MID355-M021-028

Archivmappe
MID355-M021
Absolute Datierung
-
Zuordnung
1
Kopie
nein
Durchschlag
nein
Meine Mutter fürchtete die Schlangen. An warmen Sommertagen gingen
wir durch das Rosental, die bei Sturmfluten vom Meer überspülte Flur
aus brackigem Grund, das Gut zu sehen, Beukenhof mit seiner abweisenden
gekalkten Mauer, die wie ein Kreidestrich in gespenstischer Zeichnung
fern noch die Gräber des Friedhofs umschloss, und die da unter Efeu
und Taxus in schwerem Boden lagen, Ahnen, Skelette, Landbauer die ersten
Söhne, Pastoren die andern und manchmal ein Offizier, mich kümmerten
sie nicht. Wir blickten auf das Säulenportal von dorisch-preussischer
Strenge, auf die bröckelnde Sandsteinheiterkeit der hier wie im
Stundenglas des Sensenmannes sichtbar verrinnenden Zeit. Flecke und
Risse frassen die alberne stolze Herrschsucht des Herrenhauses. Ein
Fahnenmast war gebrochen. Leer gähnten die Fenster im Mittagslicht.
Ein Hahn sass auf dem Mist. Ein Hund strich träge über den Hof. Eine
Pflugschar rostete unter dem Walnussbaum.
"Es gehörte uns". Sie flüsterte es. Sie flüsterte es wie aus dem engen
der Unterwelt angehörenden mit einer Muschel gedeckten Kasten, aus dem
sie den traumgeborenen Erscheinungen, die vor ihr im Licht standen, den
Text gab, flüsterte es, als wolle sie es mir soufflieren, damit ich's
mir einpräge für ewig, damit auch ich teilhabe an Verlust und Leid
und Stolz und Vertreibung, sie sollten mein Erbe sein, denn obwohl
meine Mutter schon der Stadt geboren war, in der Armut Kammer, sprach
sie von Beukenhof mit der Bitterkeit, beraubt zu sein. Ich hörte das
Stichwort nicht. Es war nicht meine Rolle. Ich entzog mich ihrer Hand,
und meine Mutter fühlte wohl, dass ich sie nicht ohne rührung, aber
doch ohne teilnahme betrachtete wie ein kritiker der im parkett
vor einem schauspiel sitzt, dass er schon hundertmal gesehen hat,
und ich sah meine mutter in ihrem selbstgenähten kleid, und ich ,
blickte in ihr erschöpftes ‚ein wenig zu kleines gesicht, ,in dem sich