Erstausgabe (1976) Sequenz 02

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Jugend
Absolute Datierung
-
Zuordnung
2
Kopie
nein
Durchschlag
nein
Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde, und Maria, die sich Mary nannte, glaubte, daß er auch ihre Stadt geschaffen habe und in ihr sich sonnte, wenn auch nicht zu verstehen war, daß er so kalt auf das Unglück blickte, es sei denn, daß die Unglücklichen vom Samen her schlecht und aus seinem Angesicht verstoßen waren, viele behaupteten das, aber es stimmte nicht oder nicht ganz, und also schaute Gott einfältig herab, was Maria billigte, denn auch sie hätte gern gesehen, daß alles gut war, weil sie die Stadt liebte und schätzte vor allen anderen, die sie nicht kannte.
Maria läuft mit Bismarck über die Lange Straße, promeniert mit Bismarck zur Stunde des Bummels zwi<14>schen fünf und sechs, wenn alle dort wandern und sich zeigen, die Ordnung streng und die Sitte auf eine wiederum von der Sitte gebilligte Weise gefährdet ist, Maria freut sich, daß sie mit Bismarck läuft, der ihr nicht gehört, aber auf sie hört, so daß ihr ein neues Ansehen, wie sie meint, von Bismarck kommt, sie liebt ihn und ist stolz.
Sie achtet nicht, wie eng die Verhältnisse sind, wie begrenzt der Spielraum, wie erstarrt die Regeln. Sie atmet Welt. Ein Prinz aus dem Kaiserhaus ist in die Stadt gekommen. Landrat, Bürgermeister, Polizeidirektor, Platzmajor, der Rektor der Universität beugen ehrfürchtig die Nacken. Der Prinz sagt Erwartetes, der Prinz ist gnädig. Gehröcke, Zylinderhüte, Uniformen und wehende Helmbüsche und der volle Wichs der Studenten beherrschen die Lange Straße. Maria hat kein Gespür für die Dämonen, die sie umgeben und die Herren der Szene sind, denn diese Dämonen sind alt und grau und haben das bunte Schauspiel der Parade nur erfunden, um von sich abzulenken und grau in grauen Wohnungen der Lust und Inzucht alter Vampire leben zu können. Gelächter, Maria hört es oder sie will es nicht hören oder weiß nicht, was es bedeutet, schrammt aus den Fenstern, Gelächter über sie die unten sind, damit sie unten bleiben. Aus allen Kellerluken dunstet Bauernherkunft, Bauerngeiz, die nie vergessene Schuld des aufgegebenen Ackers, der im Herzen wurzelnde Zweifel, ob die Stadt sie auch schützen würde und für <15>immer. Wronkers Essig- und Mostrichfabrik säuert die Gassen, säuert den Weg zum Grauen Kloster, zum Altenasyl, zur Grauen Klosterschule der Bürgerkinder. Fräulein Wronker fährt zweispännig über das Kopfsteinpflaster. Ein Doktor beider Rechte geht über den Wall und denkt, Fräulein Wronker zu heiraten. Die Tochter des Essigmischers wird Frau Rechtsanwalt, Frau Notar, vielleicht gar Frau Staatsanwalt oder Frau Amtsgerichtsrat. Sie wird ein Haus führen, eine dumme Ziege, die sich dem Lebensstil der anderen dummen Ziegen, die schon Frau Amtsgerichtsrat sind, anpassen wird. Fräulein Wronker wird sich sogar demütigen lassen, ihrer Herkunft wegen. Maria beneidet Fräulein Wronker wegen ihres Gespanns und ihrer Aussichten, aber sie verachtet sie zugleich und ganz echt und denkt, mit der tausche ich nicht. Bei Susemihl riecht es nach Marinaden. Wein aus Frankreich in Fässern und in soliden Flaschen. Lagerbier gärt. Aus Brüggemanns Leinenhaus kommt der leimige Stärkegeruch der Stoffe. In Bugenhagens Buchhandlung knistert Gelehrsamkeit aus Papier wie ein Kamm, den man durchs Haar führt. Trocken, manchmal ein Funke.
Alle Fenster beobachten Maria, Krötenaugen aus einem trüben Wasser. Maria ist neunzehn Jahre alt und blüht. Bismarck zieht sie wie eine von Borsigs neuen Lokomotiven vorwärts. Bismarck ist groß, er ist kräftig, er beschützt sie, seine Muskeln spielen unter dem kurzen Haar, sein Mund droht, sein Blick ist treu. Maria kennt <16>alle Farben der Landsmannschaften, der Burschenschaften, der Corps. Es ist die große Welt, die über die Lange Straße läuft, denn alle die eine bunte Mütze tragen, ein Band über der Brust haben und Schmisse im Gesicht, sind berufen, sie sind die Gesellschaft, die Stützen von Thron und Altar, sie sind das Deutsche Reich. Nichts zählt außer ihnen, die hervorragen. Der junge Kommis bei Susemihl errötet, wenn Maria kommt, ein lächerlicher Mann, ein Heringsbändiger, auch wenn er für sie den einen Salzfisch als ihrer und ihrer Mutter Mittagbrot mit der Holzzange aus der schuppenschillernden Lauge holt. Den Schuster muß sie bitten, die durchgelaufenen Sohlen ihrer Schuhe noch einmal, ein letztes Mal zu richten. Der Schuster ist kein Mann, genau genommen ist er kein Mensch. Er ist eine Funktion, er hat Schuhe zu machen und zu flicken, weil die Gesellschaft, diese sakrosankte Institution, zu der Maria nicht gehört, zu der sie sich aber zählt, ihre Füße bekleidet. Des Schusters Hand ist geschickt, aber sie gilt nichts. Schließt er die Werkstatt, tritt er zurück in die Gesichtslosigkeit der Gemeinen. Vor der in Drillich gekleideten Mannschaft auf dem Exerzierplatz, vor dem roten Klinkerbau der Kaserne steht der Leutnant. Ihn grüßt selbst der Borusse mit dem weißen Stürmer zuerst. Maria ist gutmütig. Sie hätte den Schuster als Bettler bemitleidet; wäre er wegen Mietschulden aus seiner Werkstatt oder seiner Wohnung geworfen worden, hätte sie sein Unglück gerührt, wie ihr eigenes, ih<17>rer Mutter trauriges Los sie immer wieder zu Tränen brachte. Maria ist gutmütig, aber der Schuhmacher als Stand, als Handwerker ist ein unmöglicher Mensch. Da Maria arm ist, verehrt sie den Besitz. Da sie sich deklassiert fühlt, bewundert sie um so mehr die herrschende Klasse. Der Arme hat an Brot zu denken. Der Reiche beschäftigt sich mit Blumen. Maria hat keine Ahnung, wie Besitz erworben wird. Sie versucht sich mit verbundenen Augen (die Binde der Torheit liegt über ihnen) in dem Balanceakt, ohne Geld und ohne soziale Stellung eine junge Dame zu sein. Wer arbeitet, Dienste leistet, einem Erwerb nachgeht, ist aus der Damenwelt ausgestoßen, und so leben Maria und ihre Mutter vom Zimmervermieten an Studenten und manchmal auch an einen Dozenten. Da ist sie zu Bismarck gekommen, der einem Herrn gehört, der die venia legendi der Augenheilkunde besitzt. Bei lindem Wind kreist er in einem Ballon um die Türme der Stadt. Wie schön ist diese hohe Stunde des Tages auf der Langen Straße, im von der Seeluft verklärten Licht des Sommers oder dem weihnachtlichen Gasglühlichtschein der Schaufenster und Laternen.