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Wolfgang Koeppen: „Vom Tisch“, in: Text+Kritik 43/1972, 1-13.

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MID836-12144
Absolute Datierung
-
Zuordnung
50 Notiz Publikation: "Vom Tisch (Text+Kritik 1972)"
Kopie
nein
Durchschlag
nein
Vom Tisch
Das wäre ungefähr das von Robbe-Grillet in seinem Roman »La Jalousie«
angewandte Prinzip. Aber Robbe-Grillet hat die Methode zu Tode gehetzt
und ist gescheitert. Der Roman war ohne Leben. Dennoch ließe sich in der
Art des Kameraauges manches so schön kalt berichten, überbelichten‚
durch die Lupe vergrößern, den Lauf anhalten, beschleunigen, die Bilder
montieren, und der unsichtbare, aber ja doch wirkende Erzähler bliebe als
Unperson von vornherein geheimnisvoll. Aber wie könnte man Empfin-
dungen beschreiben, die er hat, die in ihm entstehen und leben, die
ihn antreiben, wie beispielsweise die Wollust der Bewegung und des
Frostes.
Der Gang rötlich, linoleumbedeckt, feucht vom Wischen, roch nach Pe-
troleum, war entflammbar, Luft, über die er lief, in grüngelb blauroter Iris,
blühend Gezücht, es kribbelte heiß an den Beinen, die Feuertür war nicht
gesperrt, führte ins Dachgebälk der Stadthalle, Tanzabend, Ballettabend,
die Sterne von Film und Funk, verehrliche Gastspieldirektion der berliner
Hillermillerzillerrevue, tausend süße Beinchenweibchen im großen Saal
auf der Wahlrednerbühne und im Dachgeschoß die Garderobe, er beugte
sich herab, erniedrigte sich, gab nach, ergab sich, heimlich, schaute sich um,
guckte durchs Schlüsselloch der abgeschlossenen Tür, sah die lange Reihe
der Schminktische, die Spiegel, die Glühbirnen darüber, eingefangen hat-
ten die Spiegel glitzernde Monde, Leibteile, Rißgesichter, die Stühle im
Raum verrückt, er roch sie, die ausgezogenen Schlüpfer, die Spitzenhem-
den, die Leibchen, die Halter für Brust und Strumpf auf den Lehnen, auf
dem Boden, auf den Tischen, und da saßen sie, liefen, strampelten, ver-
fingen sich mit bloßen Füßen in den abgelegten Kleidern, den anzuziehen-
den Tütüs und Flittern, die berliner Mädchen, sie waren nackt bis auf
die Binden vor der Scham, das Geschlecht herausstellend in der dürftigen
Verhüllung, fesselnder als ganz und gar nackt, ihre Binden schnitten ihm
in den Schritt, er ahnte ihre unter Mull gepreßten krausen Haare, er hatte
sie nie gesehen, befeuchtet von ihrem Saft und wie Wassertropfen auf der
naßen roten Scheide aus Döderleins Atlas der Gynäkologie, in der
Universitätsbibliothek aufgeschlagen, im Lesesaal, Handbücherei, das Re-
gal Medizin auf der grauen Eisengalerie, durchlöcherte Stufen, schallende
Platten, über die der Fuß ging wie in den Maschinenraum eines Schiffes,
und er hielt das Buch, den Döderlein in Händen, die sich verkrampften,
erregt waren, zitterten, flatterten, trugen schwer an dem schweren Lexi-
konband, Schweiß brach aus, Röte stieg auf, Döderlein wußte Bescheid,
kannte sich aus, sah das Menschentier gesund oder krank, klammerte die
Schamlippen auf, ließ nichts verborgen, öffnete den strotzenden Bauch,
zeigte das Kind in der Höhle, gekrümmten Homunkulus, oder wie es schon
in die Welt fiel, den Kopf, den kahlen Schädel voraus, greinend wohl oder
mit dem entsetzten ersten Schrei, da haben wirs, pressen Sie noch, wird
schon, Frau Süwe, in die Hände von Frau Dünnbier, der Hebamme, oder
gar in die Zange, die der Professor spreizte, um den Kopf legte, zupackte,
wurde ein Bürger mehr, kein Genie, kein Kretin, vielleicht ein Ärgernis,
Bertram stottert, Elke schielt, wo sies nur herhaben, nein, wissen Sie, und
vor dem Loch in der Tür sein Auge und hinter der Tür und durch das Loch
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