Erstausgabe (1976) Sequenz 21

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Jugend
Absolute Datierung
-
Zuordnung
21
Kopie
nein
Durchschlag
nein
Ich stand am Fenster des Krankenreviers. Es war ein <50>Traum, den ich erlebte, aber ich traute den Träumen nicht mehr. Jeden Augenblick konnte ich in die erbärmliche Wirklichkeit zurückfallen, konnte das Gekläff der Höllenhunde mich anspringen, Verkaufte, Versklavte wie ich, die aber des Dienstes Möglichkeiten schon wollüstig empfanden, die sich angebiedert, die sich gebückt, sich ausgezeichnet hatten, die sich den Waffenrock oder den grauen Arbeitsdrillich mit Baumwollschnüren dekorieren ließen, eine schwarzweiße Schnur für den Kompanieführer, eine gelbe für den Saalaufseher und den Schulterknopf für den Korporalschaftsersten, meine Kameraden, sie rissen uns aus dem Schlaf, sie warfen uns aus den Betten, mich brauchten sie nicht zu jagen, ich bangte in der Nacht ihrem Geschrei entgegen, ich hatte den Morgen grauen sehen, wie er kalt über die Reihen der Betten kroch, Morgenrot zum frühen Tod, ein beliebtes Lied, und marsch in den Waschsaal, marsch zu den Latrinen, eine getriebene Schar, am Ende das Schlachthaus wie für alle Herden, eine alte Walze die ratterte, Meldungen, die nichts sagten, wurden erstattet und gnädig entgegengenommen, Kaffee wurde nicht getrunken, eine angebrannt riechende schwarze Brühe wurde gefaßt, Kartoffelbrot und Rübenmarmelade heißhungrig verschlungen, das gaste in den flachen Knabenbäuchen, raus in den Hof, angetreten, abgezählt, daß keiner verlorenging, in Abteilungen marschiert, der heilige Fahnenappell, die Reichskriegsflagge am Mast, der Herr <51>Major im Heimkriegerschmuck, die Leutnants feldgrau, Verdun war nicht genommen, die Unteroffiziere trugen den bunten Friedensrock, was taten sie hier, die Erzieher kamen in gesinnungsfesten Joppen, der Institutspfarrer wie ein kranker Mond, der Vorrat an Vogelscheuchen war nach vier Kriegsjahren unerschöpft, der Dienst begann, Hinwerfen, Aufspringen, Kniebeugen, Melden, Grüßen, vor allem mit dem Grüßen hatten sie es, das saß tief in ihnen, war des stolzen Reiches Wehr und Glanz, selbst Verdun und die Eroberung von Verdun schienen daran zu hängen, daß keiner, der eine Schnur, einen Knopf, ein Schulterstück sein eigen nannte, beim Grüßen übersehen wurde. Das Lazaretthemd aus blauweißgestreiftem Barchent fiel mir wie ein Sack über die Füße. Ich war in dem Sack wie ein Irrsinniger in seine Zwangsjacke gefesselt. Ich war zwölf Jahre alt. Sie hatten mich kahl geschoren. In der beschlagenen Fensterscheibe des Krankenreviers sah ich mir als kahlgeschorener alter Sträfling entgegen. Ich war Zögling der vierten Kompanie der Militärischen Knabenerziehungsanstalt. Ich war Deutschlands Zukunft. Die eisernen Betten standen hinter mir vor der gekalkten Wand wie ein ausgerichtetes Glied. Die Betten waren Staatsbetten, sie waren vorschriftsmäßig gebaut, sie waren eckig, kantig, platt, hart. Nur das Bett, in dem ich gelegen hatte, war zerwühlt und fiel auf. Das holzwollharte Kopfkissen, der rauhe geflickte Woilach dunstete nach Fieber. Der Fußboden stank nach Sal<52>miak und Tornisterfett. Dies war einmal eine Burg gewesen. Durch Ritzen und Verfall zogen die Winde erstickter Kriege. Die Ritter hatten die Ritter totgeschlagen. Im Kanonenofen brannte kein Feuer. Das lange Ofenrohr strebte frostig und faul zum hohen Dach. Ich war allein. Sie waren alle davongelaufen, abgereist, abgeholt worden, die bellenden Höllenhunde, die kleinen dienstwilligen Teufel, die schlagenden Riesen, ihnen war Nebukadnezars Schrift erschienen, sie hatten sich aus dem Staube gemacht. Ich hatte gesiegt. An der gekalkten Wand hing das Bild des Kaisers, hingen Hindenburg und Ludendorff. Der Kaiser und seine Feldherrn beugten sich malerisch über die Generalstabskarte. Sie hatten Großes mit mir vor. Die feuerroten Aufschläge ihrer Uniformen hatten das Fieber meiner Grippe angeheizt. Der Heldentod war ein glühender Moloch mit drei helmbestückten Köpfen. Aspirin, hatte der stramme Stabsarzt gerufen und war noch in der Nacht an meiner Grippe gestorben. Auch gegen den Stabsarzt hatte mich Gott beschützt. Über dem Tor der Kaserne wehte die rote Fahne. Sie schlappte nebeltriefend, schwer, armselig im kalten Wind. Natürlich stand sie auch grell und verheißungsvoll im grauen Novembertag. Mir bedeutete das Zeichen nichts, aber es verkündete mir, daß es Wunder gab, daß ich frei war, daß ich den Heldentod und den Grippetod besiegt, daß ich nachhause durfte und den Krieg gewonnen hatte.