In meiner Stadt war ich allein (Romanisches Café) 5

Wolfgang Koeppen: „In meiner Stadt war ich allein“, in: Ders.: Romanisches Café. Erzählende Prosa, Frankfurt/Main 1972, 86-98.

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In meiner Stadt war ich allein
Absolute Datierung
-
Zuordnung
52 Publikation: "Als ich Gammler war" / "In meiner Stadt war ich allein" (1969-1972)
Kopie
nein
Durchschlag
nein
mit einem scharfen Klingeln der Ladentür floh und da-
vonlief.
Im Theater saß der Direktor in seiner karierten Wolle
auf der Bühne und probte mit seinen Schauspielern einen
alten Schwank. Er sah mich an. Ist Ihre Garderobe ge-
kommen? Auch ich sah ihn an, oder ich wollte ihn ansehen,
fest fordernd und schweigend. Aber mir war schlecht, und
alles drehte sich ein wenig. Er sagte, ich habe keine Rolle
für Sie. Er maß meinen Mantel, den Krimmerkragen, der
sich auflöste, meine zerdrückten Hosen, die ungeputzten
Schuhe. Ich sagte, ich bin als Regisseur engagiert. Er
widersprach, aber er hob nicht die Stimme. Sie sind gar
nicht engagiert. Ich sagte, »Gas« wird ein Erfolg werden, die
Berliner Zeitungen werden berichten, Ihring und Kerr wer-
den kommen. Er sagte, Sie sind zu jung, Jugend galt nichts.
Sie genoß überhaupt kein Ansehen. Er sagte, meine Künst-
ler ... Er deutete auf die Schauspieler in der dämmerigen,
von einer einzigen Glühbirne erhellten Bühne. Ich blickte in
die Gesichter von mürrischen kleinen Beamten, die ihrer
Versorgung entgegenlebten. Er sagte, Sie sehen es, die wür-
den sich nichts sagen lassen, sie könnten Ihre Väter sein. Er
war kein Unmensch. Er zahlte mir die Reise.
Ich ging, Geld in der Tasche, in den Schwarzen oder Roten
oder Weißen Adler. Ich setzte mich zu ihnen, bei denen
ich geschlafen, den ehrsamen Leinewebern und Fabrikan-
ten. Ich bestellte Schlesisches Himmelreich und Grünberger
Wein. Ich war ein junger Herr auf seiner Bildungsreise.
Ich war mit der Kutsche gekommen. Ich war auf Abenteuer
erpicht. Die Honoratioren luden mich in ihr Haus. Sie
stellten mich den Töchtern vor. Weiße Betten. Ich stieg
hinein. Da entschloß ich mich, zur See zu fahren, und
Indien war mir nahe.
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Die Oder war zugefroren. Die Oderkähne lagen still und
verschneit. Ich fuhr vorbei an den preußischen Festungen,
an Küstrin und Landsberg, an den öden Exerzierplätzen,
an den Stätten der Erniedrigung, die ich nicht kannte, an
den Verstecken der Schwarzen Reichswehr, an ihren Feme-
gräbern, eingeebnet und vergessen. Ich sah es wuchern.
Ich ahnte es. Im Abteil für Reisende mit Traglasten. Es
war eine Pause. Sie hatten mich nicht. Es gab kein Ent-
fliehen.
Stettin roch nach Heringen, doch auch nach Ertrunkenen.
Die Schiffe lagen vor dem Bahnhof. Der Weg nach Indien
war frei. Die Ertrunkenen gingen über die Lastadie, eine
Uferstraße. Es waren Kneipen da, mit glühendem Ofen,
warm und heimelig. Es gab Grog gegen den steifen Wind.
Ich trank keinen Grog. Ich mochte ihn nicht.
Die Jugendherberge war auf dem Dachboden einer Schule,
einem großen Gebäude aus rotem Backstein, und der Her-
bergsvater hatte mich in der Herberge und in der Schule
eingeschlossen und war fortgegangen, und ich lag allein
auf dem Dachboden und auf einem der hundert Betten,
ich hatte kein Licht, und nur der Mond schien durch die
Mansarden. Da hörte ich ihn. Er kam langsam die Treppe
rauf, nicht schleichend, ruhig. Ich sah ihn im Dämmerlicht
am Ende des Schlafsaals, einen Mann mit einem Jägerhut,
einem Lodenmantel und mit angeschnallten Ledergama-
schen über seinen Schuhen. Ich stand auf und lief zur an-
deren Seite des Raums, zur Treppe, die dort hinunterführte,
ich eilte über die Stufen, und im Gang unten, der Treppe
mit Treppe verband, da stand er wieder, auf seiner Seite,
mit Jägerhut und Lodenmantel und ledernen Gamaschen,
und so im zweiten Stock und im ersten und im Parterre,
und ich stürmte in ein Klassenzimmer und rückte eine
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