Satzvorlage Seite 020
Satzvorlage für „Jugend“ aus dem Siegfried Unseld Archiv (SUA) im Deutschen Literaturarchiv Marbach / Wolfgang Koeppen: „Jugend. Eine Erinnerung“, in: Merkur 24/1 (1971), 43-58.
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Mit Bismarck verbinden mich sehr persönliche Erinnerungen. Wir sind uns
ähnlich. Bismarck weinte, er warf sich, der schwere Leib, auf das Sofa, ich stelle
sie mir vor, die weißen Sofaschoner, die von liebender Hand gestickten Sofa-
kissen, die von dienender Hand schön gekämmten Sofafransen, und Bismarck
weinte. Ich nicht. Sie hatten mir als Kind und im Namen Bismarcks oder auch
eines preußischen Königs zu oft gesagt: Ein Mann weint nicht. So weine ich
nur, wenn ich Bismarck bin. Ich lernte ihn in meinen jüngsten Jahren kennen,
Bismarck stand auf der Nähmaschine, oder er stand neben der Nähmaschine,
auf der meine Mutter das Bettzeug eines dieser pommerschen Rittergüter
flickte, Lössin oder Wunkenhagen oder Demeritz, und Bismarck war aus Erz
gegossen, er hatte Schaftstiefel aus reinem Erz an, er hielt einen Schleppsäbel
aus Erz in der erzenen Hand , und auf dem Kopf aus Erz saß ihm ein Adler,
auch aus Erz. Auf einem Helm aus Erz. Diese Figur sah aus , als ob sie mich
einschüchtern wollte. Bismarck wog viel, und ich konnte ihn damals nicht
heben, aber wenn ihn ein Mann richtig gefaßt hätte, hätte er einen anderen
Mann mit ihm totschlagen können. Der Herr von Lössin oder der Herr von
Wunkenhagen oder der von Demeritz tat das nicht. Er hatte zum Totschlagen
einen Spaten. Aber auch mit dem Spaten schlug der Herr von Lössin oder der
Herr von Wunkenhagen oder der von Demeritz nicht zu. Er hatte zum Tot-
schlagen seine Leute. Sie hatten auf Lössin oder auf Wunkenhagen oder auf
Demeritz immer Leute gehabt, und selbst nach der Aufhebung der preußischen
Gesindeordnung und der gutsherrlichen Polizeigewalt waren auf Lössin, Wun-
kenhagen oder Demeritz Leute geboren worden oder hatten sich Leute an-
gefunden, zum Totschlagen und zu anderem. Dieses Rittergut, Lössin, oder
Wunkenhagen oder Demeritz hatte meiner Mutter gehört, oder es hatte der
Mutter meiner Mutter gehört, ich habe dies nie so ganz begriffen, man hat es
mir zu oft und immer wieder anders erzählt oder anders verschwiegen, und
meine Mutter war nun gelegentlich mildtätlich Weißnäherin auf diesen Ritter-
gütern, sie konnte aber gar nicht nähen, wenn man auch anzunehmen schien,
daß eine Frau in ihrer Lage zu nähen habe, und so flickte sie die Laken aus
rohem bäuerlichen Leinen für eine Mark am Tag, und die große Vergünsti-
gung war, daß sie mich mitnehmen durfte. So saß ich unter der Nähmaschine
und sah die Füße meiner Mutter, wie sie das Tretwerk der Nähmaschine traten,
und die Bettücher liefen unter der Nadel der Nähmaschine durch, stiegen auf
und fielen und hoben und senkten sich vor meinem Blick wie der Vorhang
einer Bühne, auf der Bismarck auftrat, oder auf der sich ein Schauspieler, der
den Bismarck spielte, für den Applaus bedankte. Aus Erz gegossen, und die
Studenten zogen mit Fackeln vor die Stadt und zum Bismarckturm und warfen
dort die brennenden Fackeln zu Füßen des Denkmals, und Bismarck, auch er aus
Erz, stand mit festen Füßen auf seinem Sockel, festen Gesichtes, festen Blickes,
fest im Fleisch, aus Erz, im Flammenschein in der Nacht, es konnte nichts schief-
gehen. Ich bin damals unter der Nähmaschine neben den das Rad bewegenden
Füßen meiner Mutter nicht darauf gekommen, daß die Bettlaken, die sich hoben
und senkten und vor meinen Augen flatterten, auch mit Leichentüchern zu ver-
gleichen gewesen wären, oder mit den weißen Fahnen der Niederlage.
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Mit Bismarck verbinden mich sehr persönliche Erinnerungen. Wir sind uns
ähnlich. Bismarck weinte, er warf sich, der schwere Leib, auf das Sofa, ich stelle
sie mir vor, die weißen Sofaschoner, die von liebender Hand gestickten Sofa-
kissen, die von dienender Hand schön gekämmten Sofafransen, und Bismarck
weinte. Ich nicht. Sie hatten mir als Kind und im Namen Bismarcks oder auch
eines preußischen Königs zu oft gesagt: Ein Mann weint nicht. So weine ich
nur, wenn ich Bismarck bin. Ich lernte ihn in meinen jüngsten Jahren kennen,
Bismarck stand auf der Nähmaschine, oder er stand neben der Nähmaschine,
auf der meine Mutter das Bettzeug eines dieser pommerschen Rittergüter
flickte, Lössin oder Wunkenhagen oder Demeritz, und Bismarck war aus Erz
gegossen, er hatte Schaftstiefel aus reinem Erz an, er hielt einen Schleppsäbel
aus Erz in der erzenen Hand , und auf dem Kopf aus Erz saß ihm ein Adler,
auch aus Erz. Auf einem Helm aus Erz. Diese Figur sah aus , als ob sie mich
einschüchtern wollte. Bismarck wog viel, und ich konnte ihn damals nicht
heben, aber wenn ihn ein Mann richtig gefaßt hätte, hätte er einen anderen
Mann mit ihm totschlagen können. Der Herr von Lössin oder der Herr von
Wunkenhagen oder der von Demeritz tat das nicht. Er hatte zum Totschlagen
einen Spaten. Aber auch mit dem Spaten schlug der Herr von Lössin oder der
Herr von Wunkenhagen oder der von Demeritz nicht zu. Er hatte zum Tot-
schlagen seine Leute. Sie hatten auf Lössin oder auf Wunkenhagen oder auf
Demeritz immer Leute gehabt, und selbst nach der Aufhebung der preußischen
Gesindeordnung und der gutsherrlichen Polizeigewalt waren auf Lössin, Wun-
kenhagen oder Demeritz Leute geboren worden oder hatten sich Leute an-
gefunden, zum Totschlagen und zu anderem. Dieses Rittergut, Lössin, oder
Wunkenhagen oder Demeritz hatte meiner Mutter gehört, oder es hatte der
Mutter meiner Mutter gehört, ich habe dies nie so ganz begriffen, man hat es
mir zu oft und immer wieder anders erzählt oder anders verschwiegen, und
meine Mutter war nun gelegentlich mildtätlich Weißnäherin auf diesen Ritter-
gütern, sie konnte aber gar nicht nähen, wenn man auch anzunehmen schien,
daß eine Frau in ihrer Lage zu nähen habe, und so flickte sie die Laken aus
rohem bäuerlichen Leinen für eine Mark am Tag, und die große Vergünsti-
gung war, daß sie mich mitnehmen durfte. So saß ich unter der Nähmaschine
und sah die Füße meiner Mutter, wie sie das Tretwerk der Nähmaschine traten,
und die Bettücher liefen unter der Nadel der Nähmaschine durch, stiegen auf
und fielen und hoben und senkten sich vor meinem Blick wie der Vorhang
einer Bühne, auf der Bismarck auftrat, oder auf der sich ein Schauspieler, der
den Bismarck spielte, für den Applaus bedankte. Aus Erz gegossen, und die
Studenten zogen mit Fackeln vor die Stadt und zum Bismarckturm und warfen
dort die brennenden Fackeln zu Füßen des Denkmals, und Bismarck, auch er aus
Erz, stand mit festen Füßen auf seinem Sockel, festen Gesichtes, festen Blickes,
fest im Fleisch, aus Erz, im Flammenschein in der Nacht, es konnte nichts schief-
gehen. Ich bin damals unter der Nähmaschine neben den das Rad bewegenden
Füßen meiner Mutter nicht darauf gekommen, daß die Bettlaken, die sich hoben
und senkten und vor meinen Augen flatterten, auch mit Leichentüchern zu ver-
gleichen gewesen wären, oder mit den weißen Fahnen der Niederlage.
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