52 Wolfgang Koeppen
Ich glaubte damals, aufzuwachen, aber die Wahrheit ist wohl, daß mein
Schlaf sich in einem Traum verlor. Ich sah mich in diesem Traum agieren, ich
handelte folgerichtig nach einer ihm innewohnenden Logik; doch hätte ich zu
keiner Zeit sagen können, wovon ich träumte, oder auf welches Ziel hin ich
mich bewegte. Dies läßt sich auch nicht damit erklären, daß mein Ziel die Ziel-
losigkeit war. Manchmal behauptete ich so etwas (zu wem? mit wem sprach
ich?) doch es stimmte nicht. Ich hatte mir nichts vorgenommen, nicht einmal
die Ziellosigkeit; nur steuerte ich beharrlich von den anderen fort, und das war
es, worauf es mir ankam.
Der Raum ist groß, er ist kalt, er ist auf eine kalte Art warm, er ist dunkel, die
schwarzen Möbel machen den Raum dunkel, die schweren schwarzen Möbel
machen den Raum nicht klein, sie machen ihn zu einem Gebirge, die schweren
schwarzen Möbel bilden Fronten, der Schrank droht dem Tisch, der Tisch bockt
gegen den Sessel, die schweren schwarzen Möbel sind Festungen aus festem
schwarzspiegelndem Holz, große schwarze Ritter und kleine schwarze Ge-
fangene spiegelfechten, kleine schwarze Ritter und große schwarze Ungeheuer
spiegelfechten, der schwarze Schreibtisch steht auf schwarzen Löwenfüßen,
die gedrechselten schwarzen Löwenfüße krallen sich in den schwarzen Teppich
ein, gerissen liegt die Wolle des schwarzen Lamms unter den schwarzen Füßen,
die schwarze Polstertür schließt das schwarze Universum, draußen bleibt die
leiernde lernende leidende Stimme der Klassen, bleibt das Geleier des ABC,
bleibt das Geleier des Einmaleins, bleibt der geleierte unbegriffene Lehrsatz
der Mathematik, bleibt das geleierte schon durchlöcherte Gesetz der Natur,
bleibt der geleierte zusammengesetzte Satz der nichts sagt, bleibt das geleierte
von keinem Gott vernommene Kirchenlied, bleibt der geleierte vaterländische
Gesang der den Sänger berauscht, bleiben die geleierten Siege Friedrichs des
Großen, bleiben geleiert die Siege Bismarcks, bleiben geschmettert die Siege
des Kaisers, bleibt ungeleiert das Schweigen über dem Was nun, bleibt ein-
geleiert der Haß gegen das Jetzt, das ist die Republik, das ist Weimar, das ist
Versailles, das ist die schwarze und die rote und die deutsche Schmach, bleibt
der abgerissene doch immer fortfließende Strom zu den gefährlichen Strom-
schnellen dem drohenden Stromfall da die Zeit endet oder sich auflöst oder nie
gewesen ist oder wieder anfängt oder wie heute ist, bleibt das große Ungenü-
gend, das dem Kind als Zeugnis mit auf den Weg gegeben wird, draußen
bleiben die Gerüche die das Kind kennt, die es flieht, die es nicht fliehen kann,
der Geruch der dicken Zwiebelschmalzstulle, der Blutwurst zwischen den
mehlbestreuten Salzkuchen, die es nicht bekommt und nicht will, und die es
in den Staub wirft, wenn Hochmut sie ihm reicht, bleiben die strengen
Schweiße der Schulangst, die sauren Lerneiferdünste der Streber, die stolzen
zerschundenen Knie der ungezogenen Jungen, die sie im Winter dem Frost
zeigen.
Jugend 53
Ich stehe vor dem Rektor, ich bin ein Körper, ich habe eine Seele, aber ich
verliere meine Seele, ich muß aufpassen, daß sie mir nicht entwischt, doch
mein Körper hat auch seine Seele, er hat sie neuerdings und mit dieser Seele
meines Körpers, die meine andere, meine wahre Seele bedrängt, fühle ich
meinen Körper und stehe als Körper in der Welt. Ich trage keine Unterwäsche,
meine Mutter will, daß ich sie anziehe, auch wenn das Hemd und die
Unterhose zerrissen sind, ich habe nur meine gestreifte Kieler Bluse an, ich
trage sie auf dem nackten Leib und eine kurze blaue Waschhose, ich bin aus
diesen Sachen hinausgewachsen, es ist Sommer, doch am liebsten möchte ich
auch bei schneidender Kälte mitten im Winter so bloß gehen, mit nackten
Beinen, nackten Schenkeln, um den Frost auf der Haut und mit dem Frost
meinen Körper zu fühlen, der sich an den zu engen Nähten der Bluse und der
Hose reibt und diese Begrenzung besagt mir, daß etwas besitze, mich, und
diese Erkenntnis macht mich mächtig, auch über den Rektor. Der Rektor ist ein
schwerer Mann. Er trägt sein Haar wie Hindenburg. Er könnte auch Schaft-
stiefel tragen, einen Küraß und einen Adlerhelm. Er sitzt schwer hinter seinem
schweren Schreibtisch, und sieht mich aus kleinen trüben Augen teilnahmslos
an. Er riecht nach kaltem Zigarrenrauch. Das ist die Ausdünstung der Macht.
Auch Kohlenhändler Kleuke riecht so. Auch Kaufmann Susemihl. Die alten
Rechnungen sind nicht beglichen. Die neuen Konten werden nicht eröffnet.
Der Rektor fragt mich nach meinem Namen.
Es empört mich, er muß meinen Namen doch kennen, ich gehe in seine
Schule, ich versuche, nicht in seine Schule zu gehen, seine Schule quält mich,
ich hasse sie, ich hasse ihn, und er kennt meinen Namen nicht. Habe ich einen
Namen? Habe ich ihn verloren? Werde ich mir einen neuen Namen suchen
müssen? Es strengt mich an, es treibt mir den Schweiß auf die Haut, dem
Rektor meinen Namen zu sagen. Der Rektor grunzt, wie irgendein Tier, das
mit dem Rüssel die Erde aufwühlt. Wer weiß, welche Nahrung er sucht. Daß
er einem Tier ähnelt, macht ihn erträglich. Ich hasse den Rektor lange nicht so
sehr, wie ich Herrn Krüger, meinen Klassenlehrer hasse. Herr Krüger hat mich
nie teilnahmslos angesehen. Er hat nie meinen Namen vergessen. In seinen
Augen funkelt das Licht des Jägers, der die Spur aufgenommen hat und das
Wild verfolgt. Ich bin drei Jahre vor Herrn Krüger geflohen und jetzt hoffe
ich, ihm zu entkommen. Oft schien Herr Krüger mich einzuholen, mich ge-
fangen zu haben, er wollte mich zu Boden werfen, aber immer gelang es mir,
in ein Revier zu entkommen, das ihm unerreichbar war. Gestehe, wo bist du,
was denkst du, forderte er, seine Lippen preßten sich zusammen, die bräun-
lichen Muskeln seiner hageren Wangen zuckten, und ich sah ihn an, fest, kalk-
weiß im Gesicht vor Haß, doch festen Blickes, und schwieg, Herr Krüger hat
mich nicht in seine Herde getrieben, er hat mir nicht den Stempel der Nütz-
lichkeit in die Haut gebrannt, er hat mich nicht für den Bismarckbund gewor-
Ich glaubte damals, aufzuwachen, aber die Wahrheit ist wohl, daß mein
Schlaf sich in einem Traum verlor. Ich sah mich in diesem Traum agieren, ich
handelte folgerichtig nach einer ihm innewohnenden Logik; doch hätte ich zu
keiner Zeit sagen können, wovon ich träumte, oder auf welches Ziel hin ich
mich bewegte. Dies läßt sich auch nicht damit erklären, daß mein Ziel die Ziel-
losigkeit war. Manchmal behauptete ich so etwas (zu wem? mit wem sprach
ich?) doch es stimmte nicht. Ich hatte mir nichts vorgenommen, nicht einmal
die Ziellosigkeit; nur steuerte ich beharrlich von den anderen fort, und das war
es, worauf es mir ankam.
Der Raum ist groß, er ist kalt, er ist auf eine kalte Art warm, er ist dunkel, die
schwarzen Möbel machen den Raum dunkel, die schweren schwarzen Möbel
machen den Raum nicht klein, sie machen ihn zu einem Gebirge, die schweren
schwarzen Möbel bilden Fronten, der Schrank droht dem Tisch, der Tisch bockt
gegen den Sessel, die schweren schwarzen Möbel sind Festungen aus festem
schwarzspiegelndem Holz, große schwarze Ritter und kleine schwarze Ge-
fangene spiegelfechten, kleine schwarze Ritter und große schwarze Ungeheuer
spiegelfechten, der schwarze Schreibtisch steht auf schwarzen Löwenfüßen,
die gedrechselten schwarzen Löwenfüße krallen sich in den schwarzen Teppich
ein, gerissen liegt die Wolle des schwarzen Lamms unter den schwarzen Füßen,
die schwarze Polstertür schließt das schwarze Universum, draußen bleibt die
leiernde lernende leidende Stimme der Klassen, bleibt das Geleier des ABC,
bleibt das Geleier des Einmaleins, bleibt der geleierte unbegriffene Lehrsatz
der Mathematik, bleibt das geleierte schon durchlöcherte Gesetz der Natur,
bleibt der geleierte zusammengesetzte Satz der nichts sagt, bleibt das geleierte
von keinem Gott vernommene Kirchenlied, bleibt der geleierte vaterländische
Gesang der den Sänger berauscht, bleiben die geleierten Siege Friedrichs des
Großen, bleiben geleiert die Siege Bismarcks, bleiben geschmettert die Siege
des Kaisers, bleibt ungeleiert das Schweigen über dem Was nun, bleibt ein-
geleiert der Haß gegen das Jetzt, das ist die Republik, das ist Weimar, das ist
Versailles, das ist die schwarze und die rote und die deutsche Schmach, bleibt
der abgerissene doch immer fortfließende Strom zu den gefährlichen Strom-
schnellen dem drohenden Stromfall da die Zeit endet oder sich auflöst oder nie
gewesen ist oder wieder anfängt oder wie heute ist, bleibt das große Ungenü-
gend, das dem Kind als Zeugnis mit auf den Weg gegeben wird, draußen
bleiben die Gerüche die das Kind kennt, die es flieht, die es nicht fliehen kann,
der Geruch der dicken Zwiebelschmalzstulle, der Blutwurst zwischen den
mehlbestreuten Salzkuchen, die es nicht bekommt und nicht will, und die es
in den Staub wirft, wenn Hochmut sie ihm reicht, bleiben die strengen
Schweiße der Schulangst, die sauren Lerneiferdünste der Streber, die stolzen
zerschundenen Knie der ungezogenen Jungen, die sie im Winter dem Frost
zeigen.
Jugend 53
Ich stehe vor dem Rektor, ich bin ein Körper, ich habe eine Seele, aber ich
verliere meine Seele, ich muß aufpassen, daß sie mir nicht entwischt, doch
mein Körper hat auch seine Seele, er hat sie neuerdings und mit dieser Seele
meines Körpers, die meine andere, meine wahre Seele bedrängt, fühle ich
meinen Körper und stehe als Körper in der Welt. Ich trage keine Unterwäsche,
meine Mutter will, daß ich sie anziehe, auch wenn das Hemd und die
Unterhose zerrissen sind, ich habe nur meine gestreifte Kieler Bluse an, ich
trage sie auf dem nackten Leib und eine kurze blaue Waschhose, ich bin aus
diesen Sachen hinausgewachsen, es ist Sommer, doch am liebsten möchte ich
auch bei schneidender Kälte mitten im Winter so bloß gehen, mit nackten
Beinen, nackten Schenkeln, um den Frost auf der Haut und mit dem Frost
meinen Körper zu fühlen, der sich an den zu engen Nähten der Bluse und der
Hose reibt und diese Begrenzung besagt mir, daß etwas besitze, mich, und
diese Erkenntnis macht mich mächtig, auch über den Rektor. Der Rektor ist ein
schwerer Mann. Er trägt sein Haar wie Hindenburg. Er könnte auch Schaft-
stiefel tragen, einen Küraß und einen Adlerhelm. Er sitzt schwer hinter seinem
schweren Schreibtisch, und sieht mich aus kleinen trüben Augen teilnahmslos
an. Er riecht nach kaltem Zigarrenrauch. Das ist die Ausdünstung der Macht.
Auch Kohlenhändler Kleuke riecht so. Auch Kaufmann Susemihl. Die alten
Rechnungen sind nicht beglichen. Die neuen Konten werden nicht eröffnet.
Der Rektor fragt mich nach meinem Namen.
Es empört mich, er muß meinen Namen doch kennen, ich gehe in seine
Schule, ich versuche, nicht in seine Schule zu gehen, seine Schule quält mich,
ich hasse sie, ich hasse ihn, und er kennt meinen Namen nicht. Habe ich einen
Namen? Habe ich ihn verloren? Werde ich mir einen neuen Namen suchen
müssen? Es strengt mich an, es treibt mir den Schweiß auf die Haut, dem
Rektor meinen Namen zu sagen. Der Rektor grunzt, wie irgendein Tier, das
mit dem Rüssel die Erde aufwühlt. Wer weiß, welche Nahrung er sucht. Daß
er einem Tier ähnelt, macht ihn erträglich. Ich hasse den Rektor lange nicht so
sehr, wie ich Herrn Krüger, meinen Klassenlehrer hasse. Herr Krüger hat mich
nie teilnahmslos angesehen. Er hat nie meinen Namen vergessen. In seinen
Augen funkelt das Licht des Jägers, der die Spur aufgenommen hat und das
Wild verfolgt. Ich bin drei Jahre vor Herrn Krüger geflohen und jetzt hoffe
ich, ihm zu entkommen. Oft schien Herr Krüger mich einzuholen, mich ge-
fangen zu haben, er wollte mich zu Boden werfen, aber immer gelang es mir,
in ein Revier zu entkommen, das ihm unerreichbar war. Gestehe, wo bist du,
was denkst du, forderte er, seine Lippen preßten sich zusammen, die bräun-
lichen Muskeln seiner hageren Wangen zuckten, und ich sah ihn an, fest, kalk-
weiß im Gesicht vor Haß, doch festen Blickes, und schwieg, Herr Krüger hat
mich nicht in seine Herde getrieben, er hat mir nicht den Stempel der Nütz-
lichkeit in die Haut gebrannt, er hat mich nicht für den Bismarckbund gewor-