Wolfgang Koeppen
waren die wohlhabenden Toten, die Toten, die zu den Reichen gehört
hatten, die nicht in die gemeine Erde gelegt würden, nicht in den Kel-
ler, nicht in das feuchte modrige Loch, nicht unter die Wurzeln, nicht
zu den Würmern, den emsigen, fleißigen, schmatzenden Würmern. Die
Toten kamen aus den alten Vampirgeschlechtern, dem mächtigen Kreis
der patrizischen Mumien, die schon immer ein stilles Heim für ihre ver-
storbenen Glieder unterhalten hatten, exklusiv und in Furcht und Hoff-
nung. Das Haus, in das wir eintraten, war leer, kein Mensch lag aufge-
bahrt, kein Leichnam hielt Tafel. Vielleicht war die Familie, die unter die-
sem Dach getrauert oder triumphiert hatte, ausgestorben oder war ver-
armt oder verfemt oder hatte den Halt verloren, den Glauben, den Dünkel
oder war einfach lieblos geworden, gleichgültig gegen die Ahnen, und wo
der Tote geblieben war, der hier geruht hatte, wußte man nicht, selbst der
Friedhofsgärtner schwieg oder wollte es nicht wissen, vielleicht hatten sie
bei Nacht des Toten Knochen hinausgeworfen auf den Friedhofsmüll, er
war exmittiert worden, weil plötzlich der Scheck nicht gedeckt, die Miete
nicht gezahlt war. Es waren aber Stühle zurückgeblieben, Sessel für die
Weinenden, Throne für die lustigen Erben, vergoldete Sitze, aber das
Gold war abgeblättert, man sah das wurmstichige bröckelnde Holz wie
aus verdorbenem madigen Mehl und darüber den Plüsch, der einmal kö-
nigsrot gewesen war, purpurn, und nun in schmutzigen Flecken, Streifen
und Schrammen sich auflöste, über gelbweißen Wolken aus faulender
Wolle. Wir waren vom Abschied erschöpft, waren vom Regen naß, ich
war vier Jahre alt, die Polster waren moderfeucht, und wir verbanden uns
mit den Polstern zu einem gemeinsamen Grab, in das wir geraten waren,
erleichtert, ausruhend, auf einmal zufrieden, den Friedhofsgärtner anblik-
kend, den freundlichen Gastgeber; wir hatten leider nichts, einander zu-
zuprosten, wir schönen Toten.
Ich entsinne mich genau des Gesichts der Großmutter, wie es über mei-
ner Wiege erschien oder der Kiste oder dem Wäschekorb, in dem ich lag,
ich weiß es nicht, ein bleicher Mond, wie ich ihn gesehen hatte, nachts,
wenn das Fenster offen war, der Mond ging auf, blieb über mir, Vollmond,
nicht groß, er betrachtete mich, und ich beobachtete ihn, es war ein tief-
trauriger Augenblick, wir waren uns beide der Wehmut bewußt, die un-
sere Blicke lenkte, und der bleiche kleine Großmuttermond hatte seine
Mondlandschaft, Mondtäler des Grams, Mondkrater um die verweinten
Augen, da sie leiden wollte, hatte sie das Leid gehalten, eingegraben in
ihre Züge, eine Bestrafung, da sie über den Zaun gesprungen war, über
die Hecke der evangelischen Zucht, über das Gitter des Herkommens, ver-
lockt von Unordnung, die aus der Behütung gesehen und für einen Mo-
ment der Betörung paradiesisch geschienen hatte, gleich aber, als der
Sprung geschehen war, der Fuß aufsetzte in Freiheit, und schon etwas ge-
brochen war, der Leichtsinn, der jubelnde Entschluß, der hohe Mut, die
kühne Freude, erkannte sie, die eine Bäuerin war, wenn auch von den
Gütern, das brache Land, den salzbitteren Grund, das faule Wasser, Un-
kraut und Kriechgetier. Warum ist die Sumpfdotterblume nichts wert? Die
Großmutter hat darüber nicht nachgedacht. Ihr blieb Unkraut Unkraut;
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waren die wohlhabenden Toten, die Toten, die zu den Reichen gehört
hatten, die nicht in die gemeine Erde gelegt würden, nicht in den Kel-
ler, nicht in das feuchte modrige Loch, nicht unter die Wurzeln, nicht
zu den Würmern, den emsigen, fleißigen, schmatzenden Würmern. Die
Toten kamen aus den alten Vampirgeschlechtern, dem mächtigen Kreis
der patrizischen Mumien, die schon immer ein stilles Heim für ihre ver-
storbenen Glieder unterhalten hatten, exklusiv und in Furcht und Hoff-
nung. Das Haus, in das wir eintraten, war leer, kein Mensch lag aufge-
bahrt, kein Leichnam hielt Tafel. Vielleicht war die Familie, die unter die-
sem Dach getrauert oder triumphiert hatte, ausgestorben oder war ver-
armt oder verfemt oder hatte den Halt verloren, den Glauben, den Dünkel
oder war einfach lieblos geworden, gleichgültig gegen die Ahnen, und wo
der Tote geblieben war, der hier geruht hatte, wußte man nicht, selbst der
Friedhofsgärtner schwieg oder wollte es nicht wissen, vielleicht hatten sie
bei Nacht des Toten Knochen hinausgeworfen auf den Friedhofsmüll, er
war exmittiert worden, weil plötzlich der Scheck nicht gedeckt, die Miete
nicht gezahlt war. Es waren aber Stühle zurückgeblieben, Sessel für die
Weinenden, Throne für die lustigen Erben, vergoldete Sitze, aber das
Gold war abgeblättert, man sah das wurmstichige bröckelnde Holz wie
aus verdorbenem madigen Mehl und darüber den Plüsch, der einmal kö-
nigsrot gewesen war, purpurn, und nun in schmutzigen Flecken, Streifen
und Schrammen sich auflöste, über gelbweißen Wolken aus faulender
Wolle. Wir waren vom Abschied erschöpft, waren vom Regen naß, ich
war vier Jahre alt, die Polster waren moderfeucht, und wir verbanden uns
mit den Polstern zu einem gemeinsamen Grab, in das wir geraten waren,
erleichtert, ausruhend, auf einmal zufrieden, den Friedhofsgärtner anblik-
kend, den freundlichen Gastgeber; wir hatten leider nichts, einander zu-
zuprosten, wir schönen Toten.
Ich entsinne mich genau des Gesichts der Großmutter, wie es über mei-
ner Wiege erschien oder der Kiste oder dem Wäschekorb, in dem ich lag,
ich weiß es nicht, ein bleicher Mond, wie ich ihn gesehen hatte, nachts,
wenn das Fenster offen war, der Mond ging auf, blieb über mir, Vollmond,
nicht groß, er betrachtete mich, und ich beobachtete ihn, es war ein tief-
trauriger Augenblick, wir waren uns beide der Wehmut bewußt, die un-
sere Blicke lenkte, und der bleiche kleine Großmuttermond hatte seine
Mondlandschaft, Mondtäler des Grams, Mondkrater um die verweinten
Augen, da sie leiden wollte, hatte sie das Leid gehalten, eingegraben in
ihre Züge, eine Bestrafung, da sie über den Zaun gesprungen war, über
die Hecke der evangelischen Zucht, über das Gitter des Herkommens, ver-
lockt von Unordnung, die aus der Behütung gesehen und für einen Mo-
ment der Betörung paradiesisch geschienen hatte, gleich aber, als der
Sprung geschehen war, der Fuß aufsetzte in Freiheit, und schon etwas ge-
brochen war, der Leichtsinn, der jubelnde Entschluß, der hohe Mut, die
kühne Freude, erkannte sie, die eine Bäuerin war, wenn auch von den
Gütern, das brache Land, den salzbitteren Grund, das faule Wasser, Un-
kraut und Kriechgetier. Warum ist die Sumpfdotterblume nichts wert? Die
Großmutter hat darüber nicht nachgedacht. Ihr blieb Unkraut Unkraut;
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