46 Wolfgang Koeppen
Herr Landrat, der Graf Bär — Bärenhoff, er sieht ein neues Morgenrot wo der
Feuerschein sich erhebt, ebenso der Kommandant der Garnison, Herr Major
v. Schulz, er fürchtet außer Gott nur seine Außerdienststellung und den langen
langen Tag allein mit der Frau Majorin und ohne Glanz und Untergebenheit,
und er fürchtet nicht, daß er avancieren wird und ein Oberst und ein Held
sein wird und ein toter noch dazu und in einem Heldengrab und in Erbfeinds-
land, es gibt keine Bäume und keine Maikäfer in der Hunnenstraße, Luft-
ballons fliegen, wer fliegt nicht mit, wiesengrün strandweiß ackergrau das Land,
unverteidigt die Küste, unruhig die See, der Nebel baut sich sein Reich, die
Türme aus rotem Backstein sind gegen den offenen oder den verhangenen
Himmel gesetzt, Kirchen wie brütende Hennen, Hünengräber im bestellten
Feld, nie erschlagene Riesen, Kornblumen und Mohn, Buchweizen trotzt dem
Gewitter, Buchweizengrütze schwappt mit der Milch über den Teller, Krähen
am Tag, in der Nacht Eulen.
Wie arme kahle Kinderschädel ragen die Hunnenstraßensteine eng anein-
ander gestampft aus der Erde, naß oder trocken, warm oder kalt, ich spüre die
Steine rund und hart unter den durchlaufenen Sohlen der Schuhe, durch die
widerwärtigen kratzenden Wollstrümpfe, durch die zerrissenen Sommersocken,
barfuß glatt und kühl, es ist eine rumpelige Straße, meiner Haut preßt sie
sich ein, ich bin noch nicht abgehärtet, alles liegt vor mir.
Zum Hafen führt es abwärts, ich hoffe, ich fürchte es geht in die Welt, fort
von der Hunnenstraße, geradenwegs zu den Chinesen, die sind gelb und tragen
lange schwarze Zöpfe, mein Kaiser straft sie, meinem Kaiser gehören die Schiffe
im Hafen, der Sommerdampfer nach Wiek, der Sonntagsdampfer nach Rügen,
die schweren Kahne mit den Kohlen, den Zuckerrüben, den Kartoffeln, dem
Korn, die Herings- und die Flunderboote mit ihren rostbraunen Segeln, der
schnelle Aviso, ein Panther gegen die Heiden, die meergraue nebelgraue feind-
graue sieggraue Torpedobootpatrouille, Regen kommt oft, Wasser stürzt aus
den Traufen, Ströme rinnen zur See, Unrat schifft stolz hinab.
Die Wagenräder sind eisenbeschlagen; sie poltern wie die Lafetten der
Kanonen, wie die Kugeln der alten Schweden die in die Stadtmauer drangen,
rollen und grollen wie Donner, die Häuser der Hunnenstraße erbeben, machen
sich klein, sind es gewohnt, kalkweißer Anstrich nun schmutzgrauer Fassaden,
schmalbrüstige Fronten, steile Giebel, rotgepfannte Dächer, verrußte Schorn-
steine, beißender Torfrauch.
Neben den niedrigen Fenstern wuchten Läden aus festem Holz, Windfange,
schlagen bei Sturm gegen Mauern und Scheiben. Die Bewohner zurren das
Holz fest, eine seemännische oder halbseemännische Bevölkerung, keilen die
Läden ein wie Segel auf untergangsnahen Schiffen. Am Abend rammen sie
die Türen zu, nageln sich ein, machen das Haus lukendicht, sitzen stolz und
furchtsam im Besitz den sie sichern, Gesindel ist nachts unterwegs. Des Poli-
zisten Säbel scheppert gegen die Steine, Funken sprühen, spitz blitzt der
Jugend 47
Helm, martialisch das treue Wächterauge, der Bart sträubt sich über dem
törichten Mund, die Mode geht nach der Majestät oder den Tigern, die Wind-
roten die lüttundlüttdunklen Backen wappen über den blauen Uniformkragen,
der Leib ist ein freundlicher Hafersack. Dieser Leib, dieser Hafersack! Das
Seitengewehr wird aufgepflanzt, in der Kaserne auf dem Exerzierplatz lernt
der Militäranwärter bajonettieren, ein Sack gilt für den Leib, ein rechter Mann
kämpft am liebsten Mann gegen Mann für Kaiser und Vaterland. Manchmal
träumt der Polizist, er ist der Sack. Sonst hat alles seine Ordnung. Die Gas-
laterne, schwarzes Schmiedeeisen düsterer Rabe, wie ein Galgen an das Haus
geschraubt. Die alte Straßenpumpe aus morschem Holz ist nicht gestohlen, der
Spülstein nicht beschmutzt. Kein Unfug im Revier. Des Königs Bürger, des
Kaisers Untertanen, des Schusters Kugel zugedeckt, der Tisch des Schneiders
hosenbodenblank. In Schütters Grünkramkeller keimen die Kartoffeln, um-
schlingen mit bleichen Armen in dunkler Begierde die Wruken.
Unter der Stube des Herrn Bürgerschullehrers geisterts verdächtig, und ver-
bissener klammert er sich an seine Vorstellung vom ernsten Leben, und aus-
zurotten ist das sündige Kindsein mit Rohrstock mit Stumpf und mit Stiel.
Frau Kapitän verwitwet in dicken Federbetten wie unter hohen Wogen be-
graben. Wo mag der Kapitän geblieben sein? Ach, im Silberrahmen auf der
Kommode gegen ein Schnörkelsäulchen gestützt, die Hand die das Ruder führte
auf ein Häkeldeckchen gelegt, chinesische Taifune, gelbe feuerspeiende Dra-
chen sind freundlich hinzuzudenken. Auch der Küster von Sankt Nikolai ist ein
sehr ernster Mann, schwarzer Gehrock, schwarze Krawatte, schwarzer Seelen-
hirtenhut. Ist noch sein Taschentuch schwarz, winkt er schwarz gegen den
Himmel? Antwortet dem schwarzen Mann sein schwarzer Himmel? Der Küster
blickt zum hohen Turm hinauf. Von der See kommt das Wetter. Der Blitz des
Herrgotts trifft jeden der vermessen sein Haupt hebt.
Sankt Nikolai wirft seinen schweren lutherischen Schatten in die Hunnen-
straße. Die Betrunkenen kommen erst später. Die Hunnenstraße heißt nicht
nach den Hunnen, die Hunnen überfallen die Straße, nur nicht zu Pferd, sie
ziehend triumphierend durch, sie sind die Sieger auch zu Fuß, so sind sie die
Helden, es sind fröhliche Leute, sie lachen, sie singen, sie treten das grobe
Pflaster, an besonderen Tagen mit Stulpenstiefeln und Sporen, sie blicken
ernst und fürchterlich mit aufgezwirbelten Schnurrbärten, sie schlagen, strei-
chen, wippen mit federnden Stöcken gegen die zerschundenen Gesimse, den
greisen Mörtel, den gnomgesichtigen Verputz der Häuser, sie schauen suchend
in die Fenster zur ebenen Erde, forschen zwischen den Betten, dem alten Haus-
altar von Zeugung und Geburt und Tod, zwischen den Gestängen der Wasch-
tische, den schilfumwundenen Wasserkannen, den vor- oder nachgehenden oder
stillstehenden Uhren mit dem schlagenden oder kranken Perpendikel, den
Köpfen toter Rehe, den Porträts hoher Herrschaften hinter Glas oder in Öl,
dem angestoßenen Nippes auf den Nußbaumvertikos, den Zuckerwerktän-
Herr Landrat, der Graf Bär — Bärenhoff, er sieht ein neues Morgenrot wo der
Feuerschein sich erhebt, ebenso der Kommandant der Garnison, Herr Major
v. Schulz, er fürchtet außer Gott nur seine Außerdienststellung und den langen
langen Tag allein mit der Frau Majorin und ohne Glanz und Untergebenheit,
und er fürchtet nicht, daß er avancieren wird und ein Oberst und ein Held
sein wird und ein toter noch dazu und in einem Heldengrab und in Erbfeinds-
land, es gibt keine Bäume und keine Maikäfer in der Hunnenstraße, Luft-
ballons fliegen, wer fliegt nicht mit, wiesengrün strandweiß ackergrau das Land,
unverteidigt die Küste, unruhig die See, der Nebel baut sich sein Reich, die
Türme aus rotem Backstein sind gegen den offenen oder den verhangenen
Himmel gesetzt, Kirchen wie brütende Hennen, Hünengräber im bestellten
Feld, nie erschlagene Riesen, Kornblumen und Mohn, Buchweizen trotzt dem
Gewitter, Buchweizengrütze schwappt mit der Milch über den Teller, Krähen
am Tag, in der Nacht Eulen.
Wie arme kahle Kinderschädel ragen die Hunnenstraßensteine eng anein-
ander gestampft aus der Erde, naß oder trocken, warm oder kalt, ich spüre die
Steine rund und hart unter den durchlaufenen Sohlen der Schuhe, durch die
widerwärtigen kratzenden Wollstrümpfe, durch die zerrissenen Sommersocken,
barfuß glatt und kühl, es ist eine rumpelige Straße, meiner Haut preßt sie
sich ein, ich bin noch nicht abgehärtet, alles liegt vor mir.
Zum Hafen führt es abwärts, ich hoffe, ich fürchte es geht in die Welt, fort
von der Hunnenstraße, geradenwegs zu den Chinesen, die sind gelb und tragen
lange schwarze Zöpfe, mein Kaiser straft sie, meinem Kaiser gehören die Schiffe
im Hafen, der Sommerdampfer nach Wiek, der Sonntagsdampfer nach Rügen,
die schweren Kahne mit den Kohlen, den Zuckerrüben, den Kartoffeln, dem
Korn, die Herings- und die Flunderboote mit ihren rostbraunen Segeln, der
schnelle Aviso, ein Panther gegen die Heiden, die meergraue nebelgraue feind-
graue sieggraue Torpedobootpatrouille, Regen kommt oft, Wasser stürzt aus
den Traufen, Ströme rinnen zur See, Unrat schifft stolz hinab.
Die Wagenräder sind eisenbeschlagen; sie poltern wie die Lafetten der
Kanonen, wie die Kugeln der alten Schweden die in die Stadtmauer drangen,
rollen und grollen wie Donner, die Häuser der Hunnenstraße erbeben, machen
sich klein, sind es gewohnt, kalkweißer Anstrich nun schmutzgrauer Fassaden,
schmalbrüstige Fronten, steile Giebel, rotgepfannte Dächer, verrußte Schorn-
steine, beißender Torfrauch.
Neben den niedrigen Fenstern wuchten Läden aus festem Holz, Windfange,
schlagen bei Sturm gegen Mauern und Scheiben. Die Bewohner zurren das
Holz fest, eine seemännische oder halbseemännische Bevölkerung, keilen die
Läden ein wie Segel auf untergangsnahen Schiffen. Am Abend rammen sie
die Türen zu, nageln sich ein, machen das Haus lukendicht, sitzen stolz und
furchtsam im Besitz den sie sichern, Gesindel ist nachts unterwegs. Des Poli-
zisten Säbel scheppert gegen die Steine, Funken sprühen, spitz blitzt der
Jugend 47
Helm, martialisch das treue Wächterauge, der Bart sträubt sich über dem
törichten Mund, die Mode geht nach der Majestät oder den Tigern, die Wind-
roten die lüttundlüttdunklen Backen wappen über den blauen Uniformkragen,
der Leib ist ein freundlicher Hafersack. Dieser Leib, dieser Hafersack! Das
Seitengewehr wird aufgepflanzt, in der Kaserne auf dem Exerzierplatz lernt
der Militäranwärter bajonettieren, ein Sack gilt für den Leib, ein rechter Mann
kämpft am liebsten Mann gegen Mann für Kaiser und Vaterland. Manchmal
träumt der Polizist, er ist der Sack. Sonst hat alles seine Ordnung. Die Gas-
laterne, schwarzes Schmiedeeisen düsterer Rabe, wie ein Galgen an das Haus
geschraubt. Die alte Straßenpumpe aus morschem Holz ist nicht gestohlen, der
Spülstein nicht beschmutzt. Kein Unfug im Revier. Des Königs Bürger, des
Kaisers Untertanen, des Schusters Kugel zugedeckt, der Tisch des Schneiders
hosenbodenblank. In Schütters Grünkramkeller keimen die Kartoffeln, um-
schlingen mit bleichen Armen in dunkler Begierde die Wruken.
Unter der Stube des Herrn Bürgerschullehrers geisterts verdächtig, und ver-
bissener klammert er sich an seine Vorstellung vom ernsten Leben, und aus-
zurotten ist das sündige Kindsein mit Rohrstock mit Stumpf und mit Stiel.
Frau Kapitän verwitwet in dicken Federbetten wie unter hohen Wogen be-
graben. Wo mag der Kapitän geblieben sein? Ach, im Silberrahmen auf der
Kommode gegen ein Schnörkelsäulchen gestützt, die Hand die das Ruder führte
auf ein Häkeldeckchen gelegt, chinesische Taifune, gelbe feuerspeiende Dra-
chen sind freundlich hinzuzudenken. Auch der Küster von Sankt Nikolai ist ein
sehr ernster Mann, schwarzer Gehrock, schwarze Krawatte, schwarzer Seelen-
hirtenhut. Ist noch sein Taschentuch schwarz, winkt er schwarz gegen den
Himmel? Antwortet dem schwarzen Mann sein schwarzer Himmel? Der Küster
blickt zum hohen Turm hinauf. Von der See kommt das Wetter. Der Blitz des
Herrgotts trifft jeden der vermessen sein Haupt hebt.
Sankt Nikolai wirft seinen schweren lutherischen Schatten in die Hunnen-
straße. Die Betrunkenen kommen erst später. Die Hunnenstraße heißt nicht
nach den Hunnen, die Hunnen überfallen die Straße, nur nicht zu Pferd, sie
ziehend triumphierend durch, sie sind die Sieger auch zu Fuß, so sind sie die
Helden, es sind fröhliche Leute, sie lachen, sie singen, sie treten das grobe
Pflaster, an besonderen Tagen mit Stulpenstiefeln und Sporen, sie blicken
ernst und fürchterlich mit aufgezwirbelten Schnurrbärten, sie schlagen, strei-
chen, wippen mit federnden Stöcken gegen die zerschundenen Gesimse, den
greisen Mörtel, den gnomgesichtigen Verputz der Häuser, sie schauen suchend
in die Fenster zur ebenen Erde, forschen zwischen den Betten, dem alten Haus-
altar von Zeugung und Geburt und Tod, zwischen den Gestängen der Wasch-
tische, den schilfumwundenen Wasserkannen, den vor- oder nachgehenden oder
stillstehenden Uhren mit dem schlagenden oder kranken Perpendikel, den
Köpfen toter Rehe, den Porträts hoher Herrschaften hinter Glas oder in Öl,
dem angestoßenen Nippes auf den Nußbaumvertikos, den Zuckerwerktän-