Von Anbeginn verurteilt3

Wolfgang Koeppen: „Von Anbeginn verurteilt“, in: Merkur 23/9 (1969), 835-845.

Archivmappe
Wkoe
Absolute Datierung
1.9.1969
Zuordnung
36 Publikation: "Von Anbeginn verurteilt (Merkur 1969)" 26
Kopie
nein
Durchschlag
nein
838 Wolfgang Koeppen
hallte, Echo kam, die Fischfrauen schliefen mit den Fischen, der Fischmarkt
war ein Fischmund, stumm. Das Rathaus war ohne Rat, sein hoher Giebel brök-
kelte dahin. Gottes Mühlen, wenn einer fromm war. Schatten, wenn Mond
war, Lichtblumen, wo eine Gaslaterne flackerte. Ich machte es für Geld. Die
Greisin gab mir eine Million, oder sie schenkte mir eine Milliarde, sie über-
schüttete mich mit astronomischem Verdienst, und auf den nachlässig gedruck-
ten, preßfrischen und doch schon schmutzigen Scheinen versicherten ehrbare
Herren, daß sie irgendwo, irgendwann oder zu jeder Stunde, an irgendwelchen
Schaltern eine Million oder eine Milliarde oder eine Billion gegen das Papier
in Gold auszahlen wollten, ich weiß es nicht mehr, ich fand ihre Schalter nicht
oder ich fand sie zur falschen Stunde, doch die ehrbaren Herren erschütterte
es nicht, und sie bedrohten jedermann mit Zuchthaus, der töricht genug wäre,
ihre großartigen Scheine zu fälschen oder nachzuahmen. Ich hätte das Geld in
den Rinnstein werfen sollen. Die Greisin bebte, und sie klammerte sich an
die Hoffnung, daß ich sie vor den Geistern der Nacht beschützen würde. Doch
konnten Geister die verschlossenen vergitterten Säle des Irrenhauses öffnen,
und konnte ich sie gegen die Geister wieder sperren? Und wollte ich es? Die
Greisin täuschte sich in mir; aber vielleicht dachte sie nur, wenn ich mit ihm
gehe, gehe ich nicht allein durch die Nacht. Doch ich wußte, daß sie es taten,
oder daß sie es schon getan hatten, und ich glaubte, Macbeth, Hyperion, die
Flußpiraten, Gottfried Benns kleine Aster in der Brust, Bechers Fanal auf den
Lippen, die Alte am Arm, langsamen Schrittes, Fuß für Fuß, ich sei erschlagen
worden, und es ist sicher, daß sie mich gemeint hatten, aber ich hätte auch der
Täter sein können, der Bursche mit dem Spaten in der Hand. Du bist der
Mörder, du bist das ausgewählte Opfer, ich hebe die Hand, ich schlage zu,
oder ich lasse es geschehen, ich verstecke mich, ich bin Kain, aber ich bin
auch Abel, und du bist Kain und Abel. Und wo ist Gott, der zusieht und es
geschehen läßt, und das alles wegen eines lächerlichen Rauches? Immer sind
wir Zeugen, unzuverlässige, feige Zeugen, wir haben nichts gesehen, wir
wissen von nichts, du bist mein Zeitgenosse, es gibt Generale, die alles lenken,
wir haben sie eingesetzt, nachdem uns Gott enttäuscht hat oder wir uns von
ihm abgewandt haben, wir haben den Generalen ihre roten Kragen genäht,
wir haben ihre roten Kragen mit unserem Blut gefärbt, die Generale sind so
zahlreich wie der Sand am Meer, und die Feldherrnkunst ist die verbreitetste
aller Begabungen, dazu eine begehrte sichere Karriere, wenn es darauf an-
kommt, gewinnt der General die Schlacht, verliert den Krieg, wird Präsident
der geläuterten Nation, triumphiert am Ende über alle in seinen Memoiren,
wird zum Mahnmal, bekommt sein Denkmal, ach, die Generale sind gute
Rechner, sie verrechnen sich in den großen Chancen, aber nie in den kleinen
Dingen, die nötig sind, einen Krieg zu beginnen. Die Generale zählen was
heranwächst, sie bündeln es in Jahrgänge, und wenn sie genug Jahrgänge
haben geht ihre Spekulation mit dem Tod auf. Es empörte mich, als ich davon
Von Anbeginn verurteilt 839
hörte. Der General rief den Jahrgang zur Musterung. Wie kam er dazu? Was
fiel dem Kerl ein? Der General ist tot, nein, der General ist unsterblich, er
bezieht seine Pension, am Morgen siehst du ihn durch den Park gehen, eine
rüstige, eine ungebeugte Gestalt. Ich lebe, ich verdächtige dich, du bist mein
Jahrgang, ich werde dich mustern. Wie widerlich du mir bist, wenn du dich
nackt ausziehst und dich der Musterungskommission stellst, ihr deinen Hin-
tern hinhältst, daß sie dich prügelt. Bist du sonst so geduldig? Ich will unsere
Geschichte erzählen, meine Geschichte, deine Geschichte, sie geht dich nichts
an, ich erzähle sie nur mir, ich werde dich bloßstellen, du bist noch nicht nackt
genug! Es ist unangenehm, der Zeuge, es ist lästig, der Täter, es ist dumm,
der Leichnam zu sein, nach so vie1 Jahren. Du kannst dich nicht erinnern, du
hast dein Gedächtnis verloren, du hattest nie ein Gewissen, du weißt von nichts.
Am besten ist man der Ankläger. Seine Entrüstung kommt immer recht. Man
glaubt sie ihm nicht, aber das macht nichts. Das Gericht braucht ihn. Dabei
kennen ihn viele. Sie sahen ihn mit dem Spaten unter den Bäumen. Er ist der
Schlimmste. Er reichte mir den Spaten, er rief: schlag zu. Jetzt klagt er dich
an. Er meint es ernst. Er ist ein ernster Mann. Ich scherze und bin ihm unter-
legen. Er fordert meinen Kopf. Er fordert immer einen Kopf, das ist seine ernste
Art. Ich werde mich nicht verteidigen. Ich werde dich in den Zeugenstand
rufen. Deine Aussage wird uns nicht retten. Wir sind von Anbeginn verurteilt.
II
Das Steinbeckertor ist für welchen Triumph gebaut? Der weltberühmte Ur-
heber: hier stock ich schon. Wie denn? Wo denn? Wer denn? Kein Hund in
Teheran, kein Löwe im Wald, nicht einmal der gedemütigte Gefangene hinter
Gittern in der schmutzigen Menagerie auf unserem Jahrmarkt, kein schwarzer
Mann, kein gelber Bruder, nicht wer weiß wer in der neuen Welt nennt seinen
Namen, und zu schweigen von den weißen Flecken, den buntgekleideten und
den nackten Menschen, den Ungeheuern der Meere, der Länder und der Lüfte
auf Mercators oder Vissers Atlanten. Unnötig, fern zu schweifen. Wer nennt
ihn hier, den weltberühmten Weisen? Nicht König, Ritter, Bauer, Bettelmann,
vielleicht der Schneider seiner Anzüge, der Schuster seiner Schuhe, Bäcker
seines täglichen Brots. Wohlfeil die Laudatio, kleine gängige Münze in der
Gelehrtenrepublik. Anrüchiger Verein. Natürlich konnten sie stolz sein auf ihre
feine Märtyrertafel: erschlagen, gesteinigt, gekreuzigt, verbrannt‚ mit Feuer
und Schwert ausgerottet, in Verließe gesperrt, den Giftbecher gereicht, außer
Landes gejagt. Für nichts, für Hirngespinste, eitle Mittagsträume‚ Fortschritt,
Freiheit, Erkenntnis, Wahrheit, oder was sie dafür hielten. Er ist aber nicht
eingebildet, er läßt sichs gern entgehen. Wes Brot ich esse, des Lied ich singe,
untertan jedweder Obrigkeit, dem Himmel was des Himmels nach Anweisung
des jeweils zuständigen Pontifex, des Landesherren Höchstdero Unterwertester.
Also der weltberühmte Verfasser einer erbaulichen Chronik. Was meint er nur?