Satzvorlage Seite 049

Satzvorlage für „Jugend“ aus dem Siegfried Unseld Archiv (SUA) im Deutschen Literaturarchiv Marbach / Wolfgang Koeppen: „Jugend. Eine Erinnerung“, in: Merkur 24/1 (1971), 43-58.

Archivmappe
Satzvorlage
Absolute Datierung
-
Zuordnung
27 28 Publikation: "Jugend. Eine Erinnerung (Merkur 1971)"
Kopie
nein
Durchschlag
nein
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52 Wolfgang Koeppen
Ich glaubte damals, aufzuwachen, aber die Wahrheit ist wohl, daß mein
Schlaf sich in einem Traum verlor. Ich sah mich in diesem Traum agieren, ich
handelte folgerichtig nach einer ihm innewohnenden Logik; doch hätte ich zu
keiner Zeit sagen können, wovon ich träumte, oder auf welches Ziel hin ich
mich bewegte. Dies läßt sich auch nicht damit erklären, daß mein Ziel die Ziel-
losigkeit war. Manchmal behauptete ich so etwas (zu wem? mit wem sprach
ich?) doch es stimmte nicht. Ich hatte mir nichts vorgenommen, nicht einmal
die Ziellosigkeit; nur steuerte ich beharrlich von den anderen fort, und das war
es, worauf es mir ankam.

Der Raum ist groß, er ist kalt, er ist auf eine kalte Art warm, er ist dunkel, die
schwarzen Möbel machen den Raum dunkel, die schweren schwarzen Möbel
machen den Raum nicht klein, sie machen ihn zu einem Gebirge, die schweren
schwarzen Möbel bilden Fronten, der Schrank droht dem Tisch, der Tisch bockt
gegen den Sessel, die schweren schwarzen Möbel sind Festungen aus festem
schwarzspiegelndem Holz, große schwarze Ritter und kleine schwarze Ge-
fangene spiegelfechten, kleine schwarze Ritter und große schwarze Ungeheuer
spiegelfechten, der schwarze Schreibtisch steht auf schwarzen Löwenfüßen,
die gedrechselten schwarzen Löwenfüße krallen sich in den schwarzen Teppich
ein, gerissen liegt die Wolle des schwarzen Lamms unter den schwarzen Füßen,
die schwarze Polstertür schließt das schwarze Universum, draußen bleibt die
leiernde lernende leidende Stimme der Klassen, bleibt das Geleier des ABC,
bleibt das Geleier des Einmaleins, bleibt der geleierte unbegriffene Lehrsatz
der Mathematik, bleibt das geleierte schon durchlöcherte Gesetz der Natur,
bleibt der geleierte zusammengesetzte Satz der nichts sagt, bleibt das geleierte
von keinem Gott vernommene Kirchenlied, bleibt der geleierte vaterländische
Gesang der den Sänger berauscht, bleiben die geleierten Siege Friedrichs des
Großen, bleiben geleiert die Siege Bismarcks, bleiben geschmettert die Siege
des Kaisers, bleibt ungeleiert das Schweigen über dem Was nun, bleibt ein-
geleiert der Haß gegen das Jetzt, das ist die Republik, das ist Weimar, das ist
Versailles, das ist die schwarze und die rote und die deutsche Schmach, bleibt
der abgerissene doch immer fortfließende Strom zu den gefährlichen Strom-
schnellen dem drohenden Stromfall da die Zeit endet oder sich auflöst oder nie
gewesen ist oder wieder anfängt oder wie heute ist, bleibt das große Ungenü-
gend, das dem Kind als Zeugnis mit auf den Weg gegeben wird, draußen
bleiben die Gerüche , die das Kind kennt, die es flieht, die es nicht fliehen kann,
der Geruch der dicken Zwiebelschmalzstulle, der Blutwurst zwischen den
mehlbestreuten Salzkuchen, die es nicht bekommt und nicht will, und die es
in den Staub wirft, wenn Hochmut sie ihm reicht, bleiben die strengen
Schweiße der Schulangst, die sauren Lerneiferdünste der Streber, die stolzen
zerschundenen Knie der ungezogenen Jungen, die sie im Winter dem Frost
zeigen.