<96>Das Haus des Gerichts war aus Klinkersteinen gebaut und glänzte im Sommer wie im Winter, in der Nässe des Regens, im Sonnenlicht oder Laternenschein. Sein beliebter altdeutscher Baukastenstil von 1870 ließ an süddeutsche Städte denken, eine volkstümliche Romantik, die ich von Bildern kannte, seine Fassade, mit einem Hauch von Renaissance, an Paläste und Kerker. Innen war das Gericht ein verwirrendes Gegänge der Ordnung, von preußischen Beamten, sparsam versorgten Unteroffizieren bewacht, wie von Kafka in Prag beschrieben, was ich nicht wußte und dann Erinnerung war, wie von Piranesi gezeichnet, den ich liebte. Ich verirrte mich in Furcht, lief tollkühn die Treppen. Ich suchte eine Tür und meinte einen Ausweg. Ich war angezeigt worden, von wem, von jedermann, keiner Tat bezichtigt, oder das Vormundschaftsgericht hatte mich in den Akten gefunden, beschuldigt, zu leben. Gewalt nahte, stand vorm Haus, in ihren Absichten unerkennbar. Meine Mutter und ich berieten, uns tot zu stellen, die Vorladung zu ignorieren, die Vorhänge gegen die Stadt zuzuziehen. Wir waren eine Gesellschaft für uns, geschlossen, zuweilen hochmütig. Wir lagen in unsern zu einem rechten Winkel gestellten Betten und schliefen nicht. Wir lauschten auf des andern Atem; gewärtig, er könne aufhören, zu müde oder im Zorn. Hinter dem Gericht, zum Kastanienwall hin, war das Gefängnis der Justiz verbunden, mit ihm ein Leib und vielleicht eine Seele. Aus den Zellen blickten die Gefange<97>nen durch Gitter auf den Wall, auf die Spaziergänger unter den Kastanien, auf meine Mutter und mich, auf die roten Tennisplätze des Akademischen Clubs und seine gebildeten Spieler. Zur schönen Jahreszeit war das Aufschlagen der Bälle die Bastonade der feinen Leute, zugedacht den Eingeschlossenen. Wenn Winter war, täuschte der Schnee einen Ausgleich vor zwischen den Glücklichen und Unglücklichen. Doch als ich erkundet hatte, daß Tante Martha der Vormundschaftsrichter war, machte ich mich auf zu ihm, ohne meine Mutter zu verständigen, neugierig, ihn kennenzulernen, ihn zu sehen und zu sprechen, ihn in seinem Amt zu beobachten. Tante Martha war eine stadtbekannte Persönlichkeit und gehörte schon längst zu den Menschen, die mich beschäftigten, denen ich heimlich folgte, in die ich mich verwandelte, um sie zu erkennen und wie sie zu träumen. Tante Martha war Amtsgerichtsrat. Die Stadt hatte sich schwer, sehr allmählich und peinlich lächelnd an ihn gewöhnt. Als Alter und hoher Beamter wurde er geduldet, was energische Charaktere skandalös fanden. Die Studenten in ihrem gemeinen Sinn hatten den Richter schon früh Tante Martha gerufen, und die Bürger hatten den Namen mit ihrem nimmersatten Appetit auf Anrüchiges gierig übernommen. Tante Martha war lang und hager, hatte eine große Kaspernase und tiefliegende traurige Augen hinter dichten Falten. Hob er die Lider, blickten die Augen wie aus dem Panzer einer <98>Schildkröte. Ich sah ihn, wie er sich auf der Straße klein machte, gebückt ging, Akten unter dem Arm, wie um sich tief zu verneigen, zu entschuldigen, zu demütigen. Ein Lächeln aus angeborener Liebenswürdigkeit und entsetzlicher Verlegenheit verzerrte seine Züge. Mich schmerzten die unvernarbten Wunden in seinem Gesicht. Er trippelte mit kleinen Damenschritten durch die wehe Luft in den Gängen des Gerichts. Seine rechte Hand war gehalten, als hebe sie einen langen schleppenden Frauenrock aus dem Schmutz. Zuhause saß er, so glaubte die Fama ein Aufwärterinnengeschwätz, in ärmellosen, vorn und hinten recht ausgeschnittenen Kleidern aus einem Vorkriegsmodeheft vor einem Stickrahmen und zauberte schöne bunte Blumensträuße aus Garn oder Wolle. Mir gefiel das nicht. Es machte mich wütend. Ich sah den Richter in einer ererbten Villa hinter dem alten Friedhof zwischen Büchern leben, eine Katze auf dem Schoß, den Platon lesend. So beneidete ich ihn. Gern hätte ich ihn gebeten, mich im Altgriechischen zu unterrichten. Ich hatte ein Lehrbuch, ein Lexikon, schrieb griechisch auf die Ränder der Zeitungen und las die antiken Dichter in den klassischen Übersetzungen der deutschen Hellasschwärmer, der Idealisten und Humanisten, die es einmal gegeben hatte. Auf der Treppe des Gerichts ahmte ich Tante Martha nach, trippelte wie er hinter ihm her, hob den imaginären Damenrock; das war nicht bös gemeint, ich wollte, indem ich ihn imitierte, seine Gedan<99>ken lesen. Tante Martha vertrat amtlich öffentlich die Moral und ihre Gesetze. Heuchelte er? Ich glaubte es nicht. Ihm war nur etwas gebrochen oder zerbrochen in seiner Stadt, er fand sich und seine Wünsche frivol, oder der Zölibat hatte ihn weise gemacht wie alte Priester. So kam ich vor ihn, und in Akten, Spionenberichten, Nachtragenschaft aus den Rinnsteinen und den guten Stuben stand, er rebelliert. Gegen wen, und wo anfangen, und warum nicht? Tante Martha war Macht verliehen, er hätte töten können, Herr der Erziehungsanstalten, verderbende Folterkammern der Kinder im Land, doch gutherzig und angesprochen von Jugend und nicht ohne Zweifel am Gesetz und der allgemeinen Sitte, behauptete sich seine Freundlichkeit, seine Einsicht und Trauer gegen die ihm aufgepreßte Strenge. Ich erkannte in Tante Martha früh schon den Außenseiter der Gesellschaft. Das gefiel mir sehr und gab mir Vertrauen. Da alle Welt Tante Martha verhöhnte, spottete das Kind nicht. Den Richter schlug das. Meine Akte blieb liegen, fiel in die toten Schächte des Hauses. Spinnweb hüllte sie schließlich ein und die manchmal gnädige Zeit.