MID355-M020-031

Wolfgang Koeppen: „Jugend. Prosa“, Süddeutscher Rundfunk, Stuttgart 14.11.1969.

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MID355-M020
Absolute Datierung
-
Zuordnung
44 Publikation: "Jugend" (SDR 1969)
Kopie
ja
Durchschlag
nein
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Brest, Litowsk und Gallipoli, sie marschierten vorwärts
mit ihren genagelten Marschstiefeln in sein Gedärme hinein,
zerquetschten seine Brust, stampften die Marschnägel der
Knobelbecher auf seine Augen, bohrten die metallbeschlagenen
Stiefelspitzen in seine gespaltene Stirn, sahen schließlich
was sie sehen wollten, sein Hirn, begriffen nichts, blickten
stumpf auf graue Zellen, auf den Abfall eines Menschen,
der gehabt hatte womit sie nicht gesegnet waren, Einmalig-
keit, Verstand, ein Herz, eine Zunge zu reden, den Glauben
an die Unsterblichkeit seiner Seele, der mutig gewesen war,
nicht nur vor Verdun, nicht nur auf Befehl, den der Tod
geschmerzt hatte wo er ihn erblickte, der Verwundungen er-
litten hatte, sichtbare und unsichtbare, und der in sich
gespeichert hatte die Schätze seines menschlichen Erbes,
Bibliotheken von Ephesos, von Babylon, von Alexandria, die
Bergpredigt, die Freiheit eines Christenmenschen im Pfarr-
haus besprochen, die Menschenrechte aller Menschen, die
lateinische die griechische die hebräische Sprache, Tolstoi
im Wintersturm ein armer Bauer auf Jasnaja Poljana und
der ferne Sturm der O-Mensch-Rufe an Berliner Cafehaus
Tischen, und dann gruben sie ihn ein, wozu hatten sie den
Spaten, sie mühten sich nicht sehr, sie höhlten das Loch
mit dem blutbeschmierten Eisen, oberflächlich, sie hatten
nichts zu fürchten, sie fluchten nur über die Wurzeln der
Bäume die sie hinderten, sie hackten mit dem Spaten in die
weitverzweigten Wurzeln hinein, sie gaben seinem Leichnam den
letzten Tritt in die Grube, sie scharrten ihn zu.