Erstausgabe (1976) Sequenz 41

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Jugend
Absolute Datierung
-
Zuordnung
41
Kopie
nein
Durchschlag
nein
Die Jungen vom Bahnhof, die kleinen futterneidischen Kofferträger, die zänkischen Fremdenführer, die ich gemieden, die untertänigen Bürgerkinder der Schule, die ich nicht gemocht, zornig oder glücklich verlassen hatte, kamen zu mir wie Lemuren in die Deutschen Lichtspiele, bittend oder fordernd, und ich, ein Wächter des Hades, mit einem Amt betreut, ließ sie heimlich durch den schwarzen Vorhang in das dunkle Myste<106>rium die Styx überschreiten. Sie mußten mit mir ringen. Nach Räuber- und Indianerstreifen, nach Sittenromanen und für Jugendliche verbotene Dramen gingen wir in den Hof des Theaters zu den Müllkübeln mit den abgerissenen, im Wind flatternden Plakaten der Filmkunst und zogen uns zu bösen Kämpfen aus, die nicht der Lust entbehrten, Schmerz zu fürchten, die Muskeln des andern zu spüren, sein Herz in der Knabenbrust am eigenen Pochen zu hören, den heißen Atem zu saugen. Auch das Fräulein von Lössin besuchte an einem Nachmittag unser Kino. Es gab einen Film über Friederikus Rex zu sehen, der viel Zulauf hatte und der Stadt sehr gefiel, Friedrichs Siege waren unsere, seine Niederlagen vergessen, er war ein Preuße, kennt ihr seine Farben, auch die Studenten kamen in Scharen und riefen Hurra, und das Fräulein von Lössin war hinten in der Loge, in der ich als Kind mit Theseus gesessen und zugesehen hatte, wie man den Feind schlug und in die Sümpfe trieb. Noch schämte ich mich meiner Erniedrigung, versteckte mich, machte mich klein, versuchte mit der Taschenlampe der Ariadne das Fräulein von Lössin zu blenden und mich in Finsternis zu hüllen. Ich wußte damals noch nicht, daß sie, von der ich annahm, sie sonne sich im Glanze des Königs und des Krieges, an einem Erschlagenen litt, verscharrt hinter einem Hünengrab im Wald des verlorenen Gutes. Ich verfolgte sie beharrlich, doch nicht, weil sie im Geruch der Feme stand, ich ging ihr nach durch die Straßen, verbarg mich <107>in Hauseinfahrten, nutzte die Dämmerung; ich weiß nicht warum. Es berührte, es betraf mich nicht, daß sie oder ihre Familie auf dem Gut waren, das Gut besaßen, das nach den Erzählungen meiner Mutter meiner Großmutter gehört hatte. Eine lange Zeit bildete ich mir ein, das Fräulein von Lössin zu lieben, es gefiel mir, ich empfand Liebe in meinem Bett, rettete das Fräulein aus brennenden Scheunen, gekippten Booten, Wunen im Eis, nahm sie von durchgehenden Pferden, begehrte keinen Lohn, weder das Gut noch sie, die verehrt wurde von den hochnäsigen Corpsstudenten, den brutalen Söhnen einer geschockten Gesellschaft. Einst folgte ich ihr und ihrem grünbemützten Beschirmer in ein Universitätsinstitut, erwartete, daß sie sich küßten, was vor einem meterhohen Glasbehälter geschah, in den Kaninchen und Mäuse zu großen Schlangen in einen für sie ausweglosen Raum getan waren, sich aber dort nicht fürchteten, ihr nahes Ende nicht ahnten oder nicht begriffen, sich ganz gewöhnlich benahmen, ohne Entsetzen, ja sich in den Körperwindungen der Schlangen putzten, weder Ekel erkennen ließen noch Panik. Erst als das Fräulein von Lössin, sechzehn Jahre alt, mich, den sie nicht kannte, allenfalls als ihren unwürdigen Verfolger, durch den Glaskasten des alptraumgleichen Todes erblickte, erschrak sie und stieß den akademischen Mützenträger zurück.