Jugend. Eine Erinnerung4

Wolfgang Koeppen: „Jugend. Eine Erinnerung“, in: Merkur 24/1 (1971), 43-58.

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Wkoe
Absolute Datierung
31.1.1971
Zuordnung
5 Publikation: "Jugend. Eine Erinnerung (Merkur 1971)" 4
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nein
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zerinnen, die sich vor hohlen Muscheln in denen das Meer summt erregen,
den schweren Ritterburgportieren, den getragenen den abgelegten den paraten
Kleidungsstücken, den leeren oder den vollen Wiegen, die Hunnen begehren,
sie fordern Beute, sie singen ein Lied o filia hospitales, Cherusker, Vandalen,
Teutonen, Cimbern, grüne blaue rote gelbe Mützen und die schwarzen Masken
der frischen Wundbinden nach dem blutigen Kampf, scharf schneiden die
Klingen der Mensur, ein neues Pfeifen in der Luft, erstarrt über den ver-
pflasterten Gesichtern, Schmerz tränkt die Haut, tränkt meine Haut, dringt tief
in mein Fleisch, reißt es, daß es klafft, die Wunde bloßliegt, wie Feuer brennt
und wie Brennessel prickelt, der wehe Dunst der Desinfektion weht durch die
Straße, es berauscht mich der helle jenseitige Geruch der alten Anatomie, ein
Regenbogen geht vor mir auf grün rot blau gelb spektral, sein Scheitel steht
über der Universität, verklärt das Denkmal des Gründers, versinkt in den
Kneipen, ich sehe auf den schönen Regenbogen hinunter und blicke zu ihm auf,
hoch aus der spitzen Mansarde, klein aus dem kotigen Rinnstein, und das Volk
gibt es auch, meine Mutter sagt es, Fischweiber die ihren Karren schieben,
Hurnfisch, Hurnfisch, feuchte Hexen in schwarzen Umschlagtüchern, die drei-
fleckige Katze frißt die grünen Gräten, leckt sich das Maul, eine rosige Zunge,
frische Flunnern, rotbraune glitschigglatte bäumen sich gegen das Schicksal,
Ungeheuer vom Meeresgrund in Kisten zur Schau gestellt, Harings, Harings,
glasig zerläuft das weiße Schmalz in der krustigen Pfanne, sticht in die Nase,
schwebt über der Straße, Mittagsgeruch, Dankopfer, komm Herr Jesus, der
Herr Pastor kommt, spricht Bibelsprüche, Vögel und Lilien auf dem Felde,
Jesus und der Herr Pastor vergeben auch den Sündern, die anderen sind an-
ders, Leute die eine Stellung ein Gewerbe ein Handwerk eine Arbeit haben,
schließlich die Tagelöhner, Leute die nichts gelten und Lasten tragen und
Schmutz wegräumen, dann die Bürger, sie stellen schon etwas vor, meine
Mutter sagt es, ich ziehe ergeben meine Mütze, schwenke seiner Majestät
Schiff, mache meinen tiefen Diener vor beleibten hageren rötlichen blassen
kleinen groben gemütlichen polternden immer würdigen immer beleidigten
Männern die helfen die was hergeben die was anschreiben können die nichts
hergeben und nichts anschreiben wollen, Männer die Vorurteile haben, ver-
nichten, verhungern lassen, meine Mutter fürchtet die Schlangen, aber sie
erschrickt auch vor den Händen den großen Händen den behaarten Händen
den fetten mageren roten beringten Händen, vor Männern, die man sehr bitten
muß, Kolonialwarenhändler Susemihl ein Ballon, ein Globus aus all seinen
Eßwaren, eine marmorierte Weste eine goldene eine schwere eine hängende
Kette, eine Uhr, die er gern betrachtet, eine Uhr mit dem Schnitter Tod, ein
angenehm gruseliges Stundenläuten, und Kleuke der mit Kohlen wuchert,
ein böser Wintergott, Hüter des Feuers, sitzt in der wohligen Hölle seines
kohlenschwarzen Kontors ein Dampfer der Hamburg-Amerika-Linie durch-
schneidet über seinem kahlen Schädel die blauen Wogen, ein Bergmann mit
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der Berglampe an der Bergmütze zeigt zwei Ilsebriketts wie Moses die Ge-
setzestafeln, Fietzens des Wirtes hustender nörgelnder Schatten verlangt seinen
Tribut die Miete für die Mansarde, doch rangieren sie alle in der Achtung die
man ihnen schuldet unter den Doktoren, gar den Professoren, selbst dem
Pastor, die aber noch lange nicht so hoch stehen wie die Gutsbesitzer, die im
Paradies geblieben sind aus dem man uns vertrieben hat, noch auf dem platte-
sten Land auf steiler Höhe, meine Mutter sagt es, die Gutsbesitzer gehören
schon zu den Offizieren, den echten Größen, langer blauer Rock, kein Stäub-
chen, hoher roter Kragen, keine Falte, gerader Mützenschirm oder blanker
Schuppenhelm, ein Fisch, den die Fischfrauen nicht ausrufen und in die Waag-
schale werfen, der Name der Hunnenstraße rührt von den Hunden her, platt-
deutsch, in Pommern.
deutsch, in Pommern. Feetenbrinks Konzerthaus war ein Palast in der Hunnenstraße, einstöckig wie
die anderen Gebäude, aber eine lange Front, die abends erleuchtet wurde wie
gewöhnliche Häuser nur zu Kaisers Geburtstag mit Siegerkranz und Wonne-
gans und Kerzen in den Fenstern. Das Konzerthaus war der Stolz und die
Schande der Hunnenstraße, es gab ihr Glanz und Dunkelheit. Alle beobach-
teten, wer zu Feetenbrink ging. Nicht nur alte Weiber hockten hinter den
Fensterspiegeln, diesen wie Periskope oder Polypenaugen auf die Straße hin-
ausgestreckten Spionen und registrierten was anfiel, speicherten die Daten,
jederzeit bereit, sie wieder auszuspucken, bleich entrüstet, neidgrün verfärbt,
frühe Elektronengehirne.
Die Gutsbesitzerwagen fahren vor, ich bewundere sie, ich streiche drum-
herum, offenen Mundes, Lack funkelt, Leder spiegelt, Schmiere salbt brunnen-
schwarz die Naben der Räder, es näßt es dampft es glänzt der Pferde Fell,
der Hausknecht präsentiert eine unsichtbare Standarte, alter Königinkürassier,
wenn er den Namen Pasewalk nennt oder hört, die Stadt in der er diente, in
der man ihn kleinkriegte, in der er stramme weiße Hosen trug, sieht er wie
der Trompeter von Thionville aus, wie die Attacke von Mars-la-Tour, und ich
denke an Pasewalker Spritzkuchen, süß leicht und fettig wie eine schwere
gezuckerte Luft, meine Mutter schwärmt von ihnen, aus Pasewalk kommt nichts
Böses, der Hausknecht nimmt die Zügel die ihm gnädig zugeworfen werden,
er weiß, was erfreut, Herr Rittmeister Herr Hauptmann Herr Oberst Baron
von und zu und auf Klüttegrütt, der Gast, der Gast geehrt, ein breiter Rücken,
ächzt die drei Steinstufen hoch, füllt die Tür, rollt ins Haus, im Winter zottelt
ein Pelz, schneenaß, wälderkalt, im Sommer spannt sich leichtes Tuch über
Schultern und Gesäß, Nanking, klemmt im Schritt, fällt durchschwitzt und
plump über die vollen Ackergängerschenkel, Zigarrenrauch bleibt zurück,
Wolke eines Kanonenschusses, der Knecht schirrt die Pferde aus, reibt und
deckt sie mit wollenem Tuch, faßt sie am Halfter, führt die Geduldigen in den
Stall, ich bin ihnen gefolgt, ich buhle um die Freundschaft der Pferde und ihres
4 Merkur 1971, 1