Satzvorlage Seite 110
Satzvorlage für „Jugend“ aus dem Siegfried Unseld Archiv (SUA) im Deutschen Literaturarchiv Marbach / Wolfgang Koeppen: „In meiner Stadt war ich allein“, in: Ders.: Romanisches Café. Erzählende Prosa, Frankfurt/Main 1972, 86-98.
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sein, rief mich dann auf, wählte mich aus der Menge, zum
Schluß, blickte mir in die Augen, gab mir den faulen Atem,
streichelte mich. Er hieß mich Jesus sein, und ich war Jesus
und ging unter die Säufer und unter die Huren und unter
die Armen, und ich segnete sie und sprach zu ihnen und
gab ihnen Bibelworte‚ und es war still in der Kneipe, man
hörte nur das Geld in den Teller fallen, wenn mein Meister
die Kollekte machte.
Ich schlief bei ihr. Sie hatte mich mitgenommen. Sie war
ein Mädchen aus einer den Kneipe. Ich lag in ihrem Bett, in
ihrer engen Kammer, sie zog sich aus, ich sah sie nackt
im stockfleckigen Spiegel, ich sah in dieser Scherbe, daß
sie mager war, ein hungriges Kind, und sie sah, daß ich
sie ansah, sie deckte Brust und Scham mit der Hand,
wandte sich ab, ging zu einem Pappkoffer und holte ein
Hemd heraus, ein langes weißes x bäuerisches Hemd aus kräftigem
Leinen mit langen Armen, sie zog es an, es reichte bis
zu den Füßen, sie sagte, das ist mein Sterbehemd, sie legte
sich neben mich, wir schliefen und berührten uns nicht,
und es dauerte acht Nächte oder mehr.
Es kam der Tag. Der Schalterbeamte rief, ein Jungmann
für Dampfer Eddy nach Finnland. Ich reichte ihm meine
Karte. Er heuerte mich an. Der Arzt griff nach meinem
Geschlecht. Er sagte, hüte dich vor den Weibern. Er hatte
Schmisse in einem blauroten Gesicht. Sein Auge zwinkerte.
Der Dampfer Eddy ging auf Fahrt. Ein Eisbrecher brachte
uns durch das Haff. Ich sah die große graue See. Eine
unendliche Grabplatte, wie aus Blei. Ich sah Seeschlachten,
Versenkungen, Bombardierungen. Ich sah die großen Un-
tergänge, die kommen sollten.
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sein, rief mich dann auf, wählte mich aus der Menge, zum
Schluß, blickte mir in die Augen, gab mir den faulen Atem,
streichelte mich. Er hieß mich Jesus sein, und ich war Jesus
und ging unter die Säufer und unter die Huren und unter
die Armen, und ich segnete sie und sprach zu ihnen und
gab ihnen Bibelworte‚ und es war still in der Kneipe, man
hörte nur das Geld in den Teller fallen, wenn mein Meister
die Kollekte machte.
Ich schlief bei ihr. Sie hatte mich mitgenommen. Sie war
ein Mädchen aus einer den Kneipe. Ich lag in ihrem Bett, in
ihrer engen Kammer, sie zog sich aus, ich sah sie nackt
im stockfleckigen Spiegel, ich sah in dieser Scherbe, daß
sie mager war, ein hungriges Kind, und sie sah, daß ich
sie ansah, sie deckte Brust und Scham mit der Hand,
wandte sich ab, ging zu einem Pappkoffer und holte ein
Hemd heraus, ein langes weißes x bäuerisches Hemd aus kräftigem
Leinen mit langen Armen, sie zog es an, es reichte bis
zu den Füßen, sie sagte, das ist mein Sterbehemd, sie legte
sich neben mich, wir schliefen und berührten uns nicht,
und es dauerte acht Nächte oder mehr.
Es kam der Tag. Der Schalterbeamte rief, ein Jungmann
für Dampfer Eddy nach Finnland. Ich reichte ihm meine
Karte. Er heuerte mich an. Der Arzt griff nach meinem
Geschlecht. Er sagte, hüte dich vor den Weibern. Er hatte
Schmisse in einem blauroten Gesicht. Sein Auge zwinkerte.
Der Dampfer Eddy ging auf Fahrt. Ein Eisbrecher brachte
uns durch das Haff. Ich sah die große graue See. Eine
unendliche Grabplatte, wie aus Blei. Ich sah Seeschlachten,
Versenkungen, Bombardierungen. Ich sah die großen Un-
tergänge, die kommen sollten.
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