Wolfgang Koeppen
Vom Tisch
»Vom Tisch« ˗ Abgelegtes aus der Werkstatt des Schriftstellers, Aus-
geschiedenes, größeren Zusammenhängen Entrissenes, oder Stoffkeim-
linge, Ideeneinsätze, Sondierungsschächte, ins Bewußtsein eines Schrift-
stellers getrieben, um Brauchbarkeit des anvisierten Materials zu prüfen?
Denkbar ist, daß die folgenden Stücke für all diese Vermutungen Belege
sind. In jedem Falle sind sie eine faszinierende Lektüre, ein jedes für sich,
aber auch im Nacheinander, das die Vielschichtigkeit der literarischen
Welt Koeppens und gleichzeitig ihre geistige Konsequenz aufschließt: das
Ineinander von Realität und Fiktionalität, und die Erinnerung als Dreh-
punkt, in dem beide verbunden sind. Pläne; und/oder Verschwiegenes, das
offenbart wird.
HLA
Die Beerdigung der Großmutter, das Gespräch mit dem Totengräber in
der alten Grabkammer, diese roten Stühle, auf denen wir sitzen, die Mut-
ter, die Tante, das Kind, und als einziger Mann der Totengräber, dieser
Greis, wie er dem Kind vorkommt, der von einem Krieg spricht, der ein-
mal gewesen und vergessen ist, beigesetzt in Büchern, hier in der schrillen
alten Stimme des Helden, der zahnlosen Erinnerung, der zitternden Hand,
und die Zinnsoldaten, die fallen, und die schwarzen Schleier der Weiber-
trauer, und sie schauen sich an, hilflos, und schauen auf den alten Mann
und die rilligen Hände, totenerdeverkrustet, und schauen auf den Jungen,
in blauweißgestreiften Kattun, den Matrosenkragen gestärkt, und hassen
den Jungen, und der Blitz, käme er, und der Blitz schlägt in die Pappel, den
Brand ins Haus, Verdammnis den Toten, das Wetter geht, kommt, droht, der
Efeu wird wachsen und all die immergrünen Gewächse, die strengen, aro-
matischen, knisternden Gerüche der Buchsbaumhecken, der Wind ebbt ab,
schwillt an, die Totenglocke, das Nebelhorn, das untergehende Schiff, der
Ruf des Käuzchens in der Mitternacht, die Äolsharfe im Garten des Rich-
ters, Sturmfluten kommen, gehen, die Fackelzüge zum Bismarckturm, die
Freudenfeuer, die Granaten über den Gräben, der Tod im Unterstand, die
Grabkreuze vor Verdun, die Totenfelder, die erste Mensur eines nicht be-
griffenen Komments, und das wird sein, und das Staunen des Kindes, wie-
der und wieder.
Unsere Kleider waren vom Regen durchweicht, und unter dem Hemd
brannte die Haut in Schweiß gebadet. Die Pflanzen dampften. Die Wol-
ken lagen auf den Bäumen. Der Friedhofsgärtner schritt voran und führte
uns in die Gruft, in eines seiner Häuser auf seinem großen schönen Fried-
hof. Die Häuser des Friedhofgärtners hatten hellenische Säulen vor ihrem
Eingang, die den spitzen Giebel vor dem Dach trugen; doch es waren sehr
niedrige, es waren recht kleine Häuser, in denen die Toten wohnten. Es
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Vom Tisch
»Vom Tisch« ˗ Abgelegtes aus der Werkstatt des Schriftstellers, Aus-
geschiedenes, größeren Zusammenhängen Entrissenes, oder Stoffkeim-
linge, Ideeneinsätze, Sondierungsschächte, ins Bewußtsein eines Schrift-
stellers getrieben, um Brauchbarkeit des anvisierten Materials zu prüfen?
Denkbar ist, daß die folgenden Stücke für all diese Vermutungen Belege
sind. In jedem Falle sind sie eine faszinierende Lektüre, ein jedes für sich,
aber auch im Nacheinander, das die Vielschichtigkeit der literarischen
Welt Koeppens und gleichzeitig ihre geistige Konsequenz aufschließt: das
Ineinander von Realität und Fiktionalität, und die Erinnerung als Dreh-
punkt, in dem beide verbunden sind. Pläne; und/oder Verschwiegenes, das
offenbart wird.
HLA
Die Beerdigung der Großmutter, das Gespräch mit dem Totengräber in
der alten Grabkammer, diese roten Stühle, auf denen wir sitzen, die Mut-
ter, die Tante, das Kind, und als einziger Mann der Totengräber, dieser
Greis, wie er dem Kind vorkommt, der von einem Krieg spricht, der ein-
mal gewesen und vergessen ist, beigesetzt in Büchern, hier in der schrillen
alten Stimme des Helden, der zahnlosen Erinnerung, der zitternden Hand,
und die Zinnsoldaten, die fallen, und die schwarzen Schleier der Weiber-
trauer, und sie schauen sich an, hilflos, und schauen auf den alten Mann
und die rilligen Hände, totenerdeverkrustet, und schauen auf den Jungen,
in blauweißgestreiften Kattun, den Matrosenkragen gestärkt, und hassen
den Jungen, und der Blitz, käme er, und der Blitz schlägt in die Pappel, den
Brand ins Haus, Verdammnis den Toten, das Wetter geht, kommt, droht, der
Efeu wird wachsen und all die immergrünen Gewächse, die strengen, aro-
matischen, knisternden Gerüche der Buchsbaumhecken, der Wind ebbt ab,
schwillt an, die Totenglocke, das Nebelhorn, das untergehende Schiff, der
Ruf des Käuzchens in der Mitternacht, die Äolsharfe im Garten des Rich-
ters, Sturmfluten kommen, gehen, die Fackelzüge zum Bismarckturm, die
Freudenfeuer, die Granaten über den Gräben, der Tod im Unterstand, die
Grabkreuze vor Verdun, die Totenfelder, die erste Mensur eines nicht be-
griffenen Komments, und das wird sein, und das Staunen des Kindes, wie-
der und wieder.
Unsere Kleider waren vom Regen durchweicht, und unter dem Hemd
brannte die Haut in Schweiß gebadet. Die Pflanzen dampften. Die Wol-
ken lagen auf den Bäumen. Der Friedhofsgärtner schritt voran und führte
uns in die Gruft, in eines seiner Häuser auf seinem großen schönen Fried-
hof. Die Häuser des Friedhofgärtners hatten hellenische Säulen vor ihrem
Eingang, die den spitzen Giebel vor dem Dach trugen; doch es waren sehr
niedrige, es waren recht kleine Häuser, in denen die Toten wohnten. Es
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