Wolfgang Koeppen
brochen, den Rotspon ausgetrunken, es braust ein Ruf, der Landrat kam in
Reitstiefeln, Graf Beer Beerenhof, der Polizeihauptmann präsentierte,
Wangerins Papierhandlung zog die Fahne auf, Herr Wangerin hatte das
Monopol auf Schulbücher, der Leutnant hielt das Schicksal in weißen
Handschuhen, Seine Majestät, der Kaiser, sie alle schrieen, hoch, und
einige brüllten, hurra, der Himmel musterte sie, ein kaltes Auge, die Sol-
daten blickten mutig, in drei Wochen waren der Leutnant und seine
Leute tot.
Friedrich. Er ist unehelich geboren, und wenn sie ihn fragten, wer ist
dein Vater, dann sagte er, ich habe keinen Vater, und er lauerte schon auf
ihr Strahlen, auf das ordinäre Frohlocken in ihrer Stimme, daß sie sich
besser fühlen konnten und ihn hetzen durften, und sie sagten mit einem
falschen Glitzern in ihrem Auge, aber du mußt doch einen Vater haben,
jeder Mensch hat einen Vater, und er beharrte, nein, ich habe keinen Va-
ter, und er war stolz, daß er keinen Vater hatte, nicht einen stinkenden
Despoten am Tisch, nicht in ihren grausigen Schlafzimmern lebte mit den
muffigen Betten nebeneinander unter dem Himmelssegen, er war nicht
wie sie und hatte nie unter seiner Geburt, die sie einen Makel nannten,
gelitten. Nur später, als er in einem Buch, das ihn nichts anging, das er nur
aufgeschlagen hatte, weil es ihm unter die Hand gekommen war, las, daß
er, da keiner registrierten und eingesegneten Verbindung entsprossen,
nicht Priester werden konnte, nicht Kardinal und nicht Papst, da wurde er
traurig, obwohl er nicht katholisch getauft war, nicht konvertieren und
sich nicht weihen lassen wollte, er fühlte sich plötzlich, und wo er es gar
nicht vermutet hätte, verstoßen.
Meine Mutter fürchtete die Schlangen. Dieser eine Satz und nicht mehr.
Ich verirre mich. Der Satz mauert mich ein. Ich bewege mich im Kreis. Es
ist ein Gefängnis. Meine Mutter fürchtete die Schlangen. Mit dem Kopf
durch die Wand, über die Mauer mit einem einzigen Satz, Ausbruch aus
dem Gefängnis, hinein in das Labyrinth. Das Labyrinth ist leer. Keine
Wände, kein Boden, kein Dach. Keine Fallstricke, keine Gruben, keine
Folter. Das ist das Geheimnis des Labyrinths. Kein Ausweg, wo alles
offen ist. Ariadne, wann ließ sie mich stehen? Das Knäuel blieb in mei-
ner Hand. Papier auf dem Tisch, Papier in der Schreibmaschine, Papier
auf dem Bett oder unter dem Bett, unsichtbares Papier, unwirklicher
Tisch, die Vision einer Maschine, die Buchstaben setzt, Wörter baut, sie zu
Sätzen fügt, ach, des Spiels überdrüssig, und dann das Bett, dieses Grab, so
gegenwärtig. Hell, daß es blendet. In Granit, nicht zu sehen, nicht zu füh-
len, erstarrte Zeit. Lehrer Dargel zeigte das Tier im Bernstein. Der Bern-
stein war gelb, aus Königsberg, gestocktes Licht, knisterte an Dargels
schwarzer Lüsterjacke. Aber das Tier? Welche Farbe hatte es? War es wie
Asche? Gestorben in einem elektrischen Feld. Plötzlich? In Angst, lange
bevor Kant auf das Meer sah? Mein Gehäuse ist stumpf. Es ist ohne Eigen-
schaft. Fossile stammen aus einer Epoche. Ein Professor sagt es. Der Brock-
haus. Das alte Unglück der Fossile. Wir freuen uns, den Bernstein gefun-
4
Vom Tisch
den zu haben. Lehrer Dargel nannte ihn das preußische Gold. Wir nehmen
die Stücke, schlingen sie in die Kette, hängen Bernstein, versteintes Tier
und Kette um den Hals der Frau, die wir würgen möchten. Das Tier über-
lebt in seinem Schweigen auch unser Unglück. Nichts trennt uns mehr; auf
einmal sind wir beide millionen Jahre alt. Die Zeit ist aufgehoben. Ich
hatte immer den Verdacht, daß es sie nicht gibt. Ich schreibe meinen Satz:
meine Mutter fürchtete die Schlangen. Das Papier wird beschmutzt. Die
Seiten häufen sich. Niemand wird sie finden. Bald ist es ein Buch.
Es war unsinnig, sie zur Partnerin eines Spaßes zu machen, den sie nicht
verstehen konnte. Er setzte sich vor das Haus, das sie ihm genannt hatte,
setzte sich in seinen Anzügen vom teuersten Schneider der Stadt auf den
Bordstein, saß da in der demütigen Haltung eines Bettlers und wollte mit
dieser Geste der Ergebenheit, wenn sie das Haus verließ oder zurück-
kehrte von irgendwelchen Abenteuern, manchmal mit Liebhabern, die sie
ihm vorzog oder von denen sie sich mehr versprach, die sie jedenfalls ern-
ster nahm, wollte ihr mit dieser Geste sagen, daß er ihr gehöre, sich ihr
unterworfen habe, samt seiner Bank, deren rote wahrhaft plutonische
Leuchtschrift am Abend über der Stadt stand und auch in diese Gasse
schien. Sie, die sehr dumm war und es mit ihren feststehenden Überzeu-
gungen von der Schicklichkeit nicht glauben konnte, daß ein reicher Mann
und noch ein Bankier dazu sich so aufführte, wie er sich benahm, dachte,
dies ist ein Schwindler, wenn auch von einer ihr noch nie untergekomme-
nen Sorte, ein Irrer, der ihr auf eine ganz lächerliche Weise etwas ab-
schwindeln wollte, was sie nach außen hin sehr hoch einschätzte: sich
selbst. Sie war dumm, aber sie hatte gar nicht mal unrecht. Der Bankier war
nach dem zufälligen unglücklichen Verlauf ihrer ersten Begegnung bereit,
ihr sein Vermögen zu überlassen, aber da er nicht nur ökonomisch, auch
philosophisch geschult war, wußte er, daß sie, aus der er sich in Wahrheit
auch gar nichts machte, niemals seine Bereitschaft, ihr die Bank zu über-
lassen, die sie in Tagen zugrunde gerichtet hätte, begreifen würde, spielte
er ein Theater, das ihn amüsierte, aber nicht gefährdete: er leistete sich
eine zerstörende Leidenschaft, das heißt, er gab sich dem Anschein hin.
Sie kam, mich abzuholen, sie kam unverhofft, vielleicht hatten die Män-
ner sie benachrichtigt, bevor sie geflohen waren, und der Wind der Zeit
hatte sie hergetragen auf beschwerlicher Fahrt, die Tür öffnete sich, meine
Mutter trat durch die Tür in den Saal, der nun wie ein Feldlazarett
wirkte, die Decke wölbte sich wie ein Zelt in den November, und es war
als stehe der Raum auf freiem Feld und unter einem Himmel mit den
Wattebäuschen zerplatzter Schrappnels, sie schloß hinter sich die Tür, der
feldgraue militärische Anstrich war vom Holz abgesprungen, die Sprünge
bildeten das Delta eines Flusses, und die Frau, die gekommen war, mich
zu holen, stand wie vor einer Landkarte, vor einem Meßtischblatt großen
Maßstabes, sie verweilte dort, sie kam nicht auf mich zu, sie blickte mich
an, ich sah sie wieder jung wie auf der Photographie, ein junges Mädchen,
sie wirkte schüchtern und war ein graues Wesen, das von der grauen Tür
5
brochen, den Rotspon ausgetrunken, es braust ein Ruf, der Landrat kam in
Reitstiefeln, Graf Beer Beerenhof, der Polizeihauptmann präsentierte,
Wangerins Papierhandlung zog die Fahne auf, Herr Wangerin hatte das
Monopol auf Schulbücher, der Leutnant hielt das Schicksal in weißen
Handschuhen, Seine Majestät, der Kaiser, sie alle schrieen, hoch, und
einige brüllten, hurra, der Himmel musterte sie, ein kaltes Auge, die Sol-
daten blickten mutig, in drei Wochen waren der Leutnant und seine
Leute tot.
Friedrich. Er ist unehelich geboren, und wenn sie ihn fragten, wer ist
dein Vater, dann sagte er, ich habe keinen Vater, und er lauerte schon auf
ihr Strahlen, auf das ordinäre Frohlocken in ihrer Stimme, daß sie sich
besser fühlen konnten und ihn hetzen durften, und sie sagten mit einem
falschen Glitzern in ihrem Auge, aber du mußt doch einen Vater haben,
jeder Mensch hat einen Vater, und er beharrte, nein, ich habe keinen Va-
ter, und er war stolz, daß er keinen Vater hatte, nicht einen stinkenden
Despoten am Tisch, nicht in ihren grausigen Schlafzimmern lebte mit den
muffigen Betten nebeneinander unter dem Himmelssegen, er war nicht
wie sie und hatte nie unter seiner Geburt, die sie einen Makel nannten,
gelitten. Nur später, als er in einem Buch, das ihn nichts anging, das er nur
aufgeschlagen hatte, weil es ihm unter die Hand gekommen war, las, daß
er, da keiner registrierten und eingesegneten Verbindung entsprossen,
nicht Priester werden konnte, nicht Kardinal und nicht Papst, da wurde er
traurig, obwohl er nicht katholisch getauft war, nicht konvertieren und
sich nicht weihen lassen wollte, er fühlte sich plötzlich, und wo er es gar
nicht vermutet hätte, verstoßen.
Meine Mutter fürchtete die Schlangen. Dieser eine Satz und nicht mehr.
Ich verirre mich. Der Satz mauert mich ein. Ich bewege mich im Kreis. Es
ist ein Gefängnis. Meine Mutter fürchtete die Schlangen. Mit dem Kopf
durch die Wand, über die Mauer mit einem einzigen Satz, Ausbruch aus
dem Gefängnis, hinein in das Labyrinth. Das Labyrinth ist leer. Keine
Wände, kein Boden, kein Dach. Keine Fallstricke, keine Gruben, keine
Folter. Das ist das Geheimnis des Labyrinths. Kein Ausweg, wo alles
offen ist. Ariadne, wann ließ sie mich stehen? Das Knäuel blieb in mei-
ner Hand. Papier auf dem Tisch, Papier in der Schreibmaschine, Papier
auf dem Bett oder unter dem Bett, unsichtbares Papier, unwirklicher
Tisch, die Vision einer Maschine, die Buchstaben setzt, Wörter baut, sie zu
Sätzen fügt, ach, des Spiels überdrüssig, und dann das Bett, dieses Grab, so
gegenwärtig. Hell, daß es blendet. In Granit, nicht zu sehen, nicht zu füh-
len, erstarrte Zeit. Lehrer Dargel zeigte das Tier im Bernstein. Der Bern-
stein war gelb, aus Königsberg, gestocktes Licht, knisterte an Dargels
schwarzer Lüsterjacke. Aber das Tier? Welche Farbe hatte es? War es wie
Asche? Gestorben in einem elektrischen Feld. Plötzlich? In Angst, lange
bevor Kant auf das Meer sah? Mein Gehäuse ist stumpf. Es ist ohne Eigen-
schaft. Fossile stammen aus einer Epoche. Ein Professor sagt es. Der Brock-
haus. Das alte Unglück der Fossile. Wir freuen uns, den Bernstein gefun-
4
Vom Tisch
den zu haben. Lehrer Dargel nannte ihn das preußische Gold. Wir nehmen
die Stücke, schlingen sie in die Kette, hängen Bernstein, versteintes Tier
und Kette um den Hals der Frau, die wir würgen möchten. Das Tier über-
lebt in seinem Schweigen auch unser Unglück. Nichts trennt uns mehr; auf
einmal sind wir beide millionen Jahre alt. Die Zeit ist aufgehoben. Ich
hatte immer den Verdacht, daß es sie nicht gibt. Ich schreibe meinen Satz:
meine Mutter fürchtete die Schlangen. Das Papier wird beschmutzt. Die
Seiten häufen sich. Niemand wird sie finden. Bald ist es ein Buch.
Es war unsinnig, sie zur Partnerin eines Spaßes zu machen, den sie nicht
verstehen konnte. Er setzte sich vor das Haus, das sie ihm genannt hatte,
setzte sich in seinen Anzügen vom teuersten Schneider der Stadt auf den
Bordstein, saß da in der demütigen Haltung eines Bettlers und wollte mit
dieser Geste der Ergebenheit, wenn sie das Haus verließ oder zurück-
kehrte von irgendwelchen Abenteuern, manchmal mit Liebhabern, die sie
ihm vorzog oder von denen sie sich mehr versprach, die sie jedenfalls ern-
ster nahm, wollte ihr mit dieser Geste sagen, daß er ihr gehöre, sich ihr
unterworfen habe, samt seiner Bank, deren rote wahrhaft plutonische
Leuchtschrift am Abend über der Stadt stand und auch in diese Gasse
schien. Sie, die sehr dumm war und es mit ihren feststehenden Überzeu-
gungen von der Schicklichkeit nicht glauben konnte, daß ein reicher Mann
und noch ein Bankier dazu sich so aufführte, wie er sich benahm, dachte,
dies ist ein Schwindler, wenn auch von einer ihr noch nie untergekomme-
nen Sorte, ein Irrer, der ihr auf eine ganz lächerliche Weise etwas ab-
schwindeln wollte, was sie nach außen hin sehr hoch einschätzte: sich
selbst. Sie war dumm, aber sie hatte gar nicht mal unrecht. Der Bankier war
nach dem zufälligen unglücklichen Verlauf ihrer ersten Begegnung bereit,
ihr sein Vermögen zu überlassen, aber da er nicht nur ökonomisch, auch
philosophisch geschult war, wußte er, daß sie, aus der er sich in Wahrheit
auch gar nichts machte, niemals seine Bereitschaft, ihr die Bank zu über-
lassen, die sie in Tagen zugrunde gerichtet hätte, begreifen würde, spielte
er ein Theater, das ihn amüsierte, aber nicht gefährdete: er leistete sich
eine zerstörende Leidenschaft, das heißt, er gab sich dem Anschein hin.
Sie kam, mich abzuholen, sie kam unverhofft, vielleicht hatten die Män-
ner sie benachrichtigt, bevor sie geflohen waren, und der Wind der Zeit
hatte sie hergetragen auf beschwerlicher Fahrt, die Tür öffnete sich, meine
Mutter trat durch die Tür in den Saal, der nun wie ein Feldlazarett
wirkte, die Decke wölbte sich wie ein Zelt in den November, und es war
als stehe der Raum auf freiem Feld und unter einem Himmel mit den
Wattebäuschen zerplatzter Schrappnels, sie schloß hinter sich die Tür, der
feldgraue militärische Anstrich war vom Holz abgesprungen, die Sprünge
bildeten das Delta eines Flusses, und die Frau, die gekommen war, mich
zu holen, stand wie vor einer Landkarte, vor einem Meßtischblatt großen
Maßstabes, sie verweilte dort, sie kam nicht auf mich zu, sie blickte mich
an, ich sah sie wieder jung wie auf der Photographie, ein junges Mädchen,
sie wirkte schüchtern und war ein graues Wesen, das von der grauen Tür
5