Von Anbeginn verurteilt5

Wolfgang Koeppen: „Von Anbeginn verurteilt“, in: Merkur 23/9 (1969), 835-845.

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Wkoe
Absolute Datierung
1.9.1969
Zuordnung
51 36 Publikation: "Von Anbeginn verurteilt (Merkur 1969)"
Kopie
nein
Durchschlag
nein
842 Wolfgang Koeppen
Zylinderhut für das berühmte Kolleg über die deutschen Kaiser als Vollstrecker
des Schöpfungswillens und der römischen Weltreichsidee, warme Unterhosen
jedoch für die Ausflüge ins Moor den Fundstätten unserer germanisch-wendi-
schen Knochen, und ferner die haushälterisch geflickten Laken, die mütterlich
gestopften Bezüge zur nächtlichen Erquickung, er ruht allein, ein Professor für
sich in der Nestwärme aus Schweiß und vergehendem Fleisch der allmählichen
Auflösung der Gattin, vom ersten Tag war Verwesung, von der Stunde der
Erkennung, er sah nicht hin, nicht in den eigenen Leib, wie die Zeit ihn fraß,
nachts kam der Geist, kam mit der Eule der Minerva, kam aus dem Tempel
der Diana von Ephesus, Hierodulen gaben sich hin, dem Fremden, auch dem
Vertriebenen, selbst noch dem Träumenden, er blieb, beharrte im Traum Ehre
sei Gott in der Höhe, war nur ein Käuzchen, das schrie, kiwitt, der Knochen-
mann, oder die Ideen kamen, die Geburt der Nation, das Volk stand auf, aber
der Sturm brach nicht los, das flammende Schwert züchtete für Thron und
Altar, das Eingemachte harrte im Keller in Gläsern und Töpfen, daß einer
krank werde, von der Seilerbahn raspelt die Winde des Seilers, ihr Toten in
den Gräbern in Etrurien, vom Hanfflechter geführt, in der Unterwelt beschützt,
und der Maurer kommt und holt den Plan und mischt den weißen Sand und
den bindenden Kalk und der Zimmermann zimmert das Gerüst und die Form
und den Sarg, am Mittag riecht die Stadt nach Bratflundern, am Abend nach
Räucherfisch aus Susemiels Laden, Colonialwaren, ff. Delikatessen, und das Geld
reicht nicht, und die Stadt wird müde des Erhabenen, die Stadtväter sagen, mit
allem Respekt, zwei Säulen sind genug, Cäsar und Alexander sind nicht ver-
gessen in Greifswald, doch der schwere Giebel, der Sarkophag aus Quader-
steinen, das Hünengrab, das nichts enthält als die umschlossene Leere oder die
Sage vom großen Ahn, lastet zu den Seiten des Tores schwer auf den wahren
Trägern, den unscheinbaren gedrungenen grauen Sockeln aus gemeinem Lehm.
III
An anderen Abenden besuchte ich das Theater. Wenn meine Mutter nicht allzu
niedergedrückt war, nannte sie mich einen Premierentiger. Sie mußte diesen
Ausdruck in irgendeinem Buch gelesen haben, und sie gebrauchte ihn mir
gegenüber spöttisch, doch auch mit etwas Verwunderung, in der eine schwache
Hoffnung lag, daß ich mich, sie wußte nicht wie, und es wäre ein Wunder
gewesen, von dem Elend unserer Verhältnisse entpuppen und zu einem hohen
Flug erheben würde. Dieses Wort und die Anschauung meiner Mutter ärgerten
mich. Ich stellte mir eine Vogelscheuche vor wie auf dem Umschlagbild des
»Junggesellen« oder der »Eleganten Welt«, einen Herrn im Frack mit einem
weiß und rot gefütterten Cape, einem Zylinderhut auf brillantineglänzendem
Haar und einem Gesicht, das man nach den Schafen nannte, die dieses Gesicht
niemals zeigten, ein Ignorant, der aus gesellschaftlichen Überlegungen in das
Theater ging, und dieser Gedanke war mir so zuwider, daß ich seinetwegen
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alle Theater hätte in die Luft sprengen mögen. Später erfuhr ich allerdings,
daß meine Mutter während dieser Zeit Briefe geschrieben hatte, in denen sie
sich bitter beklagte, daß ich einen schönen Winter verbringe und am Abend
ins Theater ginge. War dieser Winter schön? Er war kalt und mich hungerte.
Anspruch Im Theater hatte ich Anspruch auf eine Freikarte, ich hatte diesen
durchgesetzt und er war eine Art Gewohnheitsrecht geworden, das ich immer
wieder verteidigte, wenn es mich auch wunderte, daß es überhaupt anerkannt
wurde. Ich betrat das Theater durch den Porticus aus Sandsteinsäulen, die auf
die klassische Herkunft aller Bildung hinweisen und vielleicht auch gelegent-
lich an die Geburt der Tragödie erinnern sollten. Die Säulen waren von Kugel-
einschlägen aus den Kämpfen zwischen den Zeitfreiwilligen des Kapp-Putsches
und den streikenden Arbeitern durchlöchert und zerschrammt. Diese Beschä-
digungen waren noch offene Wunden. Verteidiger und Feinde der Republik
waren an dieser Stelle gefallen, doch die Zuschauer des Theaters waren in
ihrer Mehrheit geneigt, nur den Tod der jungen Leute, die die Republik und
ihre verhaßte Fahne abschaffen wollten, heldisch und tragisch zu nennen. Die
anderen waren vergessen wie ein unangenehmes, ein höchst peinliches Er-
eignis, und ihre Angehörigen gingen nicht in das Theater, es sei denn, daß
Lenz in das Theater ging, der auf der Seite stand, die gesiegt und verloren
hatte. In Wandervogeltracht blickte Lenz vom zweiten Rang, vom Olymp auf
seine Widersacher hinunter, aber die fanden es garnicht mehr nötig, zu ihm
aufzusehen: sie zählten ihn zu den Toten. Die Kassenhalle aus nachgemachtem
Marmor gab dem Theater das Ansehen eines öffentlichen Bades. Ich war jedes-
mal erregt und niedergeschlagen. Die Aussicht auf das Schauspiel beflügelte
mich, aber die sichere Vorahnung der Enttäuschung drückte mich nieder. Zwi-
schen den kalten Wänden wärmte wohl Theaterluft, aber sie versprach nicht
mehr als sich selbst, ein bürgerliches Spektakulum. Ich wandte mich zum Kas-
senschalter, ängstlich im Herzen, hochgemut im Gesicht, ich blickte Fräulein
Mannhart, die hinter der Kassiererin stand und die Verteilung der Freikarten
überwachte, fest und fordernd an und war überzeugt, daß sie mich nicht
mochte. Zuweilen biß sich mein Blick in ihren Zügen fest, nicht feindlich, ich
hatte nichts gegen Fräulein Mannhart und wollte sie nicht verletzen, aber der
Gedanke, daß sie mir etwas antun konnte, ließ sie mich neugierig betrachten,
denn die Neugierde auf ihr Leben, die ich in Wahrheit garnicht empfand,
führte von meiner Person fort zu ihr, und ich suchte in ihrem etwas teigigen
fraulichen Gesicht die Wahrheit des Klatsches, der über sie im Theater ver-
breitet war, und ich fragte mich, warum Emanuel mit Fräulein Mannhart ge-
schlafen haben sollte und nun in seinem Büro Eifersuchtsszenen von ihr erdul-
den mußte. Nie kam mir der Gedanke, daß Fräulein Mannhart leide. Ihre viel-
besprochene Affäre langweilte mich, aber vor dem Kassenschalter, wenn ich
meine Karte forderte und in dieser Hinsicht von Fräulein Mannhart abhängig
war, fand ich ihren Anspruch auf Emanuels Treue lächerlich, ja, daß er sie