In meiner Stadt war ich allein (Romanisches Café) 1

Wolfgang Koeppen: „In meiner Stadt war ich allein“, in: Ders.: Romanisches Café. Erzählende Prosa, Frankfurt/Main 1972, 86-98.

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In meiner Stadt war ich allein
Absolute Datierung
-
Zuordnung
52 Publikation: "Als ich Gammler war" / "In meiner Stadt war ich allein" (1969-1972)
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nein
Durchschlag
nein
In meiner Stadt war ich allein
In meiner Stadt war ich allein. Ich war jung, aber ich
war mir meiner Jugend nicht bewußt. Ich spielte sie nicht
aus. Sie hatte keinen Wert. Es fragte auch niemand danach.
Die Zeit stand still. Es war eher ein Leiden. Doch gab
es in der Stadt keinen, der mir glich.
Ich trieb mich herum. Ich war unterwegs. Ich war auf
den Straßen und Plätzen. Ich fiel überall auf. Ich hatte
kein Ziel. Ich stellte mich mitten auf den Markt. Ich war
unnütz; das gefiel mir. Ich genoß es, auf dem Markt zu
stehen. Einfach nur so. Ich hatte nichts anzubieten. Nicht
einmal mich selbst. Ich kaufte nichts. Ich wollte nicht teil-
haben. Ich verachtete sie. Ich kannte die Kurse nicht. Ich
fragte nicht nach dem Preis.
Ich ging absichtlich gebeugt. Ich wünschte mir einen Buckel.
Ich wollte ausgestoßen sein. Sie sollten es sehen. Sie sahen
es. Ich hörte sie und hörte sie nicht. Sie riefen hinter mir
her. Sie höhnten, geh, hol dir den Krankenschein zum Haare-
schneiden. Ich war in keiner Krankenkasse; ich war stolz in
keiner Kasse zu sein. Es berührte mich nicht. Sie schrien
Bubikopf, Bubikopf. Das schulterlange Haar stand mir für
eine bessere Welt. Ich zog meine Schuhe aus, knüpfte sie zu-
sammen, hängte sie über die Schulter, ging barfuß weiter.
So fühlte ich die Stadt. Sie war unter meinem Fuß. Sie
war hart und kalt. Die anderen merkten es nicht. Viele
liebten Stiefel. Sie marschierten gern. Sie hatten den Krieg
verloren. Sie würgten an der Niederlage und haßten die
Republik. Sie sagten, wenn wir die Wehrpflicht hätten. Sie
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riefen, die Hammelbeine langziehen. Sie kniffen die Augen
zusammen. Sie hofften, mich zu zerschneiden. Sie hatten
alle nur ein Gesicht.
Ich war nicht traurig. Ich amüsierte mich. Ich war der Ritter
von der traurigen Gestalt. Das war lustig. Ich sehnte mich
nach Freuden. Ich wollte es bunt. Ich fand sie komisch,
wie sie die Augen zusammenkniffen, die Stirn in strenge
Falten legten, die eiserne Zeit des Krieges beschworen und
die Toten vergessen hatten. Ich versagte mir das Lachen.
Ich dachte an die Leichenfelder, an die Siege, die wir ge-
feiert hatten.
Ich gab mich düster. Ich schlug den Krimmerkragen meines
Mantels hoch. Der Mantel war lang wie ein Kaftan. Ich
hatte lange nach ihm suchen müssen. Ich zog einen Russen-
kittel an, schloß ihn um den Hals. Ich preßte mir den
breiten jenseitigen Hut eines Landpfarrers tief über die
Augen. Wenn ich einen Hut aufsetzte.
Ein Kind auf dunkler Treppe; es nahm meine Hand,
flüsterte Hochwürden. Ich war Raskolnikow. Ich war einer
aus den Dämonen. Der aus dem Kellerloch. Der aus dem
Totenhaus. Ich hatte unterm Galgen gestanden. Der Bote
war noch einmal gekommen. Begnadigt. Die Schlinge hing
locker.
Ich zündete die Stadt an. Erdmanns Warenhaus brannte.
Eine Fackel in der Nacht. Das Rathaus brannte. Meine
Geburtsurkunde verbrannte mit. Das war gut. In Flammen
stand das Gericht. Ich öffnete das Gefängnis. Ich verteilte
die Waren der Geschäfte an die Armen und die befreiten
Gefangenen. Aus Buggenhagens Buchhandlung bekam
jeder ein Buch. Das Geld der Sparkasse auf die Straße.
Kinder spielten mit den Scheinen, formten Schiffchen,
setzten sie in die Gosse.
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