Anamnese2

Wolfgang Koeppen: „Anamnese“, in: Merkur 23/3 (1968), 252-259.

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Wkoe
Absolute Datierung
1.3.1968
Zuordnung
37 Publikation: "Anamnese" (Merkur 1968) 1
Kopie
nein
Durchschlag
nein
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protestantischen Altäre, die Kanzeln schulmeisterlicher Prediger, der verlorene
Aufstand begrabener Gewissen, während es in den Gassen ringsum behäbig
nach Abendbrot roch, nach Spickaal, nach Bratkartoffel und Fisch, nach Speck
und Kleiebrot, nach Buchweizengrütze und Klüttegrütt, nach bürgerlicher Be-
scheidung, tückischer Demut, familiärer Niedertracht in Furcht und Enge und
blind in Dummheit, nach der verwelkenden Erinnerung an die armen Helden
des Krieges, nach der konservierten schönen Leiche des Kaiserreichs, dem von
hinten erdolchten pasewalker Kürassier im Köchinnenglanz der roten Biesen
auf weißem Tuch, nach dem Mensurblut der Studenten über den stinkenden
Schurz korporierten Mutes ins Sägemehl der Kneipen gelaufen, nach dem
Blut der von tollwütiger Feme Erschlagenen, ins Torfmoor versenkt, zu den
Hünengräbern getragen, nach Mädchenblut in versteckter Wäsche unter das
Sofa der guten Stube gestopft, nach der Asepsis, dem Eiter, der Anatomie der
Kliniken, dem Schweiß der Kranken, dem Entsetzen der Sterbenden, der Angst
der Examinierten und der schuldig Unschuldigen im Gefängnis ausgeliefert den
Wärtern, nach dem Wahn der Irren in der Heilanstalt hinter den Gleisen und
nach den Witzen die man über sie macht, nach den verfaulten Blumen der
Friedhöfe und dem Tod, den jeder in seiner Brust trägt, nach dem gasenden
Schlick des Wallgrabens und der Abwässer, dem drängenden Atem der Lie-
benden unter dem Gebüsch in den Ruderbooten des Sommers, nach den Ge-
spinsten der Professoren, den toten Herzen der Beamten, dem Staub der Ge-
setze, und dann die Armut der Langen Reihe und der grauen Schule verknö-
cherte Schmach, wie haßte ich die Stadt und wünschte die Schlangen herbei,
eine gleitende Natter um jeden Pfosten, der ein Dach trug, ein Bett und den
tiefen Schlaf all der Gerechten stützte.
*
Der Park von Putbus und im Hintergrund das Schloß des Fürsten von Putbus,
und das Schloß sieht genau wie das Schloß des Fürsten von Putbus auf der An-
sichtspostkarte aus, die sie am Eingang des Parkes verkaufen, für zehn Pfennig
eine schwarzweiße, nein eine graue nebelfleckige Natur, für zwanzig Pfennig das
weiße Schloß unter azurblauem, fast tropischem Himmel auf einem stechend-
grünen Rasen. Das Schloß ist nicht klein und nicht groß, es ist hell angestrichen
wie mit blendendem Kalk beworfen, es ist ein sehr hübsches weißangestriche-
nes Schloß, und für die Insel Rügen und für Pommern ist es Versailles oder
Sanssouci oder sonst so etwas. Auf dem schwarzen Schieferdach des Schlosses
weht die Standarte des Fürsten, der Schullehrer des Ortes Putbus sagt, das Ban-
ner seiner Hoheit ist gesetzt, die Kurgäste flüstern, der Fürst ist zu Hause. Was
ahnen die Kurgäste? Der Fürst speist von goldenen Tellern, des Fürsten Krone
ist in das Tischtuch gestickt, die Schüsseln, das schwere Besteck tragen des
Fürsten Wappen, der Fürst regiert, aber wen regiert er? der Fürst schläft, er
umarmt die Fürstin, er zeugt den nächsten Fürsten von Putbus, der nicht herr-
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schen, der fallen wird, gemeuchelt unterm Schnee, verscharrt im Wüstensand,
begraben im Eis der Fjorde, versenkt in die Tiefe des Ozeans. Der alte Fürst
liebt eine Mätresse und zeugt einen Schriftsteller oder einen Minister oder
einen Volksverderber oder einen Hotelbesitzer, aber manche der Einheimi-
schen sagen auch, ons Först is dood. Der Park ist nach englischer Weise angelegt,
der Fürst oder die Fürstin oder ihre Ahnen oder der Architekt, den sie bezahl-
ten oder nicht bezahlten, oder irgendwer, der ihr Ohr erreichte, ein Einflüsterer,
ein Schmeichler, ein Bodenspekulant, vielleicht ein echter Engländer, der homo-
sexuell und emigriert war und seine Erinnerung an den Hydepark bekämpfte
oder pflegte, vielleicht an einem Knaben mit einem Mädchenteint, oder ein
Milchmädchen milchigen Teints auf den regennassen kurzgeschorenen Rasen
geworfen und vergessen oder nicht vergessen - sie alle liebten und über alles
die Natur. In den weiten Lichtungen sollten Rehe weiden. Rehe weideten auch
dort, kamen zutraulich heran, ließen sich füttern mit verschimmeltem Brot aus
der Hand ihrer Feinde, die Rehe schnupperten, prusteten mit feuchten Lippen
über die hingehaltene selbstzufriedene Hand, doch man sieht keine Rehe mehr,
die Rehe sind verschwunden, geraubt, geplündert, mit dem Armeegewehr
erschossen, von Handgranaten erledigt, bei Nacht geschlachtet, vielleicht hat
der Fürst sie gefressen, während die Standarte seiner Hoheit und seiner An-
wesenheit auf dem Dach seines Schlosses wehte, vielleicht aßen auch andere die
Rehe, taten sich am Rehfleisch gütlich, während der Fürst vor gedeckter Tafel,
vor leeren goldenen Tellern im Prunksaal ohne Feuer und ohne Licht saß und
auf die Schüsse lauschte, auf die Explosionen der Handgranaten vor seinem
Haus, in seinem Park, bei seinen Rehen, die er liebte und nicht schlachten
wollte, und vielleicht geschah dies alles während der Fürst starb. Die Wege des
Parkes sind sorgsam mit Sand bestreut, der von der Ostsee angespült, von Tage-
löhnern hergekarrt wurde und hier sehr ordentlich aussieht. Der Sand ist weiß,
feinkörnig, meergewaschen, manchmal knirscht eine zertretene Muschel, und
immer ist ein alter Mann beschäftigt, der dem Fürsten ähnlich sieht und viel-
leicht sein Bruder ist, die Pfade zu harken. Wenigstens in der Saison. Meine
Mutter sitzt im Park auf einer Bank, die der Schloßverwaltung oder dem Kur-
verein gehört. Meine Mutter schreibt. Sie schreibt keine Ansichtspostkarte, sie
transportiert nicht das Schloß des Fürsten von Putbus nach Hause oder in die
weite Welt. Keine Grüße aus der Sommerfrische. Auf ihren Knien ruht ein ab-
gegriffener Band, eine Sammlung von Fingerabdrücken, von Erinnerungen an
fremde, unachtsam verschlungene Mahlzeiten, Brandflecken mißmutig verpaff-
ter Zigaretten, der Klavierauszug einer lustigen Operette, und auf dem schäbi-
gen alten Klavierauszug liegt ein Bogen gelblichen Kanzleipapiers, den meine
Mutter irgendwo gefunden oder mitgenommen hat, und sie schreibt mir ver-
hungere, wenn du verhungern willst, wenn es deine Bosheit ist, mir dies an-
zutun, ich kann dir nicht helfen, wenn du dir nicht hilfst, und sie entschließt
sich zu schreiben, hilf dir selbst, dann hilft dir Gott, und es ist der Gott Luthers