BR-HF-27108-Teil2-Seite09
Wolfgang Koeppen: „Eine Jugend“, Regie: Dr. Reinhard Wittmann, Abspieldauer (1): 28'30; Archivnummer BR: HF/27108 – Abspieldauer (2): 27'15; Archivnummer BR: HF/27108 (1976), Bayerischer Rundfunk 1976.
jh - 9 -
Meine Mutter sitzt im Soufflierkasten des fürstlichen Putbuser
Sommertheaters und liest laut den Klavierauszug und spricht scharf
flüsternd den Text der lustigen Operette. Die Sänger haben ihre
Rollen nicht gelernt. Sie schwimmen, wie sie es nennen. Stumme
Fische. Stummes‚ staubbahniges gefirnistes Aquarium. Aus der Schau
meiner Mutter gesehen, wenn sie über den Klavierauszug blickt, nur
Füße und die Füße verstaubt und feucht und arm. Erst wenn meine
Mutter zu den Sängern aufsieht, beschwörend das Wort ruft, das
sehnlich erwartete, das lustige, diesmal voranbringende, erkennt
sie die Gesichter der Akteure. Hungrige Gesichter, wütende,
mitleidlose; sie fordern von meiner Mutter das Leben. Denn auch
sie, die Elenden sind aus Lehm gefügt und verlangen, durch einen
Atem belebt zu werden. Ihr Ausdruck ist herrisch, arrogant,
eingebildet, vorwurfsvoll, die Gesichter der Sänger klagen an,
weil ihre Ohren oder ihr Gedächtnis oder ihr Verstand die Sätze,
die meine Mutter flüstert oder schreit, nicht empfangen oder
nicht begreifen. Die Sänger öffnen den Mund, aber sie singen
nicht; sie vergessen, den Mund, der nicht singt, wieder zu
schließen; meine Mutter blickt in kleine schwarze Löcher
unsäglicher Torheit, und die Augen der Sänger wandern oder stechen,
sind ratlos oder nur böse. Die Probe zieht sich erschlaffend hin.
Am Himmel, der so fern ist, versammeln sich Gewitter. Der
Regisseur schimpft, er schläft mit der Soubrette, er schimpft
nicht mit der Soubrette, die alte Bettstelle knarrt, die Zimmer
vermietende Fischerswitwe horcht und erregt sich hinter der aus
Holz gefügten dünnen Wand, das steinschwere Federplumeau wird
von verschwitzten Gliedern zurückgestoßen, die Nacht beklemmt in
der Mansarde, wer in den Tropen war oder was über Tropen las,
mag denken: - - -
Meine Mutter sitzt im Soufflierkasten des fürstlichen Putbuser
Sommertheaters und liest laut den Klavierauszug und spricht scharf
flüsternd den Text der lustigen Operette. Die Sänger haben ihre
Rollen nicht gelernt. Sie schwimmen, wie sie es nennen. Stumme
Fische. Stummes‚ staubbahniges gefirnistes Aquarium. Aus der Schau
meiner Mutter gesehen, wenn sie über den Klavierauszug blickt, nur
Füße und die Füße verstaubt und feucht und arm. Erst wenn meine
Mutter zu den Sängern aufsieht, beschwörend das Wort ruft, das
sehnlich erwartete, das lustige, diesmal voranbringende, erkennt
sie die Gesichter der Akteure. Hungrige Gesichter, wütende,
mitleidlose; sie fordern von meiner Mutter das Leben. Denn auch
sie, die Elenden sind aus Lehm gefügt und verlangen, durch einen
Atem belebt zu werden. Ihr Ausdruck ist herrisch, arrogant,
eingebildet, vorwurfsvoll, die Gesichter der Sänger klagen an,
weil ihre Ohren oder ihr Gedächtnis oder ihr Verstand die Sätze,
die meine Mutter flüstert oder schreit, nicht empfangen oder
nicht begreifen. Die Sänger öffnen den Mund, aber sie singen
nicht; sie vergessen, den Mund, der nicht singt, wieder zu
schließen; meine Mutter blickt in kleine schwarze Löcher
unsäglicher Torheit, und die Augen der Sänger wandern oder stechen,
sind ratlos oder nur böse. Die Probe zieht sich erschlaffend hin.
Am Himmel, der so fern ist, versammeln sich Gewitter. Der
Regisseur schimpft, er schläft mit der Soubrette, er schimpft
nicht mit der Soubrette, die alte Bettstelle knarrt, die Zimmer
vermietende Fischerswitwe horcht und erregt sich hinter der aus
Holz gefügten dünnen Wand, das steinschwere Federplumeau wird
von verschwitzten Gliedern zurückgestoßen, die Nacht beklemmt in
der Mansarde, wer in den Tropen war oder was über Tropen las,
mag denken: - - -