Erstausgabe (1976) Sequenz 22

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Jugend
Absolute Datierung
-
Zuordnung
22
Kopie
nein
Durchschlag
nein
<53>Sie öffnete, sie schloß die Tür, war im Krankensaal, dem verlassenen, dem aufgehobenen Lazarett, das nur noch ein Geruch war, verwest, auf dem Nesseltuch der leeren Betten die Hinterlassenschaft aus Schweiß, Flecken der Gekreuzigten, die dort gelegen, sich selbst befriedigt hatten oder nicht, gestorben waren oder fortgelaufen, meine Mutter kam, mich zu holen, sie zögerte, ängstigte sich, kam spät, kam als letzte, kam aus dem alten Reich das zusammenbrach, war das Ende der deutschen Geschichte, atmete nicht auf, sah nicht ins Morgenrot, wartete an der Tür, ging keinen Schritt weiter. Vielleicht waren die Züge nicht gefahren, die Lokomotiven ohne Kohle geblieben, oder der königliche Fahrplan hatte der Revolution gedient und dem Rückzug, die Wagen waren nach Berlin geeilt, zum entwichenen Kaiser, dem verwaisten Schloß, Matrosen aus Kiel, Kanoniere von den Schlachtschiffen, mit Fahnen, mit Gewehren, mit Blumen geschmückt, den welken Rosen vom August, es war November, oder meine Mutter hatte sich erst das Geld borgen müssen für die gefährliche Fahrt; und wer hätte es ihr gegeben. Der grüne ärarische Anstrich der Tür, vor der meine Mutter stand, war mit dem Krieg und der Zeit gesplittert, die Sprünge lagen weiß in der grünen Fläche wie das Delta eines mächtigen Stromes aus dem Erdkundebuch, des Ganges mit den Scheiterhaufen am Ufer, den Schlangen und reichen Geiern, den Fakiren, die zu beneiden waren, oder wie die Läufe des Nils, auf dem Moses ge<54>schwommen war in einem Korb, als er verstoßen wurde, Gott zu dienen, es konnte aber auch der Mississippi sein und ein Sack voll Indianer, Piraten und Krokodilen, meine Mutter wartete vor dieser Landkarte, vor einem Meßtischblatt, auf dem strategische Positionen zu beziehen, Siege nicht zu erringen waren, sie traute sich nicht, verhielt den Schritt, blickte mich an oder zu Boden auf die von genagelten Stiefeln zertretenen Bohlen. Sie war schüchtern. Ich weiß nicht mehr, ob ich es sah oder mir einbildete. Meine Mutter war jung, doch verdunkelte sie die grüne und weiße Flußlandschaft der Tür. Meine Mutter war erschrocken, und ich war es, der sie schreckte, hatte es stets getan, mein Anblick weckte Furcht und Reue, entsetzte und peinigte, ich spürte es, sie brauchte es nicht zu schreien, sie verharrte vor der Front der Betten, schaute auf die Betten in ihrer gestörten Ordnung, mich schmerzte meine und ihre Schwäche, wie konnte sie mich liebhaben, ich vermochte kaum, mich auf den Beinen zu halten, grade zu stehen, ich wollte ihr nun doch entgegenlaufen und verhedderte mich in dem langen blauweißgestreiften preußischen Barchenthemd. Die Planken bebten. Ein Schiff ging unter. Gewaltiger Donner. Die Rettungsboote waren ausgesetzt, die Wogen drückten sie hinunter. Das Bild des Kaisers stürzte von der Wand. Der Rahmen brach, Glas klirrte, die Scherben schnitten in den fliehenden Fuß. Hindenburg und Ludendorff schlugen sich oder paarten sich, wie die Hunde, sie <55>tanzten ineinander verbissen und eröffneten den Ball. Das Erziehungsbataillon feierte Majestäts Geburtstag. Das Fest war vorverlegt, alle Termine besetzt, die Ballkarten vergeben, das letzte Hurra. Ich fiel, oder ich sah mich fallen, stürzte gegen meine Mutter vor, preßte mein brennendes Gesicht gegen ihren jungen Leib, umklammerte ihn, er war schmal, wohl keusch, nicht warm und geburtenprall wie ein Familienbett, nicht wie der Bauch der Frau Majorin, alle Kinder hatten Mütter, die ich nicht mochte. Ich schluchzte, doch ich beherrschte mich, ich hatte es gelernt, ich kam aus einer Erziehungsanstalt, ich war Rekrut in einem tapferen Land, ich war der standhafte Zinnsoldat aus dem verlorenen Märchen, ich ermannte mich, wie man es mir befohlen hatte, blieb stehen, aufrecht, die strammen Kommandos, die Hornsignale der Dressur zerplatzten in der stürmischen Luft, ich sah meine Mutter an, ich blickte nicht weg, ich lief ihr nicht entgegen, fiel nicht hin, faßte sie nicht an, weinte nicht, ich ersparte ihr nicht den Weg durch das Krankenrevier, ich ließ sie langsam vor der graden Reihe der beurlaubten Betten spießrutenlaufen, ich sah sie, kleiner als sie war, mir näher kommen, mir schien, als belauerte ich sie durch ein umgekehrtes Fernrohr, durch ein langes ausgezogenes Objektiv, das ein Objekt entschwinden ließ, statt es heranzuholen, und ich war ein kindischer, ein auf einmal engstirniger militärischer Beobachter, vergiftet, boshaft geworden vom Sadismus des Systems: ich gab <56>meiner Mutter die Schuld, daß wir beide hier standen, so arm, so entblößt in der Stille des Raumes, der Kaserne, des Platzes, der Garnison, der öden Stadt. Ich hätte schreien, selbst auf sie einschlagen mögen. Wir blieben aber unbewegt und stumm. Erst später überfiel ich meine Mutter, um sie zu berauben. Ich wehrte mich ja nur; ich wußte nicht, gegen wen.