er wanderte durch die Lange Straße, er war auf dem Dienstweg, dem Weg zur Fledermausdiele, er ging langsam, die Stadt war still, es war nach Mitternacht, es war noch zu früh, der Mond schien wenn er schien, das Himmelslicht streifte die Dächer, eine tote Natur, er hatte vor den Schaufenstern gestanden, vor Erdmanns Kaufhaus, vor Sparaganis Konditorei und lange vor den Fenstern der drei Akademischen Buchhandlungen, und alle Fenster waren dunkel, die Straßenbeleuchtung abgeschaltet, nur im Umkreis alter Gaslaternen zuckelte ein bleicher Schimmer, eine Lichtblume, die sich nicht recht entfaltete, aber er hatte in den dunklen und viel<76>leicht leeren Schaufenstern weihnachtsglänzend gesehen, was er sehen wollte, was vielleicht einmal dagewesen und nur noch in seinem Gedächtnis bewahrt war, bei Erdmann das stahlfunkelnde Tretautomobil und die Arche Noah mit den Tieren aus Holz, das Theater mit dem Kaspar, dem Juden, dem Krokodil und dem Tod, die Indianer aus Blei und irgendeines Friedrich Wilhelm Lange Kerle mit den hohen Mützen wie aus alten Zeitungen gedreht, des Kaisers Feldhaubitzen, den fallenden Krieger die Fahne fest in der Hand, die kleine Stadt mit ihren roten Dächern, dem Rathaus und der Kirche, so friedlich und falsch, die Eisenbahn die drumherum fuhr, unaufhörlich, die Adventszeit lang, und bei Sparagani die große Schokoladentorte und die andere fette Torte mit dem Bild der Universität aus Sahne und Marzipan in einem Kreis von Orangenscheiben, doch die Auslagen der Akademischen Buchhandlungen mußten nicht von der Erinnerung aus der Nacht gehoben werden, oder doch, kostbare Schätze, Grimms Märchen in einem zerlesenen Reklamband und Aladins Wunderlampe und der Orient wundersamer Reisen, die fernen Inseln, die Geheimnisse der Chinesen, das Glück der Schiffbrüche, auch das Buch vom Eisernen Kanzler und der Flottenkalender, der Kolonialkalender, auch der Gute Kamerad der artigen Knaben und das Neue Universum für rechterzogene Jungen, die im Universum herrschen wollten, gedrillt auf die Eroberung der Erde, Eroberung des Wassers, <77>Eroberung der Luft, vielleicht Eroberung des Mondes, keine weißen Flecken mehr auf den Erd- und Himmelskarten, kein unbekanntes Land, keine ferne Hoffnung, kein Reich Utopia, aber er wollte dies gar nicht sehen, was er bekommen und gelesen hatte, und er wollte ebensowenig sehen, was bei Licht wirklich zu sehen gewesen wäre, Ludendorffs Erinnerungen, des Kaisers, des Kronprinzen, ihrer Feldherren Rechtfertigungen und das Weißbuch über die Schmach von Versailles und das Schwarzbuch über die schwarze Schmach am Rhein, er schaute nach anderem aus, was hier nicht zu finden war, den Päan gegen die Zeit, die Bücher einer neuen Gesellschaft, die Zeichen einer Wandlung.
Hinter der Tür des Geschäfts hing eine Zeitung, und er las im Schimmer der Gaslaterne, daß Lenin gestorben war. Da wünschte er sich einen schwarzen Schlips, ihn umzubinden oder zu einer Schleife zu knoten, wie sie früher die Künstler getragen hatten, Wagner, der auch in der Buchhandlung zu sehen war. Er näherte sich langsam der Fledermausdiele, sah das rote Licht ihres Namens über den geschwärzten Fenstern, hörte das Klavierspiel der Frau Kasch, der Greisin, die er abholen und nachhause leiten sollte zur Polizeistunde. In der Fledermaus war es immer dunkel, saßen Frauen auf den Tischen oder unter den Tischen, und die Männer an den Tischen waren von den Frauen auf oder unter den Tischen seltsam erregt. Sie lachten oder grunzten oder <78>schrien und hatten im gedeckten Licht von roten Lampions rote geschwollene Köpfe. Er ging an ihnen vorbei und sah sie und sah sie nicht. Frau Kasch spielte geduldig die Musik der Operetten aus dem Stadttheater, und später spielte sie, wenn es keiner mehr merkte und sie sehr müde war, den Totenmarsch von Chopin. Sie war blind, und wenn er sie ansah, sah er den blinden Homer; ihr Gesicht war aus alter Welt. Ihre Tochter war eingeschlossen und verwahrt in der Irrenklinik, in Heil und Pflege ohne Heil und Liebe, die nach Berlin und nach Schweden fuhren, und sie hätte der Stadt entkommen können, rechtzeitig. Käthe Kasch war die Freundin seiner Mutter gewesen in jungen Mädchenjahren.
Hinter der Tür des Geschäfts hing eine Zeitung, und er las im Schimmer der Gaslaterne, daß Lenin gestorben war. Da wünschte er sich einen schwarzen Schlips, ihn umzubinden oder zu einer Schleife zu knoten, wie sie früher die Künstler getragen hatten, Wagner, der auch in der Buchhandlung zu sehen war. Er näherte sich langsam der Fledermausdiele, sah das rote Licht ihres Namens über den geschwärzten Fenstern, hörte das Klavierspiel der Frau Kasch, der Greisin, die er abholen und nachhause leiten sollte zur Polizeistunde. In der Fledermaus war es immer dunkel, saßen Frauen auf den Tischen oder unter den Tischen, und die Männer an den Tischen waren von den Frauen auf oder unter den Tischen seltsam erregt. Sie lachten oder grunzten oder <78>schrien und hatten im gedeckten Licht von roten Lampions rote geschwollene Köpfe. Er ging an ihnen vorbei und sah sie und sah sie nicht. Frau Kasch spielte geduldig die Musik der Operetten aus dem Stadttheater, und später spielte sie, wenn es keiner mehr merkte und sie sehr müde war, den Totenmarsch von Chopin. Sie war blind, und wenn er sie ansah, sah er den blinden Homer; ihr Gesicht war aus alter Welt. Ihre Tochter war eingeschlossen und verwahrt in der Irrenklinik, in Heil und Pflege ohne Heil und Liebe, die nach Berlin und nach Schweden fuhren, und sie hätte der Stadt entkommen können, rechtzeitig. Käthe Kasch war die Freundin seiner Mutter gewesen in jungen Mädchenjahren.