MID355-M013-001

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MID355-M013
Absolute Datierung
-
Zuordnung
51
Kopie
nein
Durchschlag
nein
Ich stehe auch
auf der Bühne
An manchen Abenden besuchte ich das Theater. Wenn meine Mutter
nicht allzu niedergedrückt war, nannte sie mich einen Premieren-
tiger. Sie musste diesen Asudruck in irgendeinem Buch gelesen
haben, und sie gebrauchte ihn mir gegenpber spöttisch, doch auch
mit einer Verwunderung, in der die Hoffnung lag, dass ich mich
aus der Niederung zu einem hohen Flug erheben würde. Das Wort
und diese Anschauung meiner Mutter ärgerte mich. Ich stellte mir
einen Herrn im Frack vor, der aus gesellschaftlichen Überlegungen
in das Theater ging; ein Gedanke, der mir so zuwider war, dass
ich seinetwegen alle Theater hätte in die Luft sprengen mögen.
Später erfuhr ich allerdings, dass meine Mutter während dieser
Zeit an Olga Briefe geschrieben hatte, in denen sie sich bitter
beklagte, dass ich einen schönen Winter verbringe und am Abend
ins Theater gehe. War dieser Winter schön? Er war kalt und mich
hungerte. Im Theater hatte ich Anspruch auf eine Eintrittskarte,
ich hatte diesen Anspruch durchgesetzt und er war eine Art Ge-
wohnheitsrecht geworden, das ich immer wieder verteidigte, wenn
es mich auch wunderte, dass es überhaupt anerkannt wurde. Ich
betrat durch den Portikus aus falschen Sandsteinsäulen, in de-
nen die Kugel-einschläge aus den Kämpfen zwischen den zeitfrei-
willigen des Kapp-Putsches und den streikenden Arbeitern noch
offenen Wunden glichen, die Kassenhalle aus nachgemachtem Mar-
mor, der ihr das Ansehen eines öffentlichen Bades gab. Ich war
erregt und niedergeschlagen. Die Aussicht auf das Schauspiel
erregte mich, aber die Gewissheit der Enttäuschung drückte mich
nieder. Zwischen den kalten Wänden wärmte Theaterluft, aber doch sie
versprach nicht mehr als sich selbst, ein bürgerliches Spektaku-
lum. Ich wandte mich zum Kassenschalter, ängstlich im innern, in mir
hochgemut nach aussen, ich blickte Fräulein Mannhardt, die