MID355-M023-004

Wolfgang Koeppen: „Jugend. Prosa“, Süddeutscher Rundfunk, Stuttgart 14.11.1969.

Archivmappe
MID355-M023
Absolute Datierung
-
Zuordnung
2 Publikation: "Jugend" (SDR 1969)
Kopie
nein
Durchschlag
ja
- 2 -
(Sprecher:) um von sich abzulenken und grau in grauen Wohnungen der
Lust und Inzucht alter Vampire leben zu können. Gelächter,
Maria hört es oder sie will es nicht hören oder weiß nicht
was es bedeutet, schrammt aus den Fenstern, Gelächter über die,
die unten sind, damit sie unten bleiben. Aus allen Keller-
luken dunstet Bauernherkunft, Bauerngeiz, die nie ver-
gessene Schuld des aufgegebenen Ackers, der im Herzen wurzeln
de Zweifel, ob die Stadt sie auch schützen würde und für immer.
Wronkers Essig- und Mostrichfabrik säuert die Gassen, säuert
den Weg zum Grauen Kloster, zum Altenasyl, zur Grauen
Klosterschule der Bürgerkinder. Fräulein Wronker fährt zwei-
spännig über das Kopfsteinpflaster. Ein Doktor beider Rechte
geht über den Wall und denkt, Fräulein Wronker zu heiraten.
Die Tochter des Essigmischers wird Frau Rechtsanwalt. Frau
Notar , vielleicht gar Frau Staatsanwalt oder Frau Amtsge-
richtsrat. Sie wird ein Haus führen, eine dumme Ziege, die
sich dem Lebensstil der anderen dummen Ziegen, die schon
Frau Amtsgerichtsrat sind, anpassen wird. Fräulen Wronker
wird sich soga5 demütigen lassen, ihrer Herkunft wegen.
Maria beneidet Fräulein Wronker wegen ihres Gespanns und
ihrer Aussichten, aber sie verachtet sie zugleich und ganz
echt und denkt, mit der tausche ich nicht. Bei Susemihl
riehct es nach Marinaden. Wein aus Frakkreich in Fässern und
in soliden Flaschen. Lagerbber gärt. Aus Brüggemanns Waren-
haus kommt der leimige Stärkegeruch der Stoffe. In Bugen-
hagens Buchhandlung knistert Gelehrsamkeit aus Papier wie ein
Kamm , den man durchs Haar führt. Trocken, manchmal ein Funken.