Wolfgang Koeppen
Am anderen Tag war die Straße voll von Flanierenden, die Gymna-
siasten und die Schülerinnen des Auguste-Viktoria-Lyzeums hatten sich
schwarz-weiß-rote Schleifen angesteckt, die Studenten trugen Couleur,
traten in Korporationen auf, die Läden waren geöffnet, die Geschäftsleute
lächelten, man begrub mit Tschindera und Paukenschlag den von einer
verirrten Kugel getroffenen Zeitfreiwilligen und die Reichswehr ging hin-
terher mit dem Ehrengewehr und die Studenten gingen hinterher und
Magnifizenz reihte sich ein in seinem Ornat.
Der Vater: er ist ein Hochstapler und ist kein Hochstapler. Er stammt
aus kleinen ordentlichen Verhältnissen. Aus einem Schulhaus. Die Eltern
sparen, damit der Sohn studieren kann. Medizin als Brotstudium. Er spe-
zialisiert sich in der Augenheilkunde. Nicht aus Interesse, eher um etwas
Besonderes zu sein. Er tritt keiner Verbindung bei, weil er keinem Corps
beitreten könnte. Er ist nicht klug genug, um dies belanglos zu finden. Er
empfindet gesellschaftlichen Neid und Ehrgeiz. Er ist unsicher und über-
spielt es. Erst mit den Jahren als Junggeselle und Eigenbrötler findet er
seine Haltung zur Welt. Es bleibt aber Minderwertigkeitsgefühl in seiner
Haltung zu den Mächtigen. Kein Untertan, aber jemand der sich gern mit
der Macht liiert. Als Privatdozent mietet er in der kleinen Universitäts-
stadt die alte Wohnung des Landrats. Er tritt als reicher Mann auf, hält
Pferd und Wagen, steigt zur Verwunderung der Stadt mit einem Luftbal-
lon auf. Woher nimmt er die Mittel? Er erstrebt das Ansehen eines Wis-
senschaftlers und die Stellung eines Lebemanns. Seine Begabung für sein
Fach ist nicht glänzend; doch würde er mit einem soliden Vermögen auf
der akademischen Laufbahn vorankommen. Sein Ausweg wäre eine reiche
Heirat. Man erwartet sie von ihm. Die Aussichten wären nicht ungünstig.
Es fehlt ihm aber auch hier an Beharrlichkeit.
Tante Martha: er ist eine stadtbekannte Persönlichkeit, man hat sich an
ihn gewöhnt, er wird toleriert, er ist Amtsgerichtsrat, leitet das Vormund-
schaftsgericht. Die Studenten haben ihn Tante Martha genannt, und die
Stadt hat den Namen übernommen. Er ist groß und hager, hat eine sehr
große vorspringende Nase. Er versucht, sich klein zu machen, geht immer
gebückt wie um sich zu verneigen‚ sich zu entschuldigen, zu demütigen.
Ein Lächeln aus echter Liebenswürdigkeit und furchtbarer Verlegenheit.
Viele Verwundungen, die zu keiner Vernarbung geführt haben. Er trip-
pelt mit schnellen Damenschritten über die Straße. Die rechte Hand als
höbe sie einen Rock. Zuhause trägt er Damenkleidung. Verschlossene Tür.
Eine strenge fromme Haushälterin, keine sexuelle Betätigung. Wäre in
der Stadt unmöglich. In Berlin hat er Angst, schleicht um die Lokale, traut
sich nicht hinein. Er steht ganz auf Seiten der geltenden Moral, findet
seine Träume abscheulich, gibt den Leuten recht, die ihn verspotten. Ein-
samkeit, in der allmählich Weisheit die Bitterkeit mildert. Seine Stellung
als Vormundschaftsrichter: der Knabe rebelliert gegen das Sittengesetz,
der Richter muß das Gesetz durchsetzen, ist aber gutmütig und irgendwie
angesprochen, er schwankt zwischen Freundlichkeit und Strenge, einer
8
Vom Tisch
Verführung ausgesetzt. Der Knabe wieder sieht Tante Martha als einen
Außenseiter der Gesellschaft, und das gefällt ihm. Da alle Tante Martha
verspotten, spottet er nicht. Den Richter verwirrt das.
Was wäre gewonnen, wenn man das Ich, den Erzähler wegließe und nur
die Welt, die er, der nicht in Erscheinung tritt, beobachtet, zeigen würde?
Das wäre ungefähr das von Robbe-Grillet in seinem Roman »La Jalousie«
angewandte Prinzip. Aber Robbe-Grillet hat die Methode zu Tode gehetzt
und ist gescheitert. Der Roman war ohne Leben. Dennoch ließe sich in der
Art des Kameraauges manches so schön kalt berichten, überbelichten,
durch die Lupe vergrößern, den Lauf anhalten, beschleunigen, die Bilder
montieren, und der unsichtbare, aber ja doch wirkende Erzähler bliebe als
Unperson von vornherein geheimnisvoll. Aber wie könnte man Empfin-
dungen beschreiben, die er hat, die in ihm entstehen und leben, die
ihn antreiben, wie beispielsweise die Wollust der Bewegung und des
Frostes.
Der Gang rötlich, linoleumbedeckt, feucht vom Wischen, roch nach Pe-
troleum, war entflammbar, Luft, über die er lief, in grüngelb blauroter Iris,
blühend Gezücht, es kribbelte heiß an den Beinen, die Feuertür war nicht
gesperrt, führte ins Dachgebälk der Stadthalle, Tanzabend, Ballettabend,
die Sterne von Film und Funk, verehrliche Gastspieldirektion der berliner
Hillermillerzillerrevue, tausend süße Beinchenweibchen im großen Saal
auf der Wahlrednerbühne und im Dachgeschoß die Garderobe, er beugte
sich herab, erniedrigte sich, gab nach, ergab sich heimlich, schaute sich um,
guckte durchs Schlüsselloch der abgeschlossenen Tür, sah die lange Reihe
der Schminktische, die Spiegel, die Glühbirnen darüber, eingefangen hat-
ten die Spiegel glitzernde Monde, Leibteile, Rißgesichter, die Stühle im
Raum verrückt, er roch sie, die ausgezogenen Schlüpfer, die Spitzenhem-
den, die Leibchen, die Halter für Brust und Strumpf auf den Lehnen, auf
dem Boden, auf den Tischen, und da saßen sie, liefen, strampelten, ver-
fingen sich mit bloßen Füßen in den abgelegten Kleidern, den anzuziehen-
den Tütüs und Flittern, die berliner Mädchen, sie waren nackt bis auf
die Binden vor der Scham, das Geschlecht herausstellend in der dürftigen
Verhüllung, fesselnder als ganz und gar nackt, ihre Binden schnitten ihm
in den Schritt, er ahnte ihre unter Mull gepreßten krausen Haare, er hatte
sie nie gesehen, befeuchtet von ihrem Saft und wie Wassertropfen auf der
naßen roten Scheide aus Döderleins Atlas der Gynäkologie, in der
Universitätsbibliothek aufgeschlagen, im Lesesaal, Handbücherei, das Re-
gal Medizin auf der grauen Eisengalerie, durchlöcherte Stufen, schallende
Platten, über die der Fuß ging wie in den Maschinenraum eines Schiffes,
und er hielt das Buch, den Döderlein in Händen, die sich verkrampften,
erregt waren, zitterten, flatterten, trugen schwer an dem schweren Lexi-
konband, Schweiß brach aus, Röte stieg auf, Döderlein wußte Bescheid,
kannte sich aus, sah das Menschentier gesund oder krank, klammerte die
Schamlippen auf, ließ nichts verborgen, öffnete den strotzenden Bauch,
zeigte das Kind in der Höhle, gekrümmten Homunkulus, oder wie es schon
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Am anderen Tag war die Straße voll von Flanierenden, die Gymna-
siasten und die Schülerinnen des Auguste-Viktoria-Lyzeums hatten sich
schwarz-weiß-rote Schleifen angesteckt, die Studenten trugen Couleur,
traten in Korporationen auf, die Läden waren geöffnet, die Geschäftsleute
lächelten, man begrub mit Tschindera und Paukenschlag den von einer
verirrten Kugel getroffenen Zeitfreiwilligen und die Reichswehr ging hin-
terher mit dem Ehrengewehr und die Studenten gingen hinterher und
Magnifizenz reihte sich ein in seinem Ornat.
Der Vater: er ist ein Hochstapler und ist kein Hochstapler. Er stammt
aus kleinen ordentlichen Verhältnissen. Aus einem Schulhaus. Die Eltern
sparen, damit der Sohn studieren kann. Medizin als Brotstudium. Er spe-
zialisiert sich in der Augenheilkunde. Nicht aus Interesse, eher um etwas
Besonderes zu sein. Er tritt keiner Verbindung bei, weil er keinem Corps
beitreten könnte. Er ist nicht klug genug, um dies belanglos zu finden. Er
empfindet gesellschaftlichen Neid und Ehrgeiz. Er ist unsicher und über-
spielt es. Erst mit den Jahren als Junggeselle und Eigenbrötler findet er
seine Haltung zur Welt. Es bleibt aber Minderwertigkeitsgefühl in seiner
Haltung zu den Mächtigen. Kein Untertan, aber jemand der sich gern mit
der Macht liiert. Als Privatdozent mietet er in der kleinen Universitäts-
stadt die alte Wohnung des Landrats. Er tritt als reicher Mann auf, hält
Pferd und Wagen, steigt zur Verwunderung der Stadt mit einem Luftbal-
lon auf. Woher nimmt er die Mittel? Er erstrebt das Ansehen eines Wis-
senschaftlers und die Stellung eines Lebemanns. Seine Begabung für sein
Fach ist nicht glänzend; doch würde er mit einem soliden Vermögen auf
der akademischen Laufbahn vorankommen. Sein Ausweg wäre eine reiche
Heirat. Man erwartet sie von ihm. Die Aussichten wären nicht ungünstig.
Es fehlt ihm aber auch hier an Beharrlichkeit.
Tante Martha: er ist eine stadtbekannte Persönlichkeit, man hat sich an
ihn gewöhnt, er wird toleriert, er ist Amtsgerichtsrat, leitet das Vormund-
schaftsgericht. Die Studenten haben ihn Tante Martha genannt, und die
Stadt hat den Namen übernommen. Er ist groß und hager, hat eine sehr
große vorspringende Nase. Er versucht, sich klein zu machen, geht immer
gebückt wie um sich zu verneigen‚ sich zu entschuldigen, zu demütigen.
Ein Lächeln aus echter Liebenswürdigkeit und furchtbarer Verlegenheit.
Viele Verwundungen, die zu keiner Vernarbung geführt haben. Er trip-
pelt mit schnellen Damenschritten über die Straße. Die rechte Hand als
höbe sie einen Rock. Zuhause trägt er Damenkleidung. Verschlossene Tür.
Eine strenge fromme Haushälterin, keine sexuelle Betätigung. Wäre in
der Stadt unmöglich. In Berlin hat er Angst, schleicht um die Lokale, traut
sich nicht hinein. Er steht ganz auf Seiten der geltenden Moral, findet
seine Träume abscheulich, gibt den Leuten recht, die ihn verspotten. Ein-
samkeit, in der allmählich Weisheit die Bitterkeit mildert. Seine Stellung
als Vormundschaftsrichter: der Knabe rebelliert gegen das Sittengesetz,
der Richter muß das Gesetz durchsetzen, ist aber gutmütig und irgendwie
angesprochen, er schwankt zwischen Freundlichkeit und Strenge, einer
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Vom Tisch
Verführung ausgesetzt. Der Knabe wieder sieht Tante Martha als einen
Außenseiter der Gesellschaft, und das gefällt ihm. Da alle Tante Martha
verspotten, spottet er nicht. Den Richter verwirrt das.
Was wäre gewonnen, wenn man das Ich, den Erzähler wegließe und nur
die Welt, die er, der nicht in Erscheinung tritt, beobachtet, zeigen würde?
Das wäre ungefähr das von Robbe-Grillet in seinem Roman »La Jalousie«
angewandte Prinzip. Aber Robbe-Grillet hat die Methode zu Tode gehetzt
und ist gescheitert. Der Roman war ohne Leben. Dennoch ließe sich in der
Art des Kameraauges manches so schön kalt berichten, überbelichten,
durch die Lupe vergrößern, den Lauf anhalten, beschleunigen, die Bilder
montieren, und der unsichtbare, aber ja doch wirkende Erzähler bliebe als
Unperson von vornherein geheimnisvoll. Aber wie könnte man Empfin-
dungen beschreiben, die er hat, die in ihm entstehen und leben, die
ihn antreiben, wie beispielsweise die Wollust der Bewegung und des
Frostes.
Der Gang rötlich, linoleumbedeckt, feucht vom Wischen, roch nach Pe-
troleum, war entflammbar, Luft, über die er lief, in grüngelb blauroter Iris,
blühend Gezücht, es kribbelte heiß an den Beinen, die Feuertür war nicht
gesperrt, führte ins Dachgebälk der Stadthalle, Tanzabend, Ballettabend,
die Sterne von Film und Funk, verehrliche Gastspieldirektion der berliner
Hillermillerzillerrevue, tausend süße Beinchenweibchen im großen Saal
auf der Wahlrednerbühne und im Dachgeschoß die Garderobe, er beugte
sich herab, erniedrigte sich, gab nach, ergab sich heimlich, schaute sich um,
guckte durchs Schlüsselloch der abgeschlossenen Tür, sah die lange Reihe
der Schminktische, die Spiegel, die Glühbirnen darüber, eingefangen hat-
ten die Spiegel glitzernde Monde, Leibteile, Rißgesichter, die Stühle im
Raum verrückt, er roch sie, die ausgezogenen Schlüpfer, die Spitzenhem-
den, die Leibchen, die Halter für Brust und Strumpf auf den Lehnen, auf
dem Boden, auf den Tischen, und da saßen sie, liefen, strampelten, ver-
fingen sich mit bloßen Füßen in den abgelegten Kleidern, den anzuziehen-
den Tütüs und Flittern, die berliner Mädchen, sie waren nackt bis auf
die Binden vor der Scham, das Geschlecht herausstellend in der dürftigen
Verhüllung, fesselnder als ganz und gar nackt, ihre Binden schnitten ihm
in den Schritt, er ahnte ihre unter Mull gepreßten krausen Haare, er hatte
sie nie gesehen, befeuchtet von ihrem Saft und wie Wassertropfen auf der
naßen roten Scheide aus Döderleins Atlas der Gynäkologie, in der
Universitätsbibliothek aufgeschlagen, im Lesesaal, Handbücherei, das Re-
gal Medizin auf der grauen Eisengalerie, durchlöcherte Stufen, schallende
Platten, über die der Fuß ging wie in den Maschinenraum eines Schiffes,
und er hielt das Buch, den Döderlein in Händen, die sich verkrampften,
erregt waren, zitterten, flatterten, trugen schwer an dem schweren Lexi-
konband, Schweiß brach aus, Röte stieg auf, Döderlein wußte Bescheid,
kannte sich aus, sah das Menschentier gesund oder krank, klammerte die
Schamlippen auf, ließ nichts verborgen, öffnete den strotzenden Bauch,
zeigte das Kind in der Höhle, gekrümmten Homunkulus, oder wie es schon
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