Jugend. Eine Erinnerung1

Wolfgang Koeppen: „Jugend. Eine Erinnerung“, in: Merkur 24/1 (1971), 43-58.

Archivmappe
Wkoe, MID355-19583
Absolute Datierung
31.1.1971
Zuordnung
Publikation: "Jugend. Eine Erinnerung (Merkur 1971)" 2
Kopie
nein
Durchschlag
nein
WOLFGANG KOEPPEN
Jugend
Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde, und Maria, die sich Mary nannte,
glaubte, daß er auch ihre Stadt geschaffen habe und in ihr sich sonnte, wenn
auch nicht zu verstehen war, daß er so kalt auf das Unglück blickte, es sei
denn, daß die Unglücklichen vom Samen her schlecht und aus seinem Angesicht
verstoßen waren, viele behaupteten das, aber es stimmte nicht oder nicht ganz,
und also schaute Gott einfältig herab, was Maria billigte, denn auch sie hätte
gern gesehen, daß alles gut war, weil sie die Stadt liebte und schätzte vor
allen anderen, die sie nicht kannte.
Maria läuft mit Bismarck über die Lange Straße, promeniert mit Bismarck
zur Stunde des Bummels zwischen fünf und sechs, wenn alle dort wandern
und sich zeigen, die Ordnung streng und die Sitte auf eine wiederum von der
Sitte gebilligte Weise gefährdet ist, Maria freut sich, daß sie mit Bismarck
läuft, der ihr nicht gehört, aber auf sie hört, so daß ihr ein neues Ansehen,
wie sie meint, von Bismarck kommt, sie liebt ihn und ist stolz.
Sie achtet nicht, wie eng die Verhältnisse sind, wie begrenzt der Spielraum,
wie erstarrt die Regeln. Sie atmet Welt. Ein Prinz aus dem Kaiserhaus ist in
die Stadt gekommen. Landrat, Bürgermeister, Polizeidirektor, Platzmajor, der
Rektor der Universität beugen ehrfürchtig die Nacken. Der Prinz sagt Erwar-
tetes, der Prinz ist gnädig. Gehröcke, Zylinderhüte, Uniformen und wehende
Helmbüsche und der volle Wichs der Studenten beherrschen die Lange Straße.
Maria hat kein Gespür für die Dämonen, die sie umgeben und die Herren
der Szene sind, denn diese Dämonen sind alt und grau und haben das bunte
Schauspiel der Parade nur erfunden, um von sich abzulenken und grau in
grauen Wohnungen der Lust und Inzucht alter Vampire leben zu können. Ge-
lächter, Maria hört es oder sie will es nicht hören oder weiß nicht was es
bedeutet, schrammt aus den Fenstern, Gelächter über sie die unten sind,
damit sie unten bleiben. Aus allen Kellerluken dunstet Bauernherkunft, Bauern-
geiz, die nie vergessene Schuld des aufgegebenen Ackers, der im Herzen wur-
zelnde Zweifel, ob die Stadt sie auch schützen würde und für immer. Wronkers
Essig- und Mostrichfabrik säuert die Gassen, säuert den Weg zum Grauen
Kloster, zum Altenasyl, zur Grauen Klosterschule der Bürgerkinder. Fräulein
Wronker fährt zweispännig über das Kopfsteinpflaster. Ein Doktor beider
Rechte geht über den Wall und denkt, Fräulein Wronker zu heiraten. Die
Tochter des Essigmischers wird Frau Rechtsanwalt, Frau Notar, vielleicht gar
Frau Staatsanwalt oder Frau Amtsgerichtsrat. Sie wird ein Haus führen, eine
dumme Ziege, die sich dem Lebensstil der anderen dummen Ziegen, die schon
Frau Amtsgerichtsrat sind, anpassen wird. Fräulein Wronker wird sich sogar