Erstausgabe (1976) Sequenz 26

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Jugend
Absolute Datierung
-
Zuordnung
26
Kopie
nein
Durchschlag
nein
Ich war Zeuge, aber ich bin nicht dabei gewesen, es kann sein, daß ich im Bett lag, als es geschah, es ist wahrscheinlich, ich ging früh zu Bett, oft ging ich auch spät zu Bett, manchmal war ich gar nicht aufgestanden am Morgen oder am Mittag und brauchte am Abend nicht zu Bett zu gehen, ich schlief aber nicht im Bett, oder ich schlief nicht immer, oder ich schlief wenig, auch wenn das Bett mich schützte, ich sprach mit Macbeth im Bett, ein deutscher Wald war ein deutscher Wald, er war nicht Macbeth' Wald, nicht Birnams Wald, und Macbeth brauchte den Wald nicht zu fürchten: nie rückte ein deutscher Wald gen Dunsinan. Ich wanderte mit Hyperion über die arkadischen Höhen. Ich las die Gedichte eines Mannes, der Benn hieß oder auch Becher. Ich schiffte mit den Flußpiraten piratenschiffs auf dem warmen lehmsuppigen Mississippi, und unter der Flußhaut trieben wie faule Baumstämme phosphorisierend die alten Leviathane des Buchs der Bücher. Auch Platon trat an mein Bett: gar oft Echekrates, hatte ich Sokrates schon bewundert, doch nie so wie jetzt. Grüne Tapete! Wer sie kleisterte, lag im Spital <61>oder war tot. Schimmel grünte: da war meine Burg, war mein festes Lager, war der Matratze Berg und Tal. Über Eck stand das Bett meiner Mutter, es war leer an diesem Abend und zu dieser Stunde, und später war das Bett meiner Mutter immer besetzt, und dann war es immer leer, bis ich es verkaufte oder es mir weggenommen wurde, oder es verloren ging. Dann war noch der Tisch da, an dem wir saßen, wenn meine Mutter da war und wir etwas zu essen hatten, oder an dem wir nur saßen, wenn wir nichts zu essen hatten, nur so, und manchmal redeten wir miteinander und manchmal nicht, und wir verstanden uns und verstanden uns nicht. In dem Schrank war das Brot, wenn wir Brot hatten, und meine Mutter hatte den Schrank abgeschlossen, bevor sie zur Arbeit gegangen war, damit ich das Brot nicht aufessen könnte, aber ich hatte einen Nagel und hatte ihn gebogen und platt geschlagen, und mit dem Nagel konnte ich das morsche Schloß des alten Schrankes öffnen, und ich nahm das Brot und biß in das Brot und stopfte das Brot in mich hinein, und es würgte mich, weil meine Mutter weinen würde. Eine Glühbirne hing an der Litze unter der niedrigen Decke, sie glühte schwach und durfte nicht glühen, ich sollte schlafen oder in die Finsternis starren, wenn ich Licht hatte, verschwendete ich es, meine Mutter konnte das Licht nicht absperren, und dann kam der Mann mit der Rechnung, der es absperrte, und wir saßen beide im Dunkel, meine Mutter und ich, und eine Frau, die zu uns gekommen war, hatte die <62>Glühbirne nackt genannt, ein nacktes Licht, das gefiel mir sehr, nackte Glühbirne, nacktes Licht, sie bauten ein Zelt, draußen war die Stadt, war der Feind, war der Feind auf dem Feld, waren Wölfe und Jäger im Wald, und auf der zerrissenen Wolldecke, in die ich mich gehüllt hatte, lagen die Bücher aus allen Bibliotheken der Stadt und der Universität, und Pastor Koch, der die Bücher sah, sagte, du bist doch kein Bolschewist, und ich sah ihn an und zählte die Schmisse in seinem roten vollen Gesicht und fragte, was ist ein Bolschewist, und ich blickte durch ihn hindurch vielleicht bis nach Rußland hinein, und dann lagen da die Zeitschriften, auf die unsere Stadt lüstern war und die ich für Alts Buchhandlung austrug, und sie hießen »Der Junggeselle«, »Das Bunte Magazin«, »Das Neue Leben«. Ich hätte lernen können, wie das Leben ist. Ich lernte es nicht. Ich wußte nicht, wie Mädchen aussahen und ob sie so aussahen, wie sie auf den Bildern des Neuen Magazins aussahen mit wenig oder mit nichts an und wie Knaben, die heimlich nackt baden und sich erregen, und die Mädchen waren glatt wie die Rücken der Knaben, und wenn ich im Schulhof die Mitschüler gemieden hatte, so mochte ich jetzt doch mit einem ringen, nackt und um keinen Preis, und ich suchte ihn und fand ihn nicht, und die Mädchen waren auch üppig, und ich liebte sie nicht und haßte sie nicht, ich streifte mein Hemd ab, es war mein einziges Hemd, ich trug es in der Nacht und trug es am Tag, wir hatten auch eine Küche, die Küche war <63>neben der Kammer, und ich lief durch die Kammer und lief barfuß über den Ziegelboden der Küche, ich spürte unter meinen nackten Sohlen den Ziegelstein, kalt, ausgehöhlt und sanft, der kalte Stein schmeichelte meinen Füßen, er war wie die Mädchen, glatt, sanft, auch üppig und kalt, ich hörte, während ich über den Küchenstein lief, wie die Mäuse über den gemauerten zerfallenden feuerlosen Herd huschten und sich im Reisig versteckten, das ich im Wald gesammelt hatte, oder sich in nichts versteckten, einfach im kalten Feuerloch, weil ich kein Holz gesammelt hatte, und ich dachte, während ich durch die Küche lief, warum fürchten sie sich vor mir, der ich mit den Mäusen reden möchte, und warum bleiben sie bei uns, sie finden nichts, und ich öffnete die Tür, die aus der Küche direkt in den Hof führte, und ich lauschte in den Hof und lauschte der Nacht, die Nacht war still, die Stadt war still, eine stille Stadt, ein stiller Erdkreis, wir wohnten im Hof, wir wohnten in einem Schuppen, im Vorderhaus brannte ein einsames, ein ungefährliches Licht hinter dem Fenster des alten Pantoffelmachers, er zog noch in der Nacht den bindenden Faden durch den harten Filz, er war ein Heimarbeiter und ein Greis, und was er am Tag oder in der Nacht vollbrachte, wurde ihm schlecht gelohnt, und er hatte die Bibel aufgeschlagen bei seiner Arbeit, weil er alt war und den Tod fürchtete, doch mir jubelten Engel, es war Januar, die Luft war winterstarr wie sprödes Glas, das zerspringen wollte, ich lief nackt <64>in den knirschenden Schnee, über die splitternden Eisschollen der Pfützen, ich hing mich nackt an die krumme Teppichstange vor der Küchentür, ich zog mich hoch, einmal, zweimal, dreimal, ich erschöpfte mich in Dutzenden von Klimmzügen, ich hörte vom Nebenhof den Hund des Schlächters, der weinte, weil er sich fürchtete wie der Pantoffelmacher sich fürchtete, und der Hund weinte leise, unterdrückt, weil er noch mehr als den Tod seinen Herrn fürchtete, den Meister Hergesell, der ohne sein rechtes Bein und was man sonst noch munkelte von Verdun zurückgekommen war und nun sein Bein und was man sonst noch munkelte von seiner Frau oder von seinem Hund forderte, die er prügelte, und von allen Tieren, die er schlachtete, und es durchfuhr mich ein Strahl vom Himmel, ein Feuerbrand von den Sternen ging durch mich durch, traf die gefrorene verschneite Erde: auf den Höhen, am ernsten Felsenhange, wo so gerne mir die Träne rann, säuselte die frohe Knabenwange schon dein zauberischer Odem an. Oder nicht im Bett und nicht im Hof. Ich führte eine alte Frau durch die Stadt, sie hing schwach und schwer an meinem Arm, es hatte Mitternacht geschlagen, drei Türme wachten über uns, Sankt Nikolai, Sankt Jakob, Sankt Marien, ihre Uhren hatten den letzten Schlag getan und den Tag in jenes Nichtmehr gestoßen, über die Grenze, die wir gerade noch zu erkennen glauben, unfaßbar nun unseren Sinnen und trostlos die Stunde nicht genutzt, den Tag <65>nicht gelebt, die Prüfung nicht bestanden, ins Dunkel gesunken, unwiederbringlich und ewig verloren. Die Straßen waren leer, die Plätze waren leer, die Häuser waren Särge, nebeneinander gereiht. Der Schritt hallte, Echo kam, die Fischfrauen schliefen mit den Fischen, der Fischmarkt war ein Fischmund, stumm. Das Rathaus war ohne Rat, sein hoher Giebel bröckelte dahin. Gottes Mühlen, wenn einer fromm war. Schatten, wenn Mond war, Lichtblumen, wo eine Gaslaterne flackerte. Ich machte es für Geld. Die Greisin gab mir eine Million, oder sie schenkte mir eine Milliarde, sie überschüttete mich mit astronomischem Verdienst, und auf den nachlässig gedruckten, preßfrischen und doch schon schmutzigen Scheinen versicherten ehrbare Herren, daß sie irgendwo, irgendwann oder zu jeder Stunde, an irgendwelchen Schaltern eine Million oder eine Milliarde oder eine Billion gegen das Papier in Gold auszahlen wollten, ich weiß es nicht mehr, ich fand ihre Schalter nicht oder ich fand sie zur falschen Stunde, doch die ehrbaren Herren erschütterte es nicht, und sie bedrohten jedermann mit Zuchthaus, der töricht genug wäre, ihre großartigen Scheine zu fälschen oder nachzuahmen. Ich hätte das Geld in den Rinnstein werfen sollen. Die Greisin bebte, und sie klammerte sich an die Hoffnung, daß ich sie vor den Geistern der Nacht beschützen würde. Doch konnten Geister die verschlossenen vergitterten Säle des Irrenhauses öffnen, und konnte ich sie gegen die Geister wieder sper<66>ren? Und wollte ich es? Die Greisin täuschte sich in mir; aber vielleicht dachte sie nur, wenn ich mit ihm gehe, gehe ich nicht allein durch die Nacht. Doch ich wußte, daß sie es taten, oder daß sie es schon getan hatten, und ich glaubte, Macbeth, Hyperion, die Flußpiraten, Gottfried Benns kleine Aster in der Brust, Bechers Fanal auf den Lippen, die Alte am Arm, langsamen Schrittes, Fuß für Fuß, ich sei erschlagen worden, und es ist sicher, daß sie mich gemeint hatten, aber ich hätte auch der Täter sein können, der Bursche mit dem Spaten in der Hand. Du bist der Mörder, du bist das ausgewählte Opfer, ich hebe die Hand, schlage zu, oder ich lasse es geschehen, ich verstecke mich, ich bin Kain, aber ich bin auch Abel, und du bist Kain und Abel. Und wo ist Gott, der zusieht und es geschehen läßt, und das alles wegen eines lächerlichen Rauches? Immer sind wir Zeugen, unzuverlässige, feige Zeugen, wir haben nichts gesehen, wir wissen von nichts, du bist mein Zeitgenosse, es gibt Generale, die alles lenken, wir haben sie eingesetzt, nachdem uns Gott enttäuscht hat oder wir uns von ihm abgewandt haben, wir haben den Generalen ihre roten Kragen genäht, wir haben ihre roten Kragen mit unserem Blut gefärbt, die Generale sind so zahlreich wie der Sand am Meer, und die Feldherrnkunst ist die verbreitetste aller Begabungen, dazu eine begehrte sichere Karriere, wenn es darauf ankommt, gewinnt der General die Schlacht, verliert den Krieg, wird Präsident der geläuterten Nation, triumphiert am Ende über alle <67>in seinen Memoiren, wird zum Mahnmal, bekommt sein Denkmal, ach, die Generale sind gute Rechner, sie verrechnen sich in den großen Chancen, aber nie in den kleinen Dingen, die nötig sind, einen Krieg zu beginnen. Die Generale zählen was heranwächst, sie bündeln es in Jahrgänge, und wenn sie genug Jahrgänge haben, geht ihre Spekulation mit dem Tod auf. Es empörte mich, als ich davon hörte. Der General rief den Jahrgang zur Musterung. Wie kam er dazu? Was fiel dem Kerl ein? Der General ist tot, nein, der General ist unsterblich, er bezieht seine Pension, am Morgen siehst du ihn durch den Park gehen, eine rüstige, eine ungebeugte Gestalt. Ich lebe, ich verdächtige dich, du bist mein Jahrgang, ich werde dich mustern. Wie widerlich du mir bist, wenn du dich nackt ausziehst und dich der Musterungskommission stellst, ihr deinen Hintern hinhältst, daß sie dich prügelt. Bist du sonst so geduldig? Ich will unsere Geschichte erzählen, meine Geschichte, deine Geschichte, sie geht dich nichts an, ich erzähle sie nur mir, ich werde dich bloßstellen, du bist noch nicht nackt genug! Es ist unangenehm, der Zeuge, es ist lästig, der Täter, es ist dumm, der Leichnam zu sein, nach so vielen Jahren. Du kannst dich nicht erinnern, du hast dein Gedächtnis verloren, du hattest nie ein Gewissen, du weißt von nichts. Am besten ist man der Ankläger. Seine Entrüstung kommt immer recht. Man glaubt sie ihm nicht, aber das macht nichts. Das Gericht braucht ihn. Dabei kennen ihn viele. Sie sahen <68>ihn mit dem Spaten unter den Bäumen. Er ist der Schlimmste. Er reichte mir den Spaten, er rief: schlag zu. Jetzt klagt er dich an. Er meint es ernst. Er ist ein ernster Mann. Ich scherze und bin ihm unterlegen. Er fordert meinen Kopf. Er fordert immer einen Kopf, das ist seine ernste Art. Ich werde mich nicht verteidigen. Ich werde dich in den Zeugenstand rufen. Deine Aussage wird uns nicht retten. Wir sind von Anbeginn verurteilt.