Satzvorlage Seite 086

Satzvorlage für „Jugend“ aus dem Siegfried Unseld Archiv (SUA) im Deutschen Literaturarchiv Marbach / Wolfgang Koeppen: „Jugend. Eine Erinnerung“, in: Merkur 24/1 (1971), 43-58.

Archivmappe
Satzvorlage
Absolute Datierung
-
Zuordnung
Publikation: "Jugend. Eine Erinnerung (Merkur 1971)" 44
Kopie
nein
Durchschlag
nein
Sie hatten ihn erschlagen, sie hatten ihn im Wald erschlagen, er hatte um Hilfe
geschrien, vielleicht hatte er auch nicht um Hilfe geschrien, denn er wußte ja,
daß alle Ohren taub waren und einer hatte einen Spaten, einen Feldspaten mit
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kurzem Stiel, die Waffe, die die Generäle überrascht hatte, mit der die Generäle
nicht fertig geworden waren, die den Krieg entschieden verloren oder ge-
wonnen hatten, sie konnten den Spaten am Koppel tragen, und sie trugen ihn
gern am Koppel, auch als sie nicht mehr dazu gezwungen waren den Spaten
am Koppel oder sonstwo zu tragen, und sie hätten gehen können, wohin sie
gewollt hätten, auseinanderlaufen, von der Fahne fort, es schon lange nicht
mehr gab, aus der erzwungenen Gemeinschaft weg, vom Regiment des Todes,
aber sie wollten nicht auseinanderlaufen, nicht von der Gemeinschaft weg, vom
Tod und dem Befehl, sie fürchteten, ihre Körper könnten verlorengehen in der
Freiheit, hinweggezaubert werden, plötzlich nicht mehr da sein, sie brauchten
ein Koppel um den Leib und ein festes Schloß mit Gott für König und Vater-
land oder nur mit Gott mit uns, und einer schlug mit dem Spaten auf ihn ein,
von hinten, sie hatten ihn vorangehen lassen, sie trotteten durch den Wald, der
eine traf seinen Hinterkopf gut und von hinten dann fiel er, fiel auf den Wald-
boden, fiel in das Eichenlaub das Lindenlaub die Buchenblätter das Birkenholz,
er schmeckte noch das Moos, bitter, und vielleicht hätte er Kresse gemocht zum
Karpfen oder zum Heilbutt, wenn er Pastor geworden wäre wie er Pastor hatte
werden wollen, am Karfreitag oder am Heiligen Abend nach dem heiligen
Abendmahl nach der Predigt, und sie drehten ihn auf den Rücken und traten
ihn mit genagelten Marschstiefeln, zurückmarschiert waren von Ver-
dun, Brest, Litowsk und Gallipoli, sie marschierten vorwärts mit ihren ge-
nagelten Marschstiefeln in sein Gedärme hinein, zerquetschten seine Brust,
stampften die Marschnägel der Knobelbecher auf seine Augen, bohrten die
metallbeschlagenen Stiefelspitzen in seine gespaltene Stirn, sahen schließlich,
was sie sehen wollten, sein Hirn, begriffen nichts, blickten stumpf auf graue
Zellen, auf den Abfall eines Menschen, der gehabt hatte, womit sie nicht ge-
segnet waren, Einmaligkeit, Verstand, ein Herz, eine Zunge zu reden, den
Glauben an die Unsterblichkeit seiner Seele, der mutig gewesen war, nicht nur
vor Verdun, nicht nur auf Befehl, den der Tod geschmerzt hatte, er ihn
erblickte, der Verwundungen erlitten hatte, sichtbare und unsichtbare, und der
in sich gespeichert hatte die Schätze seines menschlichen Erbes, Bibliotheken
von Ephesos, von Babylon, von Alexandria, die Bergpredigt, die Freiheit eines
Christenmenschen im Pfarrhaus besprochen, die Menschenrechte aller Men-
schen, die lateinische die griechische die hebräische Sprache, Tolstoi im Winter-
sturm ein armer Bauer auf Jasnaja Poljana und der ferne Sturm der O-Mensch-
Rufe an Berliner Caféhaus-Tischen, und dann gruben sie ihn ein, wozu hatten
sie den Spaten, sie mühten sich nicht sehr, sie höhlten das Loch mit dem blut-
beschmierten Eisen, oberflächlich, sie hatten nichts zu fürchten, sie fluchten
nur über die Wurzeln der Bäume, die sie hinderten, sie hackten mit dem Spaten
in die weitverzweigten Wurzeln hinein, sie gaben seinem Leichnam den letzten
Tritt in die Grube, sie scharrten ihn zu. Hier lag ein Hünengrab. Ein Fuchs fand
sein Fleisch. Oder ein Eber. Er war ihnen zu mager.