gefunden hätte, ihr blondes Haar band mich fester als das indische Seil, aber vielleicht war meine Täuschung der Wunsch, daß sie nicht sie selber sei, oder es war ein Versuch, ihren Hochmut zu brechen, diesen dummen Rittergutsbesitzerstolz, denn schwarz, zigeunerhaft, tropisch dunkel war sie heimatlos und entkleidet, ein Geschöpf der Einbildung, eine mir verfallene Beute, ich konnte auf sie zugehen, sie in die Arme schließen, sie auf dem Tisch der Garderobe schwächen, hier unter all den entsetzlichen Leuten, aber nein, es brauchte nichts mehr gesagt und getan zu werden, ich war stumm und bewegungslos, und die Schwarze blieb stumm und rührte sich nicht, und alle Worte waren tot, und Schweigen allein brachte uns zusammen, vereinte uns vor dem Theater, wir verschmolzen als die Glocke zur Vorstellung läutete, der Couloir sich entleerte, und sie ging und sah mich nicht sehend und enteilte mir, da war schon ihr Vetter, das blaue Band um die Brust, die hellblaue Mütze in der Hand, hoch und vor den Leib gehalten, das Corps Pommeriana, der zerhackte verschmißte Mund, ein Georges-Grosz-Gesicht, das Fräulein von Lössin nahm seinen Arm und war blond und elfisch auf eine liebliche und sehr unangenehme Weise, ein Wasser- oder Luftgeist aus nordischer Sage und schon von einer Zukunft bestrahlt, die Frau Landrat oder Frau Regierungspräsident hieß und den Vorstand im deutschnationalen Frauenverein oder im Luisenbund bedeutete, <127>und ich dachte an Flucht aus dieser Stadt, aus diesem Land, Flucht, Flucht, und ich folgte gehorsam dem Schauspiel.