Satzvorlage Seite 006
Satzvorlage für „Jugend“ aus dem Siegfried Unseld Archiv (SUA) im Deutschen Literaturarchiv Marbach / Wolfgang Koeppen: „Jugend. Eine Erinnerung“, in: Merkur 24/1 (1971), 43-58.
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Jugend 45
besitzt. Bei lindem Wind kreist er in einem Ballon um die Türme der Stadt. und wenn das Wetter schön ist, in einen Freiballon steigt, um über der
Stadt zu schweben. Wie schön ist diese hohe Stunde des Tages auf der Langen
Straße, im von der Seeluft verklärten Licht des Sommers oder dem weihnacht-
lichen Gasglühlichtschein der Schaufenster und Laternen.
Es war nicht schön, was man sprach, und wie man es sich erzählte, und
am widerwärtigsten war, daß sie nun hinhören mußte, um etwas aufzuschnap-
pen, das sie nicht wissen wollte, was zu wissen aber nun wichtig war, Welt ver-
wandelte sich, kein neues Ufer wurde erreicht, ein altes Land, das Müttertal,
eine Weiberhölle‚ Mutterkornräusche, Hexenbräu, ausweglose Wälder, und
an den dunklen hohen Bäumen ein Schild, Juniperus Sabina, wie im Botani-
schen Garten von Professor Pryl, klebriges Getuschel, gemeinmachendes Ge-
kicher, verhangene Fenster, ein Haushalten mit dem Entsetzen, ihr muß es
vorgekommen sein, als hätte sie bis dahin nicht hören können, nicht sehen,
nicht lesen, selbst nicht tasten, fühlen, riechen, denn überall waren die ent-
setzlichen Geheimnisse, hinter ganz gewöhnlichen Dingen versteckt, oder allen-
falls hinter Allegorien oder Symbolen, die sie nicht beachtet und nicht gedeutet
hatte, bis sie sie beachten und deuten mußte, und die Freundin, die Tochter
einer Klavierlehrerin‚ die munter springende Käte Kasch, von der ihr gesagt
worden war, sie ist keine Freundin, nicht für dich, du darfst nicht mit ihr ver-
kehren, sie hält nicht auf sich, man weiß, wohin das führt, und ja, man hatte
es richtig gewußt, es führte wohin, Käte Kasch war unterrichteter und bestä-
tigte die Angst, und dann kamen die alten Hausrezepte zu Ehren, Teeabko-
chungen, Tannennadelabsude, der Rotspon von Kaufmann Susemihl, mit
Safran Nelken und Zimt erhitzt, Wechselbäder für Arme und Füße, die kalten
und die warmen Handduschen und dann die dunstenden, und auf eine schmut-
zige Art sauberen Stuben dieser Frauen, ihre roten Sodahände, ihre ausge-
laugten Wäscherinnenhände, ihre schamlosen Schwesternhände und die Ge-
wißheit, verloren zu sein, gebrandmarkt auf dem Altar der hämischen Göttin
Sitte, untertan der einsichtslosen gebärsüchtigen Natur, und der Ekel vor
diesen Händen, und der Ekel vor diesen kalten abschätzenden Augen, die
Angst vor den runden und den spitzen Werkzeugen, der Widerwille am eige-
nen Leib, das Schlagen auf den Leib, die verzweifelten Tanzschritte und die
Seilsprünge und die Treppen hinauf und hinab, wo allein ein Sprung vom
hohen Nikolaiturm geholfen hätte und wohl von ihr erwogen war.
Pommerland ist abgebrannt, noch nicht, noch lange nicht oder bald, Pommer-
land bereitet sich gründlich auf das Feuer vor, die Lunte wird gelegt, der
Zündschwamm gehegt, Schwefel wird verstreut und Pech, das schwillt und
fault und wächst, auch in dir brennt der Keim, du weißt es nicht, du merkst
es nicht, du denkst nicht, wie solltest du, niemand merkt was, niemand denkt,
selbst Professoren der Universität merken nichts und denken nicht, ebenso der
Jugend 45
besitzt. Bei lindem Wind kreist er in einem Ballon um die Türme der Stadt. und wenn das Wetter schön ist, in einen Freiballon steigt, um über der
Stadt zu schweben. Wie schön ist diese hohe Stunde des Tages auf der Langen
Straße, im von der Seeluft verklärten Licht des Sommers oder dem weihnacht-
lichen Gasglühlichtschein der Schaufenster und Laternen.
Es war nicht schön, was man sprach, und wie man es sich erzählte, und
am widerwärtigsten war, daß sie nun hinhören mußte, um etwas aufzuschnap-
pen, das sie nicht wissen wollte, was zu wissen aber nun wichtig war, Welt ver-
wandelte sich, kein neues Ufer wurde erreicht, ein altes Land, das Müttertal,
eine Weiberhölle‚ Mutterkornräusche, Hexenbräu, ausweglose Wälder, und
an den dunklen hohen Bäumen ein Schild, Juniperus Sabina, wie im Botani-
schen Garten von Professor Pryl, klebriges Getuschel, gemeinmachendes Ge-
kicher, verhangene Fenster, ein Haushalten mit dem Entsetzen, ihr muß es
vorgekommen sein, als hätte sie bis dahin nicht hören können, nicht sehen,
nicht lesen, selbst nicht tasten, fühlen, riechen, denn überall waren die ent-
setzlichen Geheimnisse, hinter ganz gewöhnlichen Dingen versteckt, oder allen-
falls hinter Allegorien oder Symbolen, die sie nicht beachtet und nicht gedeutet
hatte, bis sie sie beachten und deuten mußte, und die Freundin, die Tochter
einer Klavierlehrerin‚ die munter springende Käte Kasch, von der ihr gesagt
worden war, sie ist keine Freundin, nicht für dich, du darfst nicht mit ihr ver-
kehren, sie hält nicht auf sich, man weiß, wohin das führt, und ja, man hatte
es richtig gewußt, es führte wohin, Käte Kasch war unterrichteter und bestä-
tigte die Angst, und dann kamen die alten Hausrezepte zu Ehren, Teeabko-
chungen, Tannennadelabsude, der Rotspon von Kaufmann Susemihl, mit
Safran Nelken und Zimt erhitzt, Wechselbäder für Arme und Füße, die kalten
und die warmen Handduschen und dann die dunstenden, und auf eine schmut-
zige Art sauberen Stuben dieser Frauen, ihre roten Sodahände, ihre ausge-
laugten Wäscherinnenhände, ihre schamlosen Schwesternhände und die Ge-
wißheit, verloren zu sein, gebrandmarkt auf dem Altar der hämischen Göttin
Sitte, untertan der einsichtslosen gebärsüchtigen Natur, und der Ekel vor
diesen Händen, und der Ekel vor diesen kalten abschätzenden Augen, die
Angst vor den runden und den spitzen Werkzeugen, der Widerwille am eige-
nen Leib, das Schlagen auf den Leib, die verzweifelten Tanzschritte und die
Seilsprünge und die Treppen hinauf und hinab, wo allein ein Sprung vom
hohen Nikolaiturm geholfen hätte und wohl von ihr erwogen war.
Pommerland ist abgebrannt, noch nicht, noch lange nicht oder bald, Pommer-
land bereitet sich gründlich auf das Feuer vor, die Lunte wird gelegt, der
Zündschwamm gehegt, Schwefel wird verstreut und Pech, das schwillt und
fault und wächst, auch in dir brennt der Keim, du weißt es nicht, du merkst
es nicht, du denkst nicht, wie solltest du, niemand merkt was, niemand denkt,
selbst Professoren der Universität merken nichts und denken nicht, ebenso der