MID355-M020-057
Wolfgang Koeppen: „Eine Jugend“, Regie: Dr. Reinhard Wittmann, Abspieldauer (1): 28'30; Archivnummer BR: HF/27108 – Abspieldauer (2): 27'15; Archivnummer BR: HF/27108 (1976), Bayerischer Rundfunk 1976.
IS - 17 -
Der Rektor greift ein Bündel Papier, ein Aktenstück aus einer
Lade seines Schreibtisches, er schlägt den Aktendeckel auf, er
blickt mich an, er lächelt nicht, wie er mich vor sich stehen
sieht, er sagt ruhig, daß es nicht nach meinem Willen gehe,
sondern daß meine Mutter mich vom Schulbesuch abmelden müsse.
Ich meinte, meiner Mutter drohen und ihr zugleich etwas
versprechen zu müssen, damit sie mich aus der Schule nähme, und
meine Drohung war, daß ich im Bett liegen bleiben und nie wieder
aufstehen würde, und mein Versprechen war, daß ich von der Schule
befreit, Geld verdienen würde, um ihr zu helfen. Es wäre aber gar
nicht nötig gewesen, meiner Mutter zu drohen und ihr etwas zu
versprechen, denn sie war sich weniger als ich der Bedeutung
dieses Schrittes bewußt und sie war vielleicht, allzu ermüdet
vom Kampf um die Erhaltung unseres Lebens, bereit mich irgend-
etwas sein zu lassen, das sich selbst ernähren konnte, nur das,
sie war gewillt, wenn auch entgegen der manchmal und besonders
früher ihr erscheinenden Träume über meine Zukunft, mich etwas
werden, mich in einen Stand gleiten zu lassen, auf dessen
Angehörige sie als Mädchen, selbst noch als Frau, hochmütig
herabgesehen hatte. Sie begriff nicht, daß ich ohne
Standesbewußtsein war, weder zu den einen auf, noch zu den anderen
hinunter blickte, sondern in allen möglichen Daseinsformen nur
Verkleidungen sah, die mir nicht stehen würden. Schließlich aber
glaubten wir beide, als wir darüber sprachen, an meine Behauptung,
ich würde Geld verdienen. Und so meinte ich, in das Leben
einzutreten und die Kindheit abzulegen wie einen unbequemen zu
klein gewordenen Mantel.
- stop -
Der Rektor greift ein Bündel Papier, ein Aktenstück aus einer
Lade seines Schreibtisches, er schlägt den Aktendeckel auf, er
blickt mich an, er lächelt nicht, wie er mich vor sich stehen
sieht, er sagt ruhig, daß es nicht nach meinem Willen gehe,
sondern daß meine Mutter mich vom Schulbesuch abmelden müsse.
Ich meinte, meiner Mutter drohen und ihr zugleich etwas
versprechen zu müssen, damit sie mich aus der Schule nähme, und
meine Drohung war, daß ich im Bett liegen bleiben und nie wieder
aufstehen würde, und mein Versprechen war, daß ich von der Schule
befreit, Geld verdienen würde, um ihr zu helfen. Es wäre aber gar
nicht nötig gewesen, meiner Mutter zu drohen und ihr etwas zu
versprechen, denn sie war sich weniger als ich der Bedeutung
dieses Schrittes bewußt und sie war vielleicht, allzu ermüdet
vom Kampf um die Erhaltung unseres Lebens, bereit mich irgend-
etwas sein zu lassen, das sich selbst ernähren konnte, nur das,
sie war gewillt, wenn auch entgegen der manchmal und besonders
früher ihr erscheinenden Träume über meine Zukunft, mich etwas
werden, mich in einen Stand gleiten zu lassen, auf dessen
Angehörige sie als Mädchen, selbst noch als Frau, hochmütig
herabgesehen hatte. Sie begriff nicht, daß ich ohne
Standesbewußtsein war, weder zu den einen auf, noch zu den anderen
hinunter blickte, sondern in allen möglichen Daseinsformen nur
Verkleidungen sah, die mir nicht stehen würden. Schließlich aber
glaubten wir beide, als wir darüber sprachen, an meine Behauptung,
ich würde Geld verdienen. Und so meinte ich, in das Leben
einzutreten und die Kindheit abzulegen wie einen unbequemen zu
klein gewordenen Mantel.
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