Satzvorlage Seite 008
Satzvorlage für „Jugend“ aus dem Siegfried Unseld Archiv (SUA) im Deutschen Literaturarchiv Marbach / Wolfgang Koeppen: „Jugend. Eine Erinnerung“, in: Merkur 24/1 (1971), 43-58.
Jugend 47
Helm, martialisch das treue Wächterauge, der Bart sträubt sich über dem
törichten Mund, die Mode geht nach der Majestät oder den Tigern, die Wind-
roten , die lüttundlüttdunklen Backen wappen über den blauen Uniformkragen,
der Leib ist ein freundlicher Hafersack. Dieser Leib, dieser Hafersack! Das
Seitengewehr wird aufgepflanzt, in der Kaserne auf dem Exerzierplatz lernt
der Militäranwärter bajonettieren, ein Sack gilt für den Leib, ein rechter Mann
kämpft am liebsten Mann gegen Mann für Kaiser und Vaterland. Manchmal
träumt der Polizist, er ist der Sack. Sonst hat alles seine Ordnung. Die Gas-
laterne, schwarzes Schmiedeeisen düsterer Rabe, wie ein Galgen an das Haus
geschraubt. Die alte Straßenpumpe aus morschem Holz ist nicht gestohlen, der
Spülstein nicht beschmutzt. Kein Unfug im Revier. Des Königs Bürger, des
Kaisers Untertanen, des Schusters Kugel zugedeckt, der Tisch des Schneiders
hosenbodenblank. In Schütters Grünkramkeller keimen die Kartoffeln, um-
schlingen mit bleichen Armen in dunkler Begierde die Wruken.
Unter der Stube des Herrn Bürgerschullehrers geisterts verdächtig, und ver-
bissener klammert er sich an seine Vorstellung vom ernsten Leben, und aus-
zurotten ist das sündige Kindsein mit am Rohrstock mit Stumpf und mit Stiel.
Frau Kapitän verwitwet in dicken Federbetten wie unter hohen Wogen be-
graben. Wo mag der Kapitän geblieben sein? Ach, im Silberrahmen auf der
Kommode gegen ein Schnörkelsäulchen gestützt, die Hand , die das Ruder führte ,
auf ein Häkeldeckchen gelegt, chinesische Taifune, gelbe feuerspeiende Dra-
chen sind freundlich hinzuzudenken. Auch der Küster von Sankt Nikolai ist ein
sehr ernster Mann, schwarzer Gehrock, schwarze Krawatte, schwarzer Seelen-
hirtenhut. Ist noch auch sein Taschentuch schwarz, winkt er schwarz gegen den
Himmel? Antwortet dem schwarzen Mann sein schwarzer Himmel? Der Küster
blickt zum hohen Turm hinauf. Von der See kommt das Wetter. Der Blitz des
Herrgotts trifft jeden , der vermessen sein Haupt hebt.
Sankt Nikolai wirft seinen schweren lutherischen Schatten in die Hunnen-
straße. Die Betrunkenen kommen erst später. Die Hunnenstraße heißt nicht
nach den Hunnen, die Hunnen überfallen die Straße, nur nicht zu Pferd, sie
ziehend triumphierend durch, sie sind die Sieger auch zu Fuß, so sind sie die /
Helden, es sind fröhliche Leute, sie lachen, sie singen, sie treten das grobe
Pflaster, an besonderen Tagen mit Stulpenstiefeln und Sporen, sie blicken
ernst und fürchterlich mit aufgezwirbelten Schnurrbärten, sie schlagen, strei-
chen, wippen mit federnden Stöcken gegen die zerschundenen Gesimse, den
greisen Mörtel, den gnomgesichtigen Verputz der Häuser, sie schauen suchend
in die Fenster zur ebenen Erde, forschen zwischen den Betten, dem alten Haus-
altar von Zeugung und Geburt und Tod, zwischen den Gestängen der Wasch-
tische, den schilfumwundenen Wasserkannen, den vor- oder nachgehenden oder
stillstehenden Uhren mit dem schlagenden oder kranken Perpendikel, den
Köpfen toter Rehe, den Porträts hoher Herrschaften hinter Glas oder in Öl,
dem angestoßenen Nippes auf den Nußbaumvertikos, den Zuckerwerktän-
Helm, martialisch das treue Wächterauge, der Bart sträubt sich über dem
törichten Mund, die Mode geht nach der Majestät oder den Tigern, die Wind-
roten , die lüttundlüttdunklen Backen wappen über den blauen Uniformkragen,
der Leib ist ein freundlicher Hafersack. Dieser Leib, dieser Hafersack! Das
Seitengewehr wird aufgepflanzt, in der Kaserne auf dem Exerzierplatz lernt
der Militäranwärter bajonettieren, ein Sack gilt für den Leib, ein rechter Mann
kämpft am liebsten Mann gegen Mann für Kaiser und Vaterland. Manchmal
träumt der Polizist, er ist der Sack. Sonst hat alles seine Ordnung. Die Gas-
laterne, schwarzes Schmiedeeisen düsterer Rabe, wie ein Galgen an das Haus
geschraubt. Die alte Straßenpumpe aus morschem Holz ist nicht gestohlen, der
Spülstein nicht beschmutzt. Kein Unfug im Revier. Des Königs Bürger, des
Kaisers Untertanen, des Schusters Kugel zugedeckt, der Tisch des Schneiders
hosenbodenblank. In Schütters Grünkramkeller keimen die Kartoffeln, um-
schlingen mit bleichen Armen in dunkler Begierde die Wruken.
Unter der Stube des Herrn Bürgerschullehrers geisterts verdächtig, und ver-
bissener klammert er sich an seine Vorstellung vom ernsten Leben, und aus-
zurotten ist das sündige Kindsein mit am Rohrstock mit Stumpf und mit Stiel.
Frau Kapitän verwitwet in dicken Federbetten wie unter hohen Wogen be-
graben. Wo mag der Kapitän geblieben sein? Ach, im Silberrahmen auf der
Kommode gegen ein Schnörkelsäulchen gestützt, die Hand , die das Ruder führte ,
auf ein Häkeldeckchen gelegt, chinesische Taifune, gelbe feuerspeiende Dra-
chen sind freundlich hinzuzudenken. Auch der Küster von Sankt Nikolai ist ein
sehr ernster Mann, schwarzer Gehrock, schwarze Krawatte, schwarzer Seelen-
hirtenhut. Ist noch auch sein Taschentuch schwarz, winkt er schwarz gegen den
Himmel? Antwortet dem schwarzen Mann sein schwarzer Himmel? Der Küster
blickt zum hohen Turm hinauf. Von der See kommt das Wetter. Der Blitz des
Herrgotts trifft jeden , der vermessen sein Haupt hebt.
Sankt Nikolai wirft seinen schweren lutherischen Schatten in die Hunnen-
straße. Die Betrunkenen kommen erst später. Die Hunnenstraße heißt nicht
nach den Hunnen, die Hunnen überfallen die Straße, nur nicht zu Pferd, sie
ziehend triumphierend durch, sie sind die Sieger auch zu Fuß, so sind sie die /
Helden, es sind fröhliche Leute, sie lachen, sie singen, sie treten das grobe
Pflaster, an besonderen Tagen mit Stulpenstiefeln und Sporen, sie blicken
ernst und fürchterlich mit aufgezwirbelten Schnurrbärten, sie schlagen, strei-
chen, wippen mit federnden Stöcken gegen die zerschundenen Gesimse, den
greisen Mörtel, den gnomgesichtigen Verputz der Häuser, sie schauen suchend
in die Fenster zur ebenen Erde, forschen zwischen den Betten, dem alten Haus-
altar von Zeugung und Geburt und Tod, zwischen den Gestängen der Wasch-
tische, den schilfumwundenen Wasserkannen, den vor- oder nachgehenden oder
stillstehenden Uhren mit dem schlagenden oder kranken Perpendikel, den
Köpfen toter Rehe, den Porträts hoher Herrschaften hinter Glas oder in Öl,
dem angestoßenen Nippes auf den Nußbaumvertikos, den Zuckerwerktän-