MID009-014

Wolfgang Koeppen: „Anamnese“, in: Merkur 23/3 (1968), 252-259.

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MID009
Absolute Datierung
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Zuordnung
Publikation: "Anamnese" (Merkur 1968) 1
Kopie
nein
Durchschlag
nein
Anamnese 253
dem Jagdkalender, Bismarcks Erinnerungen, und irgendwie dahingeraten und
vergessen das Buch der Lieder, die Bilder der Toten, ihre Säbel, ihre Pistolen,
ihre Ehre an der Wand, ein Hund trottete durch den Sand, er kannte uns nicht,
eine Pflugschar rostete, und meine Mutter sprach, es gehörte uns, schrie es, als
wolle sie es mir einhämmem, in / den Kopf pressen, ins Herz schlagen, daß auch
ich teilhabe an Verlust und Leid, sie sollten mein Erbe sein, denn obwohl meine
Mutter schon in der Stadt geboren war, in der engen Kammer der Armut, redete
sie von Ephraimshagen mit der Bitterkeit, beraubt zu sein, und ich erkannte
wieder in ihrem kleinen, von Müdigkeit verzehrten Gesicht der Großmutter ver-
härmte Züge, sah aber auch im jungen Gesicht meiner Mutter der Großmutter
Brautbild erscheinen mit dem wie Spinnweb das Haupt deckenden Schleier,
von einem wandernden Pinsler getuscht, einem verachteten Gesellen, der mit
den Mägden gegessen und wohl auch die Decken und Wände des Hauses mit
klassischen Ornamenten geziert hatte und den frivolen fröstelnden Gestal-
ten der Götter auf Wolken geschorener Wolle, der uralten Verführung, doch
Zauber blieb es, wie er das im Kommenden Verborgene, die Liebesenttäu-
schung, den Trug der Leidenschaft, all den Verfall um das Brautlächeln und
das geschmückte Haar der Achtzehnjährigen gelegt hatte, und ich schaute auch
die Großmutter wie ich sie wahrgenommen hatte mit Säuglingssinnen, ihr zu
Tränen bereites Gesicht mit dem nun schon gewollten und erstarrten Ausdruck
vergeblichen Grübelns, so beugte sie sich über den Korb, in dem ich lag,
schenkte mir Liebe und Haß, ich empfand ihre aus meinem Anblick sich näh-
rende und tödlich wuchernde Verzweiflung, denn meine Geburt sah sie wie ein
letztes und endgültiges Siegel auf der Sippe Untergang gepreßt, auf den Ver-
lust der Ehrbarkeit, auf die Hingabe von Land und Ansehen, und / meine Mut-
ter blickte wie ins Paradies durch die Einfahrt aus verklumptem Lehm, ge-
formt von den Hufen der müden Ackerpferde, durchfurcht von den eisenbereif-
ten Rädern der Erntewagen, vertrieben vertrieben aus eingebildeter Sicher-
heit und törichtem Stolz, doch ich fand nicht mehr den Garten Eden, nichts zog
mich an, und auf dem Rückweg gegen Abend, Mücken hielten summend Ball
über den verworfenen Tümpeln salziger Nässe, hörte meine Mutter es rascheln
im verdorrten Gras, die Schlangen, erschrak sie, die tückischen Ottern des Rosen-
tals, sie eilte fort, der Himmel finsterte über der Abdeckerei, Blitz und Donner
drohten der Stadt, zogen gegen die berühmte Silhouette des romantischen
Malers, da waren die spielenden Fohlen auf der Weide, die einsamen Männer,
die traurig den Mond betrachten, die im Hafen ruhenden schlafenden Boote
mit ihren Masten zu Afrikas Küsten in Knabenträumen, die Türme und Dächer
von St. Nikolai, St. Jakobi und St. Marie drückten schwer die Gemeinde, gli-
chen, aus rotem Backstein gegen den nie erreichten Himmel gebaut, Festungen
tollkühner Planung vergreist in Wüste, Wildnis und Sumpf, und in den Kirchen
lagen verlassen die leeren Schiffe, gebetlose Hallen hinter verschlossenen Türen,
der Gnade der Beichte und Lossprechung entzogen, lagen die ungeschmückten