In meiner Stadt war ich allein (Romanisches Café) 2

Wolfgang Koeppen: „In meiner Stadt war ich allein“, in: Ders.: Romanisches Café. Erzählende Prosa, Frankfurt/Main 1972, 86-98.

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In meiner Stadt war ich allein
Absolute Datierung
-
Zuordnung
52 Publikation: "Als ich Gammler war" / "In meiner Stadt war ich allein" (1969-1972)
Kopie
nein
Durchschlag
nein
Vielleicht liebte ich die Stadt. Ich stülpte sie um. Ich ver-
nichtete ihre Ordnung. Ich störte die Feier.
Ein Russe sprach mich russisch an. Das salbte mich. Ich
eiferte Kropotkin nach. Der Russe war bekümmert. Er war
Emigrant. Er hatte Heimweh nach einem anderen Rußland.
Im Sommer ging ich unter einem Sonnenschirm. Der
Schirm war weiß wie der heiße Himmel. Der Schirm hatte
resedagrüne Volants. Ich wanderte in Tropen. Der Schirm
hatte eine silberne Krücke, zu einem Vogel geschmiedet.
Kam ein Wetter auf, flog der Vogel mit dem Sturm. Ich
war weiß gepudert; ich hatte mein Gesicht mit Reismehl
betupft.
Ich ruhte, wo ich im Weg war. Ich legte mich auf die
Straße, lang vor die Türen. Ich saß auf den Stufen zu
den Denkmalen toter Männer. Ich streckte mich ins Gras
der Verschönerungen, dem Schutz der Bürger empfohlen.
Die Bibliotheken zogen mich an. Ich suchte sie heim, gierig
und süchtig. Zu ihren Verwaltern war ich wie ein Liebhaber,
unwiderstehlich. Die Bibliothekare waren wehrlos. Sie wur-
den mir hörig. Sie öffneten ihre Schränke, trennten sich
von ihren Schätzen. Ich breitete Schrift um mich aus. Ich
verschlang, was gedruckt war. Ich vergaß mich. Auf be-
lebtem Platz saß ich wie trunken. Das Alphabet trug mich
fort.
Ich versuchte die Stadt. Ich war ein Ärgernis. Ich wollte
ein Ärgernis sein. Die Ordnung beobachtete mich. Die Bür-
ger mikroskopierten mich in ihren Fensterspiegeln. Sie
sahen ein Ungeheuer. Die Ordnung fühlte sich herausge-
fordert und verletzte das Gesetz. Alle Ertüchtiger bliesen
zur Jagd. Sie pirschten sich ran. Sie umstellten mich. Sie
bauten Fallen, in die ich nicht fiel. Ich tat nichts. Ich tat
keinem etwas. Das war verdächtig. Das war böse.
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Ich wollte ich sein, für mich allein. Da drängten sie sich
auf. Die Stadt entblößte sich vor mir. Sie war nicht ehrbar.
Sie hatte einen Untergrund. Die Polizei schlug. Die Richter
waren parteiisch. Der Amtmann mißbrauchte sein Amt.
Der Pfarrer glaubte nicht. Der Ertüchtiger war ein Sadist.
Die Trinker kamen und entkorkten die Flaschen. Die Gei-
len machten ihre Offerte. Morphinisten und Kokser zeigten
ihre Wunden und zeigten den Schnee. Dirnen gaben sich
zu erkennen. Diebe luden ein. Der Anthroposoph stieg mit
mir auf den Turm von Sankt Nikolai und schrie, Sie sind
der Teufel. Als er mich würgte, sah ich die See. Sie
schwankte grau unter einem grauen Himmel.
Lenz kam von den Kommunisten. Das verirrte Schaf war
in die Herde zu führen. Lenz wollte der Herde entfliehen.
Er war zerrissen. Er lief durch den Winter mit kurzen
Hosen und nackten Knien. Das verband mich mit ihm.
Wir badeten noch im November im Meer. Unsere Fahr-
räder lehnten beieinander und zitterten. An seinem Rad
hing der rote Wimpel mit dem Emblem von Hammer und
Sichel. Die Völker hörten die Signale. Die Völker hörten
nichts. Die Sirenen schwiegen. Damals schwiegen sie noch.
An meine Lenkstange hatte ich, um Lenz zu ehren, einen
schwarzen Lappen gebunden, die stolze schwarze Fahne der
Anarchie. Lenz wurde erschlagen. Das taten die mit dem
verkniffenen Gesicht. Es gab da irgendwo ein Hünengrab;
dort töteten sie ihn und verscharrten ihn gleich.
Ich wünschte ein Schauspiel. Ich reiste vierter Klasse. Ich
pochte auf die moralische Anstalt. Ich hatte zu viel gelesen.
Die Stadt rutschte hinter den Schienen weg. In Nebel, in
graue Wolken, in Schnee, in die verlorene Zeit. Sankt
Nikolai drohte zuletzt wie eine erhobene Faust. Erst später
spürte ich die Narben. Das Abteil war für Reisende mit
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