Erstausgabe (1976) Sequenz 01

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Jugend
Absolute Datierung
-
Zuordnung
1
Kopie
nein
Durchschlag
nein
<7>Das Gedichtete behauptet sein Recht, wie das Geschehene.Goethe <9>Meine Mutter fürchtete die Schlangen. An warmen Sommertagen gingen wir durch das Rosental, die bei Sturmfluten vom Meer überspülte Flur auf brackigem Grund, das Gut zu sehen, Ephraimshagen mit seiner abweisenden gekalkten Mauer, der junkerlichen Auffahrtsallee, dem Säulenportal von dorisch-preußischer Strenge, der bröckelnden traurigen Sandsteinheiterkeit der hier wie im Stundenglas des Sensenmannes sichtbar verrieselnden Zeit, der stolzen albernen Herrschsucht des Herrenhauses, dem ungestürzten Gesindekönigtum, der alten Reserverittmeisterherrlichkeit zwischen den Ställen, der schwarzweiß gestrichenen Fahnenstange und ihren auf Halbmast gesetzten alldeutschen Träumen, ein Hahn krähte auf dem Mist, aus prallen Eutern säuerte Milch, Zeugung drängte zur Schlachtung, Spiritus fuselte aus den Bottichen der Brennerei, leer gähnten die geöffneten Fenster im Mittagslicht, weiß blühten gesteifte Stores, es glänzten die fuchsrot polierten Möbel pommerschen Empires, die schweren blanken Schränke mit Säulen und goldenen Beschlägen, die Kommoden mit Lorbeer und Girlanden, die Bettstellen mit gedrechselten Schwanenhälsen, es schliefen die gebrochenen Brokate der Sessel im Salon, die speckigen Lederstühle der Bibliothek mit der Rangliste der Königlich Preußischen Armee, dem Jagdkalender, <10>Bismarcks Erinnerungen, und irgendwie dahingeraten und vergessen das Buch der Lieder, die Bilder der Toten, ihre Säbel, ihre Pistolen, ihre Ehre an der Wand, ein Hund trottete durch den Sand, er kannte uns nicht, eine Pflugschar rostete, und meine Mutter sprach, es gehörte uns, schrie es, als wolle sie es mir einhämmern, in den Kopf pressen, ins Herz schlagen, daß auch ich teilhabe an Verlust und Leid, sie sollten mein Erbe sein, denn obwohl meine Mutter schon in der Stadt geboren war, in der engen Kammer der Armut, redete sie von Ephraimshagen mit der Bitterkeit, beraubt zu sein, und ich erkannte wieder in ihrem kleinen, von Müdigkeit verzehrten Gesicht der Großmutter verhärmte Züge, sah aber auch im jungen Gesicht meiner Mutter der Großmutter Brautbild erscheinen mit dem wie Spinnweb das Haupt deckenden Schleier, von einem wandernden Pinsler getuscht, einem verachteten Gesellen, der mit den Mägden gegessen und wohl auch die Decken und Wände des Hauses mit klassischen Ornamenten geziert hatte und den frivolen, fröstelnden Gestalten der Götter auf Wolken geschorener Wolle, der uralten Verführung, doch Zauber blieb es, wie er das im Kommenden Verborgene, die Liebesenttäuschung, den Trug der Leidenschaft, all den Verfall um das Brautlächeln und das geschmückte Haar der Achtzehnjährigen gelegt hatte, und ich schaute auch die Großmutter wie ich sie wahrgenommen hatte mit Säuglingssinnen, ihr zu Tränen bereites Gesicht mit dem nun schon gewoll<11>ten und erstarrten Ausdruck vergeblichen Grübelns, so beugte sie sich über den Korb, in dem ich lag, schenkte mir Liebe und Haß, ich empfand ihre aus meinem Anblick sich nährende und tödlich wuchernde Verzweiflung, denn meine Geburt sah sie wie ein letztes und endgültiges Siegel auf der Sippe Untergang gepreßt, auf den Verlust der Ehrbarkeit, auf die Hingabe von Land und Ansehen, und meine Mutter blickte wie ins Paradies durch die Einfahrt aus verklumptem Lehm, geformt von den Hufen der müden Ackerpferde, durchfurcht von den eisenbereiften Rädern der Erntewagen, vertrieben vertrieben aus eingebildeter Sicherheit und törichtem Stolz, doch ich fand nicht mehr den Garten Eden, nichts zog mich an, und auf dem Rückweg gegen Abend, Mücken hielten summend Ball über den verworfenen Tümpeln salziger Nässe, hörte meine Mutter es rascheln im verdorrten Gras, die Schlangen, erschrak sie, die tückischen Ottern des Rosentals, sie eilte fort, der Himmel finsterte über der Abdeckerei, Blitz und Donner drohten der Stadt, zogen gegen die berühmte Silhouette des romantischen Malers, da waren die spielenden Fohlen auf der Weide, die einsamen Männer, die traurig den Mond betrachten, die im Hafen ruhenden schlafenden Boote mit ihren Masten zu Afrikas Küsten in Knabenträumen, die Türme und Dächer von St. Nikolai, St. Jakobi und St. Marie drückten schwer die Gemeinde, glichen, aus rotem Backstein gegen den nie erreichten Himmel gebaut, Festungen tollkühner Pla<12>nung, vergreist in Wüste, Wildnis und Sumpf, und in den Kirchen lagen verlassen die leeren Schiffe, gebetlose Hallen hinter verschlossenen Türen, der Gnade der Beichte und Lossprechung entzogen, lagen die ungeschmückten protestantischen Altäre, die Kanzeln schulmeisterlicher Prediger, der verlorene Aufstand begrabener Gewissen, während es in den Gassen ringsum behäbig nach Abendbrot roch, nach Spickaal, nach Bratkartoffel und Fisch, nach Speck und Kleiebrot, nach Buchweizengrütze und Klüttegrütt, nach bürgerlicher Bescheidung, tückischer Demut, familiärer Niedertracht in Furcht und Enge und blind in Dummheit, nach der verwelkenden Erinnerung an die armen Helden des Krieges, nach der konservierten schönen Leiche des Kaiserreichs, dem von hinten erdolchten pasewalker Kürassier im Köchinnenglanz der roten Biesen auf weißem Tuch, nach dem Mensurblut der Studenten über den stinkenden Schurz korporierten Mutes ins Sägemehl der Kneipen gelaufen, nach dem Blut der von tollwütiger Feme Erschlagenen, ins Torfmoor versenkt, zu den Hünengräbern getragen, nach Mädchenblut in versteckter Wäsche unter das Sofa der guten Stube gestopft, nach der Asepsis, dem Eiter, der Anatomie der Kliniken, dem Schweiß der Kranken, dem Entsetzen der Sterbenden, der Angst der Examinierten und der schuldig Unschuldigen im Gefängnis ausgeliefert den Wärtern, nach dem Wahn der Irren in der Heilanstalt hinter den Gleisen und nach den Witzen <13>die man über sie macht, nach den verfaulten Blumen der Friedhöfe und dem Tod, den jeder in seiner Brust trägt, nach dem gasenden Schlick des Wallgrabens und der Abwässer, dem drängenden Atem der Liebenden unter dem Gebüsch in den Ruderbooten des Sommers, nach den Gespinsten der Professoren, den toten Herzen der Beamten, dem Staub der Gesetze, und dann die Armut der Langen Reihe und der grauen Schule verknöcherte Schmach, wie haßte ich die Stadt und wünschte die Schlangen herbei, eine gleitende Natter um jeden Pfosten, der ein Dach trug, ein Bett und den tiefen Schlaf all der Gerechten stützte.