MID836-12144-004

Wolfgang Koeppen: „Vom Tisch“, in: Text+Kritik 43/1972, 1-13.

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MID836-12144
Absolute Datierung
-
Zuordnung
48 47 42 43 49 Publikation: "Vom Tisch (Text+Kritik 1972)"
Kopie
nein
Durchschlag
nein
Vom Tisch
Die Bilder der Schauspieler auf einen Karton geklebt im Schaufenster
des Zigarrengeschäftes: der Mann im Abendcape, das weiße Futter seines
Mantels geschwungen wie Fledermausflügel, das Monokel im Auge, der
Zylinderhut schräg aufgesetzt, einen Stock mit einem goldenen oder sil-
bernen Griff wie zum Taktgeben oder zum Totschlagen erhoben.
Im photographischen Atelier hatte sich die junge Liebhaberin aufneh-
men lassen, im Glaszelt auf dem Dach, die vergilbten weißen Vorhänge
spielten Licht und Schatten, der Meister verkroch sich im schwarzen Sack,
sah die Liebliche kopfstehend, rückte ihr näher mit dem Kasten aus Mes-
sing und Holz, sah sie scharf, ließ den Kuckuck raus, sie hing mit Kirschen
im Mund unten in seinem Schaukasten, Wolken hinter sich, ein Engel
albernen Gesichtes, des Meisters Stolz, unter den Hochzeitspaaren, er-
starrt in der Furcht des Ehestandes, unter den Konfirmanden in den Alt-
männeranzügen, den zu weiten gestärkten Kragen, einen schwarzen Sarg-
trägerhut in der Hand, die sich verstecken möchte, das unnütze Glied steif
in der kratzenden Hose.
Die Handgranaten hatten das Atelier zersprengt, und im Schaukasten
waren hinter dem zersplitterten Glas den Photographierten die Glieder
weggerissen, manchen der Kopf oder der Arm, und das Mädchen, der En-
gel hatte einen Teil seines Mundes verloren, so daß die Kirschen nun
zwischen den halbierten Lippen wie in einer Wunde hingen und den Aus-
druck der Albernheit ins Gepeinigte verwandelten.
Durch die Lange Straße ging der Trauerzug, zwölf Särge auf Lastwagen
gestellt und einer nur wie symbolisch für alle auf dem Trauerwagen des
Fuhrunternehmers Kasch mit Pferden vor in schwarzen Talaren und
schwarzen Vorhängen vom Gestänge des Wagens, er lag wie in einem
schwarzen Himmelbett und auf ihm wie auf den anderen auf den Last-
wägen die Kränze mit den roten Schleifen, die Genossen den Genossen,
und die städtische Beerdigungskapelle spielte Unsterbliche Opfer ihr san-
ket dahin, und sie gingen schweigend hinterher und unbewaffnet und nicht
einmal mit Stöcken versehen, nur mit Fahnen einige, mit roten und den
gestickten und verzierten der Arbeitervereine, und die Lange Straße war
leer, vor den Läden waren die Rouleaus herabgelassen, und sie waren
nicht zu sehen, die Farbtragenden, die Zeitfreiwilligen, die schwarze und ben
die andere Reichswehr, die Kappleute mit dem Totenkopf und die aus dem
Baltikum mit dem Hakenkreuz.
Am anderen Tag war die Straße voll von Flanierenden, die Gymna-
siasten und die Schülerinnen des Auguste-Viktoria-Lyzeums hatten sich
schwarz-weiß-rote Schleifen angesteckt, die Studenten trugen Couleur,
traten in Korporationen auf, die Läden waren geöffnet, die Geschäftsleute
lächelten, man begrub mit Tschindera und Paukenschlag den von einer
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