Erstausgabe (1976) Sequenz 06

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Jugend
Absolute Datierung
-
Zuordnung
6
Kopie
nein
Durchschlag
nein
Sie hörte ihn, wie er die Treppe heraufstieg, sie hörte seinen gehemmten, seinen schuldbewußten Tritt, er war drüben gewesen, in Feetenbrinks Haus, und ihr war, als ob er als Mann da hinüber gegangen wäre, als ihr Mann oder auch als ihr Sohn, später, erwachsen und zu ihrem Kummer, ein Herumtreiber, unehrlich, ein Mädchenverderber, so wurde er angesehen, der Schande war nie ein Ende, und hatte sie sich bewährt, besonnen wie die Leute sagten, gebessert, nachdem sie Unglück gehabt hatte, so konnte doch für ihn noch das Gericht kommen, die Erziehungsanstalt, das Gefängnis, die vergitterten Fenster, die man vom Kastanienwall sah, beim Spazierengehen und mit geschwollenem Schauer, sein Vater hatte Tennis gespielt auf dem Platz unterm Kastanienwall vor der grauen hohen Mauer, und sie hatte zugesehen, von oben, vom Wall her, wie er, sein Vater, über den roten Sand des Tennisplatzes gesprungen war, in langen weißen Hosen, die mit einem breiten Gummiband über den Schuh gespannt waren, den weißen Panamahut auf dem Kopf, dem Netz zu, hinter dem Ball her, und sie hatte den Platz nicht betreten dürfen, der für die Mitglieder des Akademischen <31>Tennisclubs reserviert war, und vielleicht hat ein Gefangener, ein Dieb, ein Mörder, über die Gefängnismauer hinweg, durch das kleine vergitterte Fenster der Zelle hindurch sie auf dem Wall unter den Kastanien gesehen und sie beneidet, wie sie dem Tennisspieler zusah, sie mußte streng sein mit ihm, ihrem Kind von ihm, es war ihre Christenpflicht, und sie ahnte, sah es durch die Tür hindurch, er hatte etwas geschenkt bekommen, hielt es fest umklammert in seiner kleinen schmutzigen Hand, er wartete, er zitterte schon, daß er es hergeben sollte, und er zögerte vor der Tür und wollte nicht hineinkommen und von dem Geschenk lassen, er klammerte sich an die Gabe einer dieser Sängerinnen, dieser reisenden heimatlosen aus dem Elternhaus geworfenen Tingeltangelteusen, die sie, wie alle Welt, verachtete und insgeheim auch beneidete, denn wer wußte es, vielleicht waren diese Geschöpfe frei, vielleicht lebten sie endlich glücklich jenseits dieser Grenze von Wohlanständigkeit und moralischem Hochmut, die für sie nur das Land der Armut war, während diese Animierdamen das gute Land der Anständigen hinter sich gelassen hatten und vielleicht auch die Armut und nun die knechteten mit Laune, Verweigerung, Betrug und Ausnützung, die sie knechteten, aber dies zu denken, war schrecklich gefährlich, sie durfte so nicht denken, diese Grenze, an die man sie schon gestellt hatte, mußte gezogen bleiben, sie wäre sonst verloren gewesen in ihrer Stadt. Sie hörte seinen <32>Schritt, sie hörte sein stilles Warten vor der Tür, und während sie lauschte und er sie erzürnte und doch erfreute, dieser Schritt auf der alten knarrenden Treppe, dieses Warten auf den wippenden Bohlen des Treppenabsatzes, vernahm sie wieder die anderen Schritte, die geschäftigen gleichgültigen Tritte der Sargträger, die ihre Mutter hinuntergetragen hatten, ihre Mutter, die in allem das Unglück gesehen und es immer bejammert und niemals begriffen hatte oder es nicht hatte begreifen wollen, das all dieses Abwärtsfallen von jenem ersten Fall herrührte, ihrem verwegenen Sprung in die Freiheit, den sie getan hatte, blindlings und ohne sich um Freiheit zu kümmern, sie gebrauchte das Wort Freiheit gar nicht, sie kannte es nicht in seiner absoluten Bedeutung, und wenn es ihr einer gesagt hätte, zugerufen in dem Moment, in dem sie aufbrach, aus ihrer Ehe, der Familie, dem Herkommen, Besitz eines Gutes mit all seinen Tieren, dem Acker und den Bäumen, springen wollte und auch sprang, hätte sie die Auflehnung, die in diesem Wort lag, nur erschreckt, und vielleicht hätte sie alles gelassen, das Weggehen, den Sprung, denn es war ihr gepredigt worden, und sie zweifelte an keines Predigers Wort, daß sich aufzulehnen Sünde sei, des Teufels Werk, und sie war noch immer des Pastors Meinung und untertan der Obrigkeit und konform mit der Sitte, die ihr zugesetzt hatte, aber es war niemand zu ihr gekommen, der ihr von Freiheit hätte sprechen und sie erschrecken können, blindlings lief sie, meinte aus ei<33>nem Haus in ein lichteres umzuziehen, ein neues Heim, das sie aber nie erreicht hatte und das auf diesem Weg, auf den sie sich begeben hatte, blindlings, ununterrichtet, auch niemals zu finden gewesen wäre, oder jedenfalls nicht von ihr, und so sah sie sich dann ihr Leben lang als vom Unglück erwählte, vom Schicksal geschlagene, schließlich arme alte Frau, der die Sorge am Bett saß, eine andere arme alte Frau, fast ihr Spiegelbild, und sie vererbte diese Überzeugung von Unglück und Geschlagensein, von Hiobs Leiden, wieder einen Ausdruck, den sie aus der Predigt übernommen hatte, weil er so schön und voll nach Unglück klang, vererbte dies an sie, die Tochter, die nun ihren Sohn atmen hörte hinter der Tür, und nahm dies für ein Zeichen, das das vererbte und aufgenommene Unglück bestätigte und ihm das letzte endgültige Siegel der Ausstoßung aus der Gesellschaft der Guten aufdrückte. Und auch das Kind sah nicht die bloße geschlossene Tür, das braun angestrichene Holz, die schwarze, gußeiserne Klinke, zu der es die Hand nicht zu heben wagte, auch das Kind sah den Sarg, der hinausgetragen wurde, das Gesicht seiner Großmutter wie es über seine Wiege oder dem alten Korb oder die Kiste in der er gelegen gebeugt war, aufgegangen war, oft, für Stunden, für ewig, ein kleiner bleicher Mond mit Mondkrater, Mondseen, Mondschatten, Mondlicht von der Lampe oder vom Fenster, sehr deutlich, sehr klar, wie auf einer Mondkarte, lange bevor das Kind den großen Mond am Himmel erblickt <34>hatte, ernst, verhärmt, freundlich auch, aber auf eine verhärmte Weise freundlich, manchmal in Mordgedanken geschattet und dann in Tränen gebadet, ihm die Schuld gebend, das Kind spürte es, schrie aber nicht, es blickte ernst, wehrte sich nicht, gab auch nicht nach, sie verstanden sich. Und der Mond sprach zu ihm und das Kind antwortete. Keine Worte.