In meiner Stadt war ich allein (Romanisches Café) 6

Wolfgang Koeppen: „In meiner Stadt war ich allein“, in: Ders.: Romanisches Café. Erzählende Prosa, Frankfurt/Main 1972, 86-98.

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In meiner Stadt war ich allein
Absolute Datierung
-
Zuordnung
52 Publikation: "Als ich Gammler war" / "In meiner Stadt war ich allein" (1969-1972)
Kopie
nein
Durchschlag
nein
Schulbank vor die Tür und hörte seinen Schritt und wie
er stehen blieb, und ich hörte ihn nicht mehr. Ich saß
in einer Schulbank, und ich war ein Schüler und vor dem
Examen. Ich ging an die Schultafel und schrieb mit Kreide
an die Tafel Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Es machte
sich gut. Ich war beruhigt. Ich öffnete ein Fenster und
sprang in den Hof.
Die Schiffe fuhren nicht nach Indien. Die Schiffe lagen
still. In der Paritätischen Heuerstelle saßen die Seeleute
und warteten auf ein Schiff. Sie warteten lange, und einige
warteten nur noch so, an sich, um des Wartens willen.
Es ging kein Schiff irgendwohin. Der Beamte hinter dem
Schalter sagte, es ist zwecklos. Er sagte, fahr nach Hause.
Ich sagte, ich habe kein Zuhause. Er trug mich in sein
Buch ein und gab mir eine Karte. Auf der Karte war
ich ein Jungmann. Ich hatte einen Beruf. Ich war ein Prolet.
Ich setzte mich zu den Genossen. Aber auch die Genossen
sagten, laß dir die Haare schneiden; sie machten den Witz
mit der Krankenkasse. Sie waren Bürger. Sie waren Bürger
ohne Haus und ohne Besitz. Sie waren Bürger für nichts
und wieder nichts. Sie waren geduldig. Sie nahmen es hin.
Sie enttäuschten mich. Ich hätte nicht lange bei ihnen ge-
sessen; sie mißtrauten mir; auch hatte ich nichts zu essen
und wieder kein Obdach.
Da kam ein Mann in die Heuerstelle, der von den Armen
lebte. Er ähnelte etwas dem Jäger aus der Nacht in der
Jugendherberge. Er war sein Bruder. Er war nicht unheim-
lich; er war durchtrieben. Er nahm sich einen Matrosen,
setzte ihn auf einen Stuhl, beugte sich über ihn und sagte,
schlafe, schlafe, und der Matrose schloß die Augen, sein
festes Gesicht war ohne Gedanken, und der Mann sagte,
heb den Arm, der Matrose hob den Arm, der Mann sagte,
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du kannst den Arm nicht senken, du kannst ihn nicht run-
terkriegen, und der Matrose konnte es nicht. Da sagte der
Mann, du bis ein Esel, und der Matrose scharrte mit den
Füßen und schrie wie ein Esel. Die Männer lachten; nur
ich lachte nicht. Doch mehr war mit dem Matrosen nicht
zu erreichen, und der Hypnotiseur weckte ihn auf.
Der Mann sah mich an. Vielleicht sah er mich an, weil
ich nicht gelacht hatte. Er sagte, komm her. Ich setzte
mich auf den Stuhl, und er blickte mir in die Augen, und
ich sah in seinem Gesicht den Hunger, die Not und die
Furcht und die Verderbnis, er faulte, sein Atem roch übel
wie er schlaf, schlaf, schlaf sagte, und er strengte sich an,
Schweiß trat auf seine Stirn, und es wollte ihm nicht ge-
lingen. Da hatte ich Mitleid mit ihm, stand auf, stellte
mich auf den Stuhl und rief, Lenin spricht zu euch, erhebt
euch, zerbrecht eure Ketten. Der Hypnotiseur erhob seine
Arme, wach auf, rief er, wach auf, komm runter, was an-
deres. Er blickte mich fragend an. Das geht nicht, zischte
er mir ins Ohr. Er massierte mir die Schläfen, streichelte
mich und befahl mir, du bist Jesus, stehe auf und wandele.
Ich ging zu den Seeleuten mit einem heiligen Schritt, sie
wichen zurück, und ich segnete sie. Sie waren ergriffen.
Ich wollte lachen, aber da ergriff es auch mich. Ich war
nicht hypnotisiert, ich tat nur so, doch war etwas ge-
schehen, ein Funke war übergeschlagen.
Wir gingen am Abend und gingen jeden Abend über die
Lastadie, wir gingen am Bollwerk entlang, vorbei an den
liegenden Schiffen, dem Eis auf dem Wasser, fern von
Indien, wir gingen von Kneipe zu Kneipe, ich ging hinein,
mischte mich unter die Angetrunkenen, bestellte etwas,
rührte es aber nicht an, dann kam er, mein Meister, bat
um Aufmerksamkeit, schläferte einen ein, ließ ihn der Esel
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