44 Wolfgang Koeppen
demütigen lassen, ihrer Herkunft wegen. Maria beneidet Fräulein Wronker
wegen ihres Gespanns und ihrer Aussichten, aber sie verachtet sie zugleich und
ganz echt und denkt, mit der tausche ich nicht. Bei Susemihl riecht es nach
Marinaden. Wein aus Frankreich in Fässern und in soliden Flaschen. Lager-
bier gärt. Aus Brüggemanns Warenhaus kommt der leimige Stärkegeruch der
Stoffe. In Bugenhagens Buchhandlung knistert Gelehrsamkeit aus Papier wie
ein Kamm, den man durchs Haar führt. Trocken, manchmal ein Funke.
Alle Fenster beobachten Maria, Krötenaugen aus einem trüben Wasser.
Maria ist neunzehn Jahre alt und blüht. Bismarck zieht sie wie eine von Borsigs
neuen Lokomotiven vorwärts. Bismarck ist groß, er ist kräftig, er beschützt
sie, seine Muskeln spielen unter dem kurzen Haar, sein Mund droht, sein Blick
ist treu. Maria kennt alle Farben der Landsmannschaften, der Burschenschaften,
der Corps. Es ist die große Welt die über die Lange Straße läuft, denn alle die
eine bunte Mütze tragen, ein Band über der Brust haben und Schmisse im Ge-
sicht, sind berufen, sie sind die Gesellschaft, die Stützen von Thron und Altar,
sie sind das Deutsche Reich. Nichts zählt außer ihnen die hervorragen. Der
junge Kommis bei Susemihl errötet, wenn Maria kommt, ein lächerlicher Mann,
ein Heringsbändiger, auch wenn er für sie den einen Salzfisch als ihrer und
ihrer Mutter Mittagbrot mit der Holzzange aus der schuppenschillernden Lauge
holt. Den Schuster muß sie bitten, die durchgelaufenen Sohlen ihrer Schuhe
nocheinmal, ein letztes Mal zu richten. Der Schuster ist kein Mann, genau
genommen ist er kein Mensch. Er ist eine Funktion, er hat Schuhe zu machen
und zu flicken, weil die Gesellschaft, diese sakrosankte Institution, zu der Maria
nicht gehört, zu der sie sich aber zählt, ihre Füße bekleidet. Des Schusters Hand
ist geschickt, aber sie gilt nichts. Schließt er die Werkstatt, tritt er zurück in
die Gesichtslosigkeit der Gemeinen. Vor der in Drillich gekleideten Mannschaft
auf dem Exerzierplatz, vor dem roten Klinkerbau der Kaserne steht der Leut-
nant. Ihn grüßt selbst der Borusse mit dem weißen Stürmer zuerst. Maria ist gut-
mütig. Sie hätte den Schuster als Bettler bemitleidet; wäre er wegen Miet-
schulden aus seiner Werkstatt oder seiner Wohnung geworfen worden, hätte
sie sein Unglück gerührt, wie ihr eigenes, ihrer Mutter trauriges Los sie immer
wieder zu Tränen brachte. Maria ist gutmütig, aber der Schuhmacher als Stand,
als Handwerker ist ein unmöglicher Mensch. Da Maria arm ist, verehrt sie den
Besitz. Da sie sich deklassiert fühlt, bewundert sie um so mehr die herrschende
Klasse. Der Arme hat an Brot zu denken. Der Reiche beschäftigt sich mit
Blumen. Maria hat keine Ahnung, wie Besitz erworben wird. Sie versucht sich
mit verbundenen Augen (die Binde der Torheit liegt über ihnen) in dem
Balanceakt, ohne Geld und ohne soziale Stellung eine junge Dame zu sein.
Wer arbeitet, Dienste leistet, einem Erwerb nachgeht, ist aus der Damenwelt
ausgestoßen, und so leben Maria und ihre Mutter vom Zimmervermieten an
Studenten und manchmal auch an einen Dozenten. Da ist sie zu Bismarck
gekommen, der einem Herrn gehört, der die venia legendi der Augenheilkunde
Jugend 45
besitzt und wenn das Wetter schön ist, in einen Freiballon steigt, um über der
Stadt zu schweben. Wie schön ist diese hohe Stunde des Tages auf der Langen
Straße, im von der Seeluft verklärten Licht des Sommers oder dem weihnacht-
lichen Gasglühlichtschein der Schaufenster und Laternen.
Es war nicht schön, was man sprach, und wie man es sich erzählte, und
am widerwärtigsten war, daß sie nun hinhören mußte, um etwas aufzuschnap-
pen, das sie nicht wissen wollte, was zu wissen aber nun wichtig war, Welt ver-
wandelte sich, kein neues Ufer wurde erreicht, ein altes Land, das Müttertal,
eine Weiberhölle‚ Mutterkornräusche, Hexenbräu, ausweglose Wälder, und
an den dunklen hohen Bäumen ein Schild, Juniperus Sabina, wie im Botani-
schen Garten von Professor Pryl, klebriges Getuschel, gemeinmachendes Ge-
kicher, verhangene Fenster, ein Haushalten mit dem Entsetzen, ihr muß es
vorgekommen sein, als hätte sie bis dahin nicht hören können, nicht sehen,
nicht lesen, selbst nicht tasten, fühlen, riechen, denn überall waren die ent-
setzlichen Geheimnisse, hinter ganz gewöhnlichen Dingen versteckt, oder allen-
falls hinter Allegorien oder Symbolen, die sie nicht beachtet und nicht gedeutet
hatte, bis sie sie beachten und deuten mußte, und die Freundin, die Tochter
einer Klavierlehrerin‚ die munter springende Käte Kasch, von der ihr gesagt
worden war, sie ist keine Freundin, nicht für dich, du darfst nicht mit ihr ver-
kehren, sie hält nicht auf sich, man weiß, wohin das führt, und ja, man hatte
es richtig gewußt, es führte wohin, Käte Kasch war unterrichteter und bestä-
tigte die Angst, und dann kamen die alten Hausrezepte zu Ehren, Teeabko-
chungen, Tannennadelabsude, der Rotspon von Kaufmann Susemihl, mit
Safran Nelken und Zimt erhitzt, Wechselbäder für Arme und Füße, die kalten
und die warmen Handduschen und dann die dunstenden, und auf eine schmut-
zige Art sauberen Stuben dieser Frauen, ihre roten Sodahände, ihre ausge-
laugten Wäscherinnenhände, ihre schamlosen Schwesternhände und die Ge-
wißheit, verloren zu sein, gebrandmarkt auf dem Altar der hämischen Göttin
Sitte, untertan der einsichtslosen gebärsüchtigen Natur, und der Ekel vor
diesen Händen, und der Ekel vor diesen kalten abschätzenden Augen, die
Angst vor den runden und den spitzen Werkzeugen, der Widerwille am eige-
nen Leib, das Schlagen auf den Leib, die verzweifelten Tanzschritte und die
Seilsprünge und die Treppen hinauf und hinab, wo allein ein Sprung vom
hohen Nikolaiturm geholfen hätte und wohl von ihr erwogen war.
Pommerland ist abgebrannt, noch nicht, noch lange nicht oder bald, Pommer-
land bereitet sich gründlich auf das Feuer vor, die Lunte wird gelegt, der
Zündschwamm gehegt, Schwefel wird verstreut und Pech, das schwillt und
fault und wächst, auch in dir brennt der Keim, du weißt es nicht, du merkst
es nicht, du denkst nicht, wie solltest du, niemand merkt was, niemand denkt,
selbst Professoren der Universität merken nichts und denken nicht, ebenso der
demütigen lassen, ihrer Herkunft wegen. Maria beneidet Fräulein Wronker
wegen ihres Gespanns und ihrer Aussichten, aber sie verachtet sie zugleich und
ganz echt und denkt, mit der tausche ich nicht. Bei Susemihl riecht es nach
Marinaden. Wein aus Frankreich in Fässern und in soliden Flaschen. Lager-
bier gärt. Aus Brüggemanns Warenhaus kommt der leimige Stärkegeruch der
Stoffe. In Bugenhagens Buchhandlung knistert Gelehrsamkeit aus Papier wie
ein Kamm, den man durchs Haar führt. Trocken, manchmal ein Funke.
Alle Fenster beobachten Maria, Krötenaugen aus einem trüben Wasser.
Maria ist neunzehn Jahre alt und blüht. Bismarck zieht sie wie eine von Borsigs
neuen Lokomotiven vorwärts. Bismarck ist groß, er ist kräftig, er beschützt
sie, seine Muskeln spielen unter dem kurzen Haar, sein Mund droht, sein Blick
ist treu. Maria kennt alle Farben der Landsmannschaften, der Burschenschaften,
der Corps. Es ist die große Welt die über die Lange Straße läuft, denn alle die
eine bunte Mütze tragen, ein Band über der Brust haben und Schmisse im Ge-
sicht, sind berufen, sie sind die Gesellschaft, die Stützen von Thron und Altar,
sie sind das Deutsche Reich. Nichts zählt außer ihnen die hervorragen. Der
junge Kommis bei Susemihl errötet, wenn Maria kommt, ein lächerlicher Mann,
ein Heringsbändiger, auch wenn er für sie den einen Salzfisch als ihrer und
ihrer Mutter Mittagbrot mit der Holzzange aus der schuppenschillernden Lauge
holt. Den Schuster muß sie bitten, die durchgelaufenen Sohlen ihrer Schuhe
nocheinmal, ein letztes Mal zu richten. Der Schuster ist kein Mann, genau
genommen ist er kein Mensch. Er ist eine Funktion, er hat Schuhe zu machen
und zu flicken, weil die Gesellschaft, diese sakrosankte Institution, zu der Maria
nicht gehört, zu der sie sich aber zählt, ihre Füße bekleidet. Des Schusters Hand
ist geschickt, aber sie gilt nichts. Schließt er die Werkstatt, tritt er zurück in
die Gesichtslosigkeit der Gemeinen. Vor der in Drillich gekleideten Mannschaft
auf dem Exerzierplatz, vor dem roten Klinkerbau der Kaserne steht der Leut-
nant. Ihn grüßt selbst der Borusse mit dem weißen Stürmer zuerst. Maria ist gut-
mütig. Sie hätte den Schuster als Bettler bemitleidet; wäre er wegen Miet-
schulden aus seiner Werkstatt oder seiner Wohnung geworfen worden, hätte
sie sein Unglück gerührt, wie ihr eigenes, ihrer Mutter trauriges Los sie immer
wieder zu Tränen brachte. Maria ist gutmütig, aber der Schuhmacher als Stand,
als Handwerker ist ein unmöglicher Mensch. Da Maria arm ist, verehrt sie den
Besitz. Da sie sich deklassiert fühlt, bewundert sie um so mehr die herrschende
Klasse. Der Arme hat an Brot zu denken. Der Reiche beschäftigt sich mit
Blumen. Maria hat keine Ahnung, wie Besitz erworben wird. Sie versucht sich
mit verbundenen Augen (die Binde der Torheit liegt über ihnen) in dem
Balanceakt, ohne Geld und ohne soziale Stellung eine junge Dame zu sein.
Wer arbeitet, Dienste leistet, einem Erwerb nachgeht, ist aus der Damenwelt
ausgestoßen, und so leben Maria und ihre Mutter vom Zimmervermieten an
Studenten und manchmal auch an einen Dozenten. Da ist sie zu Bismarck
gekommen, der einem Herrn gehört, der die venia legendi der Augenheilkunde
Jugend 45
besitzt und wenn das Wetter schön ist, in einen Freiballon steigt, um über der
Stadt zu schweben. Wie schön ist diese hohe Stunde des Tages auf der Langen
Straße, im von der Seeluft verklärten Licht des Sommers oder dem weihnacht-
lichen Gasglühlichtschein der Schaufenster und Laternen.
Es war nicht schön, was man sprach, und wie man es sich erzählte, und
am widerwärtigsten war, daß sie nun hinhören mußte, um etwas aufzuschnap-
pen, das sie nicht wissen wollte, was zu wissen aber nun wichtig war, Welt ver-
wandelte sich, kein neues Ufer wurde erreicht, ein altes Land, das Müttertal,
eine Weiberhölle‚ Mutterkornräusche, Hexenbräu, ausweglose Wälder, und
an den dunklen hohen Bäumen ein Schild, Juniperus Sabina, wie im Botani-
schen Garten von Professor Pryl, klebriges Getuschel, gemeinmachendes Ge-
kicher, verhangene Fenster, ein Haushalten mit dem Entsetzen, ihr muß es
vorgekommen sein, als hätte sie bis dahin nicht hören können, nicht sehen,
nicht lesen, selbst nicht tasten, fühlen, riechen, denn überall waren die ent-
setzlichen Geheimnisse, hinter ganz gewöhnlichen Dingen versteckt, oder allen-
falls hinter Allegorien oder Symbolen, die sie nicht beachtet und nicht gedeutet
hatte, bis sie sie beachten und deuten mußte, und die Freundin, die Tochter
einer Klavierlehrerin‚ die munter springende Käte Kasch, von der ihr gesagt
worden war, sie ist keine Freundin, nicht für dich, du darfst nicht mit ihr ver-
kehren, sie hält nicht auf sich, man weiß, wohin das führt, und ja, man hatte
es richtig gewußt, es führte wohin, Käte Kasch war unterrichteter und bestä-
tigte die Angst, und dann kamen die alten Hausrezepte zu Ehren, Teeabko-
chungen, Tannennadelabsude, der Rotspon von Kaufmann Susemihl, mit
Safran Nelken und Zimt erhitzt, Wechselbäder für Arme und Füße, die kalten
und die warmen Handduschen und dann die dunstenden, und auf eine schmut-
zige Art sauberen Stuben dieser Frauen, ihre roten Sodahände, ihre ausge-
laugten Wäscherinnenhände, ihre schamlosen Schwesternhände und die Ge-
wißheit, verloren zu sein, gebrandmarkt auf dem Altar der hämischen Göttin
Sitte, untertan der einsichtslosen gebärsüchtigen Natur, und der Ekel vor
diesen Händen, und der Ekel vor diesen kalten abschätzenden Augen, die
Angst vor den runden und den spitzen Werkzeugen, der Widerwille am eige-
nen Leib, das Schlagen auf den Leib, die verzweifelten Tanzschritte und die
Seilsprünge und die Treppen hinauf und hinab, wo allein ein Sprung vom
hohen Nikolaiturm geholfen hätte und wohl von ihr erwogen war.
Pommerland ist abgebrannt, noch nicht, noch lange nicht oder bald, Pommer-
land bereitet sich gründlich auf das Feuer vor, die Lunte wird gelegt, der
Zündschwamm gehegt, Schwefel wird verstreut und Pech, das schwillt und
fault und wächst, auch in dir brennt der Keim, du weißt es nicht, du merkst
es nicht, du denkst nicht, wie solltest du, niemand merkt was, niemand denkt,
selbst Professoren der Universität merken nichts und denken nicht, ebenso der