In meiner Stadt war ich allein (Romanisches Café) 4

Wolfgang Koeppen: „In meiner Stadt war ich allein“, in: Ders.: Romanisches Café. Erzählende Prosa, Frankfurt/Main 1972, 86-98.

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In meiner Stadt war ich allein
Absolute Datierung
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Zuordnung
52 Publikation: "Als ich Gammler war" / "In meiner Stadt war ich allein" (1969-1972)
Kopie
nein
Durchschlag
nein
die Münder kreischten, in der Nacht, wenn die Liebe er-
wacht, die Mädchen kicherten, einer dirigierte mich zu dem,
den ich verhaften wollte, auch er war im Frack, er saß
ihm besser, ich wußte nicht, was er verbrochen hatte, ich
war Kriminalkommissar, was ging es mich an, ich streifte
ihm Handschellen über, ich sagte, im Namen des Gesetzes,
ein trauriger Tusch, der Vorhang fiel, ein Rokokopark,
Schäfer und Schäferinnen auf allegorischen Wolken ver-
söhnten das Gemüt, und alle gratulierten sie mir, sie sagten,
ich hätte es gut gemacht.
Es war keiner mehr da. Die Häuser hatten sie zu sich ge-
nommen, die behäbigen Häuser, die Häuser mit ihren brei-
ten verschlossenen Türen, die Häuser der Bürger, die Häu-
ser voll Wärme und Schlaf. Jedes Licht erlosch. Der Schnee
lag ruhig. Der Mond war aufgegangen. Die Stadt war ge-
mütlich und kalt. Sie war wie eine Weihnachtskarte. Ich
war im Bild. Ich war ohne Obdach. Ich hatte kein Geld.
Das konnte bestraft werden. Ich fürchtete den Schritt des
Polizisten. Nur Frost klirrte. Ich ging durch die Straßen,
lautlos. Ich suchte Zuflucht. Ich fand sie. Ich kletterte über
eine Mauer. Ich war auf dem Friedhof. Ich hatte Frieden.
Ich suchte mir ein Grab. Ich sah die Kreuze, die Steine,
ich las die Totensprüche. Es war die alte Stadt, die hier
schlief. Ein ehrsamer Leinenweber. Er war mir ein milder
Wirt. Ich breitete mein Plaid aus; ich warf die Bücher
unter den Kopf. Ich war einig mit der Welt. Ich wars
zufrieden. In Abständen nahm ich, um mich zu wärmen,
das Plaid, legte es mir auf die Schulter, rannte neben der
Friedhofmauer, zuweilen, auf einem Hügel sie überragend,
mit einem Blick auf die schlafende Stadt. Ich war bei ihren
Ahnen; sie wußten es nicht in ihren Betten. Lachen schüttel-
te mich, eine herrliche Heiterkeit. Ich malte mir aus, daß
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einer mich sehen könnte, vermummt in mein Plaid, und
daß er erzählen würde, da war ein Gespenst in der Nacht,
es spukte auf unserem Friedhof. Ich war sehr gern ein
Gespenst.
Am Morgen litt ich Frost. Ich wusch mich unter dem schla-
genden Strahl einer Pumpe und trank ihr eiskaltes Wasser.
Ich hatte Hunger. Der Tag graute. In einem Bäckerladen
brannte ein freundliches Licht. Der warme Geruch von
frischem Brot drang ins Freie, und die Frau des Bäckers
stand behaglich mit bloßen Armen hinter dem Tisch. Ich
wollte kein Bürger sein, aber ich war nicht befreit von
den Vorurteilen meiner Erziehung. Ich schämte mich so
sehr, um eine Semmel zu betteln, daß ich in der Backofen-
wärme des Ladens zitterte und schwieg. Die Bäckerin sah
mich lange an, deutete dann auf ein Plakat, das neben
ihr hing, und sagte, Sie sind vom Theater. Die Semmeln
lagen frisch und knusprig in einem Korb und waren mir
nah. Ich hätte sie greifen können. Ich sagte, ich inszeniere.
Ich sagte es hochmütig. Ich sagte, »Gas«. Ich sagte, von
Kaiser. Diese Antwort, oder wie ich sie gab, schien die
rundliche, gutmütige Frau zu erschrecken. Es war, als ge-
wahrte sie erst jetzt meine außerordentliche Erscheinung,
einen Jungen, verfroren, hungrig, mit überlangen Haaren
und schwarz angezogen wie ein geistlicher Herr. Und wenn
die Bäckerin mich eben noch in wohlwollende Verbindung
mit dem Theaterplakat gebracht hatte, der Werbung für
die »Königin der Nacht«, der Operette, in der ich so
erfolgreich debütiert hatte, erkannte sie nun in mir, ge-
warnt durch die Wörter »Gas« und »Kaiser«, eine ganz
andere Nachtgestalt, vermutlich des Irrsinns. Sie streckte
abwehrend ihre bloßen Arme, wich gegen die Wand, formte
den Mund zum Schrei, während ich, brennend, errötend,
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