54 Wolfgang Koeppen
ben oder für den Unterseebootbund, er hat mich zu keiner seiner festen An-
schauungen bekehrt.
Der Rektor greift ein Bündel Papier, ein Aktenstück aus einer Lade seines
Schreibtisches, er schlägt den Aktendeckel auf, er blickt mich an, er lächelt nicht,
wie er mich vor sich stehen sieht, er sagt ruhig, daß es nicht nach meinem
Willen gehe, sondern daß meine Mutter mich vom Schulbesuch abmelden
müsse.
Ich meinte, meiner Mutter drohen und ihr zugleich etwas versprechen zu
müssen, damit sie mich aus der Schule nähme, und meine Drohung war, daß
ich im Bett liegen bleiben und nie wieder aufstehen würde, und mein Ver-
sprechen war, daß ich von der Schule befreit, Geld verdienen würde, um ihr
zu helfen. Es wäre aber gar nicht nötig gewesen, meiner Mutter zu drohen
und ihr etwas zu versprechen, denn sie war sich weniger als ich der Bedeutung
dieses Schrittes bewußt und sie war vielleicht, allzu ermüdet vom Kampf um
die Erhaltung unseres Lebens, bereit mich irgendetwas sein zu lassen, das sich
selbst ernähren konnte, nur das, sie war gewillt, wenn auch entgegen der
manchmal und besonders früher ihr erscheinenden Träume über meine Zukunft,
mich etwas werden, mich in einen Stand gleiten zu lassen, auf dessen Angehö-
rige sie als Mädchen, selbst noch als Frau, hochmütig herabgesehen hatte. Sie
begriff nicht, daß ich ohne Standesbewußtsein war, weder zu den einen auf,
noch zu den anderen hinunter blickte, sondern in allen möglichen Daseins-
formen nur Verkleidungen sah, die mir nicht stehen würden. Schließlich aber
glaubten wir beide, als wir darüber sprachen, an meine Behauptung, ich würde
Geld verdienen. Und so meinte ich, in das Leben einzutreten und die Kindheit
abzulegen wie einen unbequemen zu klein gewordenen Mantel.
Er ging zum Bahnhof, ging in der Dämmerung oder wenn es schon dunkel
war im Winter, ging zum 8-Uhr-Zug der von Berlin kam, ging schon früher,
schweifte herum am Bahnhof, stieg auf die Brücke die über die Gleise führte
von der man die Züge sah die nach Skandinavien fuhren, Malmö Stockholm
oder nach Pasewalk oder nach Stettin oder Berlin, oder sie rangierten dort, die
Lokomotive zog oder schob, sie stieß ab, die Güterwagen prallten gegen die
Puffer, quietschten im Bremsschuh, Kartoffel im Laderaum oder Zuckerrüben
oder Korn oder das Vieh das hinauslugte durch die Sprossenwand in diesen
Abend vor der Reise der mild war oder rauh, bei Kälte war ihr Atem zu sehen,
die feuchten Nüstern der Kühe, ihr rosa Maul, die Nasenlöcher durch die sie
die Rauchluft des Bahnhofs schnoben, den Abschied von der Weide dem Gras
dem Wind dem Blick ohne Grenzen aufs Meer in den Nebelwald, bestimmt
für Berlin die Hauptstadt in der die Menschen so hungrig waren, daß sie sie
fressen wollten, sanfte Rinder, lustige Schweine, von keiner Ahnung gequält,
und jenseits des Bahnhofs wo der Weg an Zäunen vorbeiführte hinter denen
Jugend 55
nichts lag oder nur Unrat Abfall ein verdorrtes Stück Land eine verfallene
Laube und dann leuchtend in der Nacht aus hohen Fenstern, aus kleinen Fen-
stern, aus geöffneten oder vergitterten Fenstern die psychiatrische Klinik, die
Irrenanstalt, er stand über dem Rauch, er rußte ein, dampfte ein, es war nun
der Zug nach Stralsund, er stieg die Stufen hinunter, wieder zum Bahnhof,
ging in die Schalterhalle, vorsichtig, sah, ob der Polizist da war, der geheime
mit der Pellerine mit dem Jägerhut, sah die anderen Jungens, die sich herum-
drückten, nach dem Polizisten spähten, Feinde, Konkurrenten, er ging zum
Zeitungsstand wandte sich hin hatte kein Geld, mit dem 8-Uhr-Zug kamen die
Berliner Zeitungen, er fragte nach den liegengebliebenen von gestern, bekam
sie oder bekam sie nicht, den Zeitungskopf abgerissen, für Pfennige, die er
zahlte oder schuldig blieb, dann fuhr der Zug ein, und sie kamen, er stand
hinter der Sperre und beäugte sie, nicht die Geschäftsreisenden mit den Muster-
koffern größer als er, sie wurden von dem Hoteldiener erwartet, wurden ver-
laden zum Nordischen Hof oder zum Preußischen Hof oder zum Schwarzen
Adler, er lauerte auf die, die Koffer hatten zu schwer zu tragen aber nicht
schwer genug zum Verladen, die noch nicht wußten, in welches Hotel sie gehen
wollten, oder die einfach erst mal in die Stadt gehen wollten, und er lugte nach
dem Polizisten, lief neben den Reisenden her, sprach sie an, flüsterte ihren
Koffer zu tragen, die anderen Jungen drängten ihn weg, stießen ihn, pufften
ihn, aber er fand Lücken, oder die anderen hatten andere Beute, und der
Reisende zögerte, sah ihn an, musterte ihn, und bevor der Reisende nein sagen
konnte, griff er den Griff des Koffers, drehte ihn aus der fremden Hand, nahm
den Koffer auf, lud ihn sich auf die Schulter, schwankte unter der Last und
trug ihn neben dem Fremden her, sie gingen über den Wall, er führte ihn wenn
der Reisende fremd war beschrieb ihm die Stadt, sagte hier wohnte Nachtigall
der Afrika erforschte und der Reisende hatte von Nachtigall gehört oder nichts
gehört, und es war ihm egal und er dachte, der Reisende zu sein, Nachtigall
der aus Afrika zurückkam den Koffer voll Elfenbein oder voll Gold, und Nachti-
gall war arm gestorben, ein Professor, und er ging als der reiche Herr Nachti-
gall zum Markt in den Nordischen Hof, schritt über den roten Läufer, ein ver-
wahrloster Knabe, trug seinen Koffer mit dem Gold, dem Elfenbein, und er
gab dem Knaben eine Mark oder gar zwei oder er gab einen Dollar und for-
derte ein Zimmer im ersten Stock, ein Zimmer zum Markt hinaus, und er sagte
Bratflundern auf das Zimmer serviert oder eine Gans mit Äpfeln und Back-
pflaumen gefüllt, und der Reisende drückte ihm dreißig Pfennig in die Hand
oder fünfzig, und der Portier des Hotels kam mit grüner Schürze, packte den
Koffer und schrie, scher dich hinaus.
Sie hatten ihn erschlagen, sie hatten ihn im Wald erschlagen, er hatte um Hilfe
geschrien, vielleicht hatte er auch nicht um Hilfe geschrien, denn er wußte ja,
daß alle Ohren taub waren und einer hatte einen Spaten, einen Feldspaten mit
ben oder für den Unterseebootbund, er hat mich zu keiner seiner festen An-
schauungen bekehrt.
Der Rektor greift ein Bündel Papier, ein Aktenstück aus einer Lade seines
Schreibtisches, er schlägt den Aktendeckel auf, er blickt mich an, er lächelt nicht,
wie er mich vor sich stehen sieht, er sagt ruhig, daß es nicht nach meinem
Willen gehe, sondern daß meine Mutter mich vom Schulbesuch abmelden
müsse.
Ich meinte, meiner Mutter drohen und ihr zugleich etwas versprechen zu
müssen, damit sie mich aus der Schule nähme, und meine Drohung war, daß
ich im Bett liegen bleiben und nie wieder aufstehen würde, und mein Ver-
sprechen war, daß ich von der Schule befreit, Geld verdienen würde, um ihr
zu helfen. Es wäre aber gar nicht nötig gewesen, meiner Mutter zu drohen
und ihr etwas zu versprechen, denn sie war sich weniger als ich der Bedeutung
dieses Schrittes bewußt und sie war vielleicht, allzu ermüdet vom Kampf um
die Erhaltung unseres Lebens, bereit mich irgendetwas sein zu lassen, das sich
selbst ernähren konnte, nur das, sie war gewillt, wenn auch entgegen der
manchmal und besonders früher ihr erscheinenden Träume über meine Zukunft,
mich etwas werden, mich in einen Stand gleiten zu lassen, auf dessen Angehö-
rige sie als Mädchen, selbst noch als Frau, hochmütig herabgesehen hatte. Sie
begriff nicht, daß ich ohne Standesbewußtsein war, weder zu den einen auf,
noch zu den anderen hinunter blickte, sondern in allen möglichen Daseins-
formen nur Verkleidungen sah, die mir nicht stehen würden. Schließlich aber
glaubten wir beide, als wir darüber sprachen, an meine Behauptung, ich würde
Geld verdienen. Und so meinte ich, in das Leben einzutreten und die Kindheit
abzulegen wie einen unbequemen zu klein gewordenen Mantel.
Er ging zum Bahnhof, ging in der Dämmerung oder wenn es schon dunkel
war im Winter, ging zum 8-Uhr-Zug der von Berlin kam, ging schon früher,
schweifte herum am Bahnhof, stieg auf die Brücke die über die Gleise führte
von der man die Züge sah die nach Skandinavien fuhren, Malmö Stockholm
oder nach Pasewalk oder nach Stettin oder Berlin, oder sie rangierten dort, die
Lokomotive zog oder schob, sie stieß ab, die Güterwagen prallten gegen die
Puffer, quietschten im Bremsschuh, Kartoffel im Laderaum oder Zuckerrüben
oder Korn oder das Vieh das hinauslugte durch die Sprossenwand in diesen
Abend vor der Reise der mild war oder rauh, bei Kälte war ihr Atem zu sehen,
die feuchten Nüstern der Kühe, ihr rosa Maul, die Nasenlöcher durch die sie
die Rauchluft des Bahnhofs schnoben, den Abschied von der Weide dem Gras
dem Wind dem Blick ohne Grenzen aufs Meer in den Nebelwald, bestimmt
für Berlin die Hauptstadt in der die Menschen so hungrig waren, daß sie sie
fressen wollten, sanfte Rinder, lustige Schweine, von keiner Ahnung gequält,
und jenseits des Bahnhofs wo der Weg an Zäunen vorbeiführte hinter denen
Jugend 55
nichts lag oder nur Unrat Abfall ein verdorrtes Stück Land eine verfallene
Laube und dann leuchtend in der Nacht aus hohen Fenstern, aus kleinen Fen-
stern, aus geöffneten oder vergitterten Fenstern die psychiatrische Klinik, die
Irrenanstalt, er stand über dem Rauch, er rußte ein, dampfte ein, es war nun
der Zug nach Stralsund, er stieg die Stufen hinunter, wieder zum Bahnhof,
ging in die Schalterhalle, vorsichtig, sah, ob der Polizist da war, der geheime
mit der Pellerine mit dem Jägerhut, sah die anderen Jungens, die sich herum-
drückten, nach dem Polizisten spähten, Feinde, Konkurrenten, er ging zum
Zeitungsstand wandte sich hin hatte kein Geld, mit dem 8-Uhr-Zug kamen die
Berliner Zeitungen, er fragte nach den liegengebliebenen von gestern, bekam
sie oder bekam sie nicht, den Zeitungskopf abgerissen, für Pfennige, die er
zahlte oder schuldig blieb, dann fuhr der Zug ein, und sie kamen, er stand
hinter der Sperre und beäugte sie, nicht die Geschäftsreisenden mit den Muster-
koffern größer als er, sie wurden von dem Hoteldiener erwartet, wurden ver-
laden zum Nordischen Hof oder zum Preußischen Hof oder zum Schwarzen
Adler, er lauerte auf die, die Koffer hatten zu schwer zu tragen aber nicht
schwer genug zum Verladen, die noch nicht wußten, in welches Hotel sie gehen
wollten, oder die einfach erst mal in die Stadt gehen wollten, und er lugte nach
dem Polizisten, lief neben den Reisenden her, sprach sie an, flüsterte ihren
Koffer zu tragen, die anderen Jungen drängten ihn weg, stießen ihn, pufften
ihn, aber er fand Lücken, oder die anderen hatten andere Beute, und der
Reisende zögerte, sah ihn an, musterte ihn, und bevor der Reisende nein sagen
konnte, griff er den Griff des Koffers, drehte ihn aus der fremden Hand, nahm
den Koffer auf, lud ihn sich auf die Schulter, schwankte unter der Last und
trug ihn neben dem Fremden her, sie gingen über den Wall, er führte ihn wenn
der Reisende fremd war beschrieb ihm die Stadt, sagte hier wohnte Nachtigall
der Afrika erforschte und der Reisende hatte von Nachtigall gehört oder nichts
gehört, und es war ihm egal und er dachte, der Reisende zu sein, Nachtigall
der aus Afrika zurückkam den Koffer voll Elfenbein oder voll Gold, und Nachti-
gall war arm gestorben, ein Professor, und er ging als der reiche Herr Nachti-
gall zum Markt in den Nordischen Hof, schritt über den roten Läufer, ein ver-
wahrloster Knabe, trug seinen Koffer mit dem Gold, dem Elfenbein, und er
gab dem Knaben eine Mark oder gar zwei oder er gab einen Dollar und for-
derte ein Zimmer im ersten Stock, ein Zimmer zum Markt hinaus, und er sagte
Bratflundern auf das Zimmer serviert oder eine Gans mit Äpfeln und Back-
pflaumen gefüllt, und der Reisende drückte ihm dreißig Pfennig in die Hand
oder fünfzig, und der Portier des Hotels kam mit grüner Schürze, packte den
Koffer und schrie, scher dich hinaus.
Sie hatten ihn erschlagen, sie hatten ihn im Wald erschlagen, er hatte um Hilfe
geschrien, vielleicht hatte er auch nicht um Hilfe geschrien, denn er wußte ja,
daß alle Ohren taub waren und einer hatte einen Spaten, einen Feldspaten mit