Satzvorlage Seite 007
Satzvorlage für „Jugend“ aus dem Siegfried Unseld Archiv (SUA) im Deutschen Literaturarchiv Marbach / Wolfgang Koeppen: „Jugend. Eine Erinnerung“, in: Merkur 24/1 (1971), 43-58.
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46 Wolfgang Koeppen
Herr Landrat, der Graf Bär — Bärenhoff, er sieht ein neues Morgenrot wo der
Feuerschein sich erhebt, ebenso der Kommandant der Garnison, Herr Major
v. Schulz, er fürchtet außer Gott nur seine Außerdienststellung und den langen
langen Tag allein mit der Frau Majorin und ohne Glanz und Untergebenheit,
und er fürchtet nicht, daß er avancieren wird und ein Oberst und ein Held
sein wird und ein toter noch dazu und in einem Heldengrab und in Erbfeinds-
land, es gibt keine Bäume und keine Maikäfer in der Hunnenstraße, Luft-
ballons fliegen, wer fliegt nicht mit, wiesengrün strandweiß ackergrau das Land,
unverteidigt die Küste, unruhig die See, der Nebel baut sich sein Reich, die
Türme aus rotem Backstein sind gegen den offenen oder den verhangenen
Himmel gesetzt, Kirchen wie brütende Hennen, Hünengräber im bestellten
Feld, nie erschlagene Riesen, Kornblumen und Mohn, Buchweizen trotzt dem
Gewitter, Buchweizengrütze schwappt mit der Milch über den Teller, Krähen
am Tag, in der Nacht Eulen.
Wie arme kahle Kinderschädel ragen die Hunnenstraßensteine eng anein-
ander gestampft aus der Erde, naß oder trocken, warm oder kalt, ich spüre die
X Steine rund und hart unter den durchlaufenen Sohlen der Schuhe, durch die
widerwärtigen kratzenden Wollstrümpfe, durch die zerrissenen Sommersocken,
barfuß glatt und kühl, es ist eine rumpelige Straße, meiner Haut preßt sie
sich ein, ich bin noch nicht abgehärtet, alles liegt vor mir.
Zum Hafen führt es abwärts, ich hoffe, ich fürchte es geht in die Welt, fort
von der Hunnenstraße, geradenwegs zu den Chinesen, die sind gelb und tragen
lange schwarze Zöpfe, mein Kaiser straft sie, meinem Kaiser gehören die Schiffe
X im Hafen, der Sommerdampfer nach Wiek, der Sonntagsdampfer nach Rügen,
die schweren Kahne mit den Kohlen, den Zuckerrüben, den Kartoffeln, dem
Korn, die Herings- und die Flunderboote mit ihren rostbraunen Segeln, der
schnelle Aviso, ein Panther gegen die Heiden, die meergraue nebelgraue feind- /
graue sieggraue Torpedobootpatrouille, Regen kommt oft, Wasser stürzt aus
den Traufen, Ströme rinnen zur See, Unrat schifft stolz hinab.
Die Wagenräder sind eisenbeschlagen; sie poltern wie die Lafetten der
Kanonen, wie die Kugeln der alten Schweden die in die Stadtmauer drangen,
rollen und grollen wie Donner, die Häuser der Hunnenstraße erbeben, machen
sich klein, sind es gewohnt, kalkweißer Anstrich nun schmutzgrauer Fassaden,
schmalbrüstige Fronten, steile Giebel, rotgepfannte Dächer, verrußte Schorn-
steine, beißender Torfrauch.
Neben den niedrigen Fenstern wuchten Läden aus festem Holz, Windfange,
schlagen bei Sturm gegen Mauern und Scheiben. Die Bewohner zurren das
Holz fest, eine seemännische oder halbseemännische Bevölkerung, keilen die
Läden ein wie Segel auf untergangsnahen Schiffen. Am Abend rammen sie
die Türen zu, nageln sich ein, fest machen das Haus lukendicht, sitzen stolz und
furchtsam im Besitz den sie sichern, Gesindel ist nachts unterwegs. Des Poli-
zisten Säbel scheppert gegen die Steine, Funken sprühen, spitz blitzt der
46 Wolfgang Koeppen
Herr Landrat, der Graf Bär — Bärenhoff, er sieht ein neues Morgenrot wo der
Feuerschein sich erhebt, ebenso der Kommandant der Garnison, Herr Major
v. Schulz, er fürchtet außer Gott nur seine Außerdienststellung und den langen
langen Tag allein mit der Frau Majorin und ohne Glanz und Untergebenheit,
und er fürchtet nicht, daß er avancieren wird und ein Oberst und ein Held
sein wird und ein toter noch dazu und in einem Heldengrab und in Erbfeinds-
land, es gibt keine Bäume und keine Maikäfer in der Hunnenstraße, Luft-
ballons fliegen, wer fliegt nicht mit, wiesengrün strandweiß ackergrau das Land,
unverteidigt die Küste, unruhig die See, der Nebel baut sich sein Reich, die
Türme aus rotem Backstein sind gegen den offenen oder den verhangenen
Himmel gesetzt, Kirchen wie brütende Hennen, Hünengräber im bestellten
Feld, nie erschlagene Riesen, Kornblumen und Mohn, Buchweizen trotzt dem
Gewitter, Buchweizengrütze schwappt mit der Milch über den Teller, Krähen
am Tag, in der Nacht Eulen.
Wie arme kahle Kinderschädel ragen die Hunnenstraßensteine eng anein-
ander gestampft aus der Erde, naß oder trocken, warm oder kalt, ich spüre die
X Steine rund und hart unter den durchlaufenen Sohlen der Schuhe, durch die
widerwärtigen kratzenden Wollstrümpfe, durch die zerrissenen Sommersocken,
barfuß glatt und kühl, es ist eine rumpelige Straße, meiner Haut preßt sie
sich ein, ich bin noch nicht abgehärtet, alles liegt vor mir.
Zum Hafen führt es abwärts, ich hoffe, ich fürchte es geht in die Welt, fort
von der Hunnenstraße, geradenwegs zu den Chinesen, die sind gelb und tragen
lange schwarze Zöpfe, mein Kaiser straft sie, meinem Kaiser gehören die Schiffe
X im Hafen, der Sommerdampfer nach Wiek, der Sonntagsdampfer nach Rügen,
die schweren Kahne mit den Kohlen, den Zuckerrüben, den Kartoffeln, dem
Korn, die Herings- und die Flunderboote mit ihren rostbraunen Segeln, der
schnelle Aviso, ein Panther gegen die Heiden, die meergraue nebelgraue feind- /
graue sieggraue Torpedobootpatrouille, Regen kommt oft, Wasser stürzt aus
den Traufen, Ströme rinnen zur See, Unrat schifft stolz hinab.
Die Wagenräder sind eisenbeschlagen; sie poltern wie die Lafetten der
Kanonen, wie die Kugeln der alten Schweden die in die Stadtmauer drangen,
rollen und grollen wie Donner, die Häuser der Hunnenstraße erbeben, machen
sich klein, sind es gewohnt, kalkweißer Anstrich nun schmutzgrauer Fassaden,
schmalbrüstige Fronten, steile Giebel, rotgepfannte Dächer, verrußte Schorn-
steine, beißender Torfrauch.
Neben den niedrigen Fenstern wuchten Läden aus festem Holz, Windfange,
schlagen bei Sturm gegen Mauern und Scheiben. Die Bewohner zurren das
Holz fest, eine seemännische oder halbseemännische Bevölkerung, keilen die
Läden ein wie Segel auf untergangsnahen Schiffen. Am Abend rammen sie
die Türen zu, nageln sich ein, fest machen das Haus lukendicht, sitzen stolz und
furchtsam im Besitz den sie sichern, Gesindel ist nachts unterwegs. Des Poli-
zisten Säbel scheppert gegen die Steine, Funken sprühen, spitz blitzt der