Als ich Gammler war (FAZ)

Wolfgang Koeppen: „Als ich Gammler war“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 11.10.1969.

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Absolute Datierung
11.10.1969
Zuordnung
52 Publikation: "Als ich Gammler war" / "In meiner Stadt war ich allein" (1969-1972)
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Samstag, 11. Oktober 1969 / Nr. 236 Frankfurter Allgemeine Zeitung
Wolfgang Koeppen
Als ich Gammler war
In meiner Stadt war ich allein. Ich war jung,
aber ich war mir meiner Jugend nicht be-
wußt. Ich spielte sie nicht aus. Sie hatte keinen
Wert. Es fragte auch niemand danach. Die Zeit
stand still. Es war eher ein Leiden. Doch gab es
in der Stadt keinen, der mir glich.
Ich trieb mich herum. Ich war unterwegs.
Ich war auf den Straßen und Plätzen. Ich fiel
überall auf. Ich hatte kein Ziel. Ich stellte mich
mitten auf den Markt. Ich war unnütz; das
gefiel mir. Ich genoß es, auf dem Markt zu
stehen. Einfach nur so. Ich hatte nichts anzu-
bieten. Nicht einmal mich selbst. Ich kaufte
nichts. Ich wollte nicht teilhaben. Ich verach-
tete sie. Ich kannte die Kurse nicht. Ich fragte
nicht nach dem Preis.
Ich ging absichtlich gebeugt. Ich wünschte
mir einen Buckel. Ich wollte ausgestoßen sein.
Sie sollten es sehen. Sie sahen es. Ich hörte
sie und hörte sie nicht. Sie riefen hinter mir
her. Sie höhnten, geh, hol dir den Kranken-
schein zum Haareschneiden. Ich war in keiner
Krankenkasse; ich war stolz, in keiner Kasse
zu sein. Es berührte mich nicht. Sie schrien,
Bubikopf, Bubikopf. Das schulterlange Haar
stand mir für eine bessere Welt. Ich zog meine
Schuhe aus, knüpfte sie zusammen, hängte sie
über die Schulter, ging barfuß weiter.
So fühlte ich die Stadt. Sie war unter mei-
nem Fuß. Sie war hart und kalt. Die anderen
merkten es nicht. Viele liebten Stiefel. Sie mar-
schierten gern. Sie hatten den Krieg verloren.
Sie würgten an der Niederlage und haßten die
Republik. Sie sagten, wenn wir die Wehrpflicht
hätten. Sie riefen, die Hammelbeine langziehen.
Sie kniffen die Augen zusammen. Sie hofften,
mich zu zerschneiden. Sie hatten alle nur ein
Gesicht.
Ich war nicht traurig. Ich amüsierte mich.
Ich war der Ritter von der traurigen Gestalt.
Das war lustig. Ich sehnte mich nach Freuden.
Ich wollte es bunt. Ich fand sie komisch, wie sie
die Augen zusammenkniffen, die Stirn in
strenge Falten legten, die eiserne Zeit des
Krieges beschworen und die Toten vergessen
hatten. Ich versagte mir das Lachen. Ich dachte
an die Leichenfelder, an die Siege, die wir ge-
feiert hatten.
Ich gab mich düster. Ich schlug den Krim-
merkragen meines Mantels hoch. Der Mantel
war lang wie ein Kaftan. Ich hatte lange nach
ihm suchen müssen. Ich zog einen Russenkittel
an, schloß ihn um den Hals. Ich preßte mir
den breiten jenseitigen Hut eines Landpfarrers
tief über die Augen. Wenn ich einen Hut auf-
setzte.
Ein Kind auf dunkler Treppe; es nahm
meine Hand, flüsterte Hochwürden. Ich war
Raskolnikow. Ich war einer aus den Dämonen.
Der aus dem Kellerloch. Der aus dem Toten-
haus. Ich hatte unterm Galgen gestanden. Der
Bote war noch einmal gekommen. Begnadigt.
Die Schlinge hing locker.
Ich zündete die Stadt an. Erdmanns Waren-
haus brannte. Eine Fackel in der Nacht. Das
Rathaus brannte. Meine Geburtsurkunde ver-
brannte mit. Das war gut. In Flammen stand
das Gericht. Ich öffnete das Gefängnis. Ich ver-
teilte die Waren der Geschäfte an die Armen
und die befreiten Gefangenen. Aus Buggen-
hagens Buchhandlung bekam jeder ein Buch.
Das Geld der Sparkasse auf die Straße. Kinder
spielten mit den Scheinen, formten Schiffchen,
setzten sie in die Gosse.
Vielleicht liebte ich die Stadt. Ich stülpte sie
um. Ich vernichtete ihre Ordnung. Ich störte
die Feier.
Ein Russe sprach mich russisch an. Das
salbte mich. Ich eiferte Kropotkin nach. Der
Russe war bekümmert. Er war Emigrant. Er
hatte Heimweh nach einem anderen Rußland.
Im Sommer ging ich unter einem Sonnen-
schirm. Der Schirm war weiß wie der heiße
Himmel. Der Schirm hatte resedagrüne Volants.
Ich wanderte in Tropen. Der Schirm hatte eine
silberne Krücke, zu einem Vogel geschmiedet.
Kam ein Wetter auf, flog der Vogel mit dem
Sturm. Ich war weiß gepudert; ich hatte mein
Gesicht mit Reismehl betupft.
Ich ruhte, wo ich im Weg war. Ich legte
mich auf die Straße, lang vor die Türen. Ich saß
auf den Stufen zu den Denkmalen toter Män-
ner. Ich streckte mich ins Gras der Verschöne-
rungen, dem Schutz der Bürger empfohlen.
Die Bibliotheken zogen mich an. Ich suchte
sie heim, gierig und süchtig. Zu ihren Verwal-
tern war ich wie ein Liebhaber, unwidersteh-
lich. Die Bibliothekare waren wehrlos. Sie wur-
den mir hörig. Sie öffneten ihre Schränke,
trennten sich von ihren Schätzen. Ich bereitete
Schrift um mich aus. Ich verschlang, was ge-
druckt war. Ich vergaß mich. Auf belebtem
Platz saß ich wie trunken. Das Alphabet trug
mich fort.
Ich versuchte die Stadt. Ich war ein Ärger-
nis. Ich wollte ein Ärgernis sein. Die Ordnung
beobachtete mich. Die Bürger mikroskopierten
mich in ihren Fensterspiegeln. Sie sahen ein
Ungeheuer. Die Ordnung fühlte sich heraus-
gefordert und verletzte das Gesetz. Alle Ertüch-
tiger bliesen zur Jagd. Sie pirschten sich ran.
Sie umstellten mich. Sie bauten Fallen, in die
ich nicht fiel. Ich tat nichts. Ich tat keinem
etwas. Das war verdächtig. Das war böse.
Ich wollte ich sein, für mich allein. Da
drängten sie sich auf. Die Stadt entblößte sich
vor mir. Sie war nicht ehrbar. Sie hatte einen
Untergrund. Die Polizei schlug. Die Richter
waren parteiisch. Der Amtmann mißbrauchte
sein Amt. Der Pfarrer glaubte nicht. Der Er-
tüchtiger war ein Sadist. Die Trinker kamen
und entkorkten die Flaschen. Die Geilen mach-
ten ihre Offerte. Morphinisten und Kokser zeig-
ten ihre Wunden und zeigten den Schnee. Dir-
nen gaben sich zu erkennen. Diebe luden ein.
Der Anthroposoph stieg mit mir auf den Turm
von Sankt Nikolai und schrie, Sie sind der
Teufel. Als er mich würgte, sah ich die See. Sie
schwankte grau unter einem grauen Himmel.
Lenz kam von den Kommunisten. Das ver-
irrte Schaf war in die Herde zu führen. Lenz
wollte der Herde entfliehen. Er war zerrissen.
Er lief durch den Winter mit kurzen Hosen und
nackten Knien. Das verband mich mit ihm. Wir
badeten noch im November im Meer. Unsere
Fahrräder lehnten beieinander und zitterten.
An seinem Rad hing der rote Wimpel mit dem
Emblem von Hammer und Sichel. Die Völker
hörten die Signale. Die Völker hörten nichts.
Die Sirenen schwiegen. Damals schwiegen sie
noch. An meine Lenkstange hatte ich, um Lenz
zu ehren, einen schwarzen Lappen gebunden,
die stolze schwarze Fahne der Anarchie. Lenz
wurde erschlagen. Das taten die mit dem ver-
kniffenen Gesicht. Es gab da irgendwo ein
Hünengrab; dort töteten sie ihn und verscharr-
ten ihn gleich.
Ich wünschte ein Schauspiel. Ich reiste vier-
ter Klasse. Ich pochte auf die moralische An-
stalt. Ich hatte zu viel gelesen. Die Stadt
rutschte hinter den Schienen weg. In Nebel,
in graue Wolken, in Schnee, in die verlorene
Zeit. Sankt Nikolai drohte zuletzt wie eine er-
hobene Faust. Erst später spürte ich die Nar-
ben. Das Abteil war für Reisende mit Trag-
lasten. Ich hockte auf einer Kiepe. Häcksel
drang durch das Geflecht. Ein Huhn gackerte.
Ein Schwein grunzte im Sack. Der Mann, dem
das Schwein gehörte, sagte, was liest du da. Ich
sagte, Tairoff, das entfesselte Theater. Der
Mann sagte, du wirst dir die Augen verder-
ben. Es schneite. Es war kalt. Die Heizung war
nicht an. Es war trübe. Der Mann schenkte mir
ein Ei.
Es schneite. Berlin lag im Schnee. Das Reich
lag im Schnee. Der Stettiner Bahnhof war eine
Höhle aus Wind und Ruß und den Geräuschen
großer Bewegung. Er war Babylon; ein Ort, um
aufzubrechen. Mir schmeckte die Luft. Ich
schmeckte Freiheit. Sie standen auf allen Straßen,
sie standen gegen die Mauern gelehnt, sie froren,
sie hungerten, sie waren Arbeitslose, Aus-
gesteuerte, Obdachlose, sie waren die Revolu-
tion. Sie standen anders herum als ich. Sie ge-
nossen es nicht. Ein Zug bildete sich, wie von
selbst, es hatte kein Signal und keinen Befehl
gegeben, und ich lief hinter dem Zug dieser
erschöpften, hoffnungslosen Gestalten her, und
einer fragte mich, hast du die Karte, und ich
sagte, was für eine Karte, und er schimpfte,
die Stempelkarte, was denn sonst, und ich
sagte, ich stempele nicht, und er stieß mich
zurück und sagte, mach, daß du fortkommst. Es
kam Polizei. Die Schupos sprangen vom Deck
ihrer grünen Wagen. Sie schwärmten aus.
Pfiffe gellten. Die Polizisten hoben ihre Knüp-
pel. Sie zerstreuten uns. Ich rannte mit den
anderen.
Mein Herz bebte. Es schlug hoch. Das war
es nun, ich hatte es gefunden, das wollte ich
zeigen, die moralische Anstalt, das entfesselte
Theater, die Straße, die Hungernden, die Frie-
renden, die Armen, die Desperaten, die rote
Fahne, das Lied der Revolte. Ich ging schneller
und für eine Weile wie einer, der ein Ziel hat.
Ich dachte an das Schauspiel „Gas“ von Georg
Kaiser. Ich stellte das Drama „Masse Mensch“
von Ernst Toller in erhabene, düstere Kulis-
sen. Auch der Schlesische Bahnhof war eine
Höhle aus Wind und Ruß und Gekreisch. Er
war nicht Babylon. Er war eine Hölle der Ar-
men, die nicht wußten, wohin.
Gegen Abend war ich in Grünberg. Es war
sehr kalt. Ich suchte das Theater. Ich kam aus
dem Schnee. Ich sah Licht. Ich hörte Gesang.
Ich spürte Wärme. Der Direktor war in ka-
rierte Wolle gekleidet. Er sagte, da sind Sie ja.
Er sagte, das ist gut. Irgendeiner war krank.
Er sagte, Sie springen ein. Er sagte, heute in
Salzach. Er sagte, Frack. Ich sah ihn an und
dann auf mein Plaid, in das mein Kamm, ein
Hemd und meine Bücher gewickelt waren; und
das war alles. Er sagte, ach ja, Ihre Koffer
sind noch nicht da. Er sagte, schön, gehen Sie
zum Fundus. Ich sagte, „Gas“. Kaiser, sagte er.
Er verzog das Gesicht. Er sagte, lieber Freund.
Er sagte, wir werden sehen.
Sie waren lustig. Sie waren traurig. Sie
aßen belegte Brote. Sie taten gern, was sie ta-
ten. Sie taten es nicht gern. Sie tingelten, sie
sangen, sie hüpften. Sie schliefen miteinander.
Sie hatten ihre Liebschaften. Sie fürchteten
sich allein in der Nacht. Wir froren im Bus nach
Salzach. Sie hatten Sorgen. Sie kamen mit der
Gage nicht hin. Sie hatten Kinder. Die Kinder
wurden groß. Sie waren nicht unfreundlich.
Aber sie waren nicht meine Leute. Ich ver-
schloß mich ihnen. Ich kroch in mich hinein.
Sie zogen mir den Frack an, zu groß und
unendlich zu weit, ich war nicht zu sehen in
dem Frack, sie stopften mir ein bretthart ge-
stärktes Vorhemd in die Weste, sie banden mir
einen Kragen und eine Schleife um, es schlot-
terte, sie stießen mich auf die Bühne, da war
eine feine Gesellschaft, sie schlürfte Wasser,
die Kelche funkelten, die Münder kreischten,
in der Nacht wenn die Liebe erwacht, die Mäd-
chen kicherten, einer dirigierte mich zu dem,
den ich verhaften wollte, auch er war im Frack,
er saß ihm besser, ich wußte nicht, was er ver-
brochen hatte, ich war Kriminalkommissar, was
ging es mich an, ich streifte ihm Handschellen
über, ich sagte, im Namen des Gesetzes, ein
trauriger Tusch, der Vorhang fiel, ein Rokoko-
park, Schäfer und Schäferinnen auf allegori-
schen Wolken versöhnten das Gemüt, und alle
gratulierten sie mir, sie sagten, ich hätte es
gut gemacht.
Es war keiner mehr da. Die Häuser hatten
sie zu sich genommen, die behäbigen Häuser,
die Häuser mit ihren breiten verschlossenen
Türen, die Häuser der Bürger, die Häuser voll
Wärme und Schlaf. Jedes Licht erlosch. Der
Schnee lag ruhig. Der Mond war aufgegangen.
Die Stadt war gemütlich und kalt. Sie war wie
eine Weihnachtskarte. Ich war im Bild. Ich war
ohne Obdach. Ich hatte kein Geld. Das konnte
bestraft werden. Ich fürchtete den Schritt des
Polizisten. Nur Frost klirrte. Ich ging durch die
Straßen, lautlos. Ich suchte Zuflucht. Ich fand
sie. Ich kletterte über eine Mauer. Ich war auf
dem Friedhof. Ich hatte Frieden. Ich suchte mir
ein Grab. Ich sah die Kreuze, die Steine, ich
las die Totensprüche. Es war die alte Stadt,
die hier schlief. Ein ehrsamer Leineweber. Er
war mir ein milder Wirt. Ich breitete mein
Plaid aus; ich warf die Bücher unter den Kopf.
Ich war einig mit der Welt. Ich wars zufrieden.
In Abständen nahm ich, um mich zu wärmen,
das Plaid, legte es mir auf die Schulter, rannte
neben der Friedhofmauer, zuweilen, auf einem
Hügel sie überragend, mit einem Blick auf die
schlafende Stadt. Ich war bei ihren Ahnen; sie
wußten es nicht in ihren Betten. Lachen schüt-
telte mich, eine herrliche Heiterkeit. Ich malte
mir aus, daß einer mich sehen könnte, ver-
mummt in mein Plaid, und daß er erzählen
würde, da war ein Gespenst in der Nacht, es
spukte auf unserem Friedhof. Ich war sehr gern
ein Gespenst.
Am Morgen litt ich Frost. Ich wusch mich
unter dem schlagenden Strahl einer Pumpe
und trank ihr eiskaltes Wasser. Ich hatte Hun-
ger. Der Tag graute. In einem Bäckerladen
brannte ein freundliches Licht. Der warme Ge-
ruch von frischem Brot drang ins Freie, und
die Frau des Bäckers stand behaglich mit blo-
ßen Armen hinter dem Tisch. Ich wollte kein
Bürger sein, aber ich war nicht befreit von den
Vorurteilen meiner Erziehung. Ich schämte mich
so sehr, um eine Semmel zu betteln, daß ich
in der Backofenwärme des Ladens zitterte und
schwieg. Die Bäckerin sah mich lange an, deu-
tete dann auf ein Plakat, das neben ihr hing,
und sagte, Sie sind vom Theater. Die Semmeln
lagen frisch und knusprig in einem Korb und
waren mir nah. Ich hätte sie greifen können.
Ich sagte, ich inszeniere. Ich sagte es hochmütig.
Ich sagte, „Gas“. Ich sagte, von Kaiser. Diese
Antwort, oder wie ich sie gab, schien die rund-
liche, gutmütige Frau zu erschrecken. Es war,
als gewahrte sie erst jetzt meine außerordent-
liche Erscheinung, einen Jungen, verfroren,
hungrig, mit überlangen Haaren und schwarz
angezogen wie ein geistlicher Herr. Und wenn
die Bäckerin mich eben noch in wohlwollende
Verbindung mit dem Theaterplakat gebracht
hatte, der Werbung für die „Königin der
Nacht“, der Operette, in der ich so erfolgreich
debütiert hatte, erkannte sie nun in mir, ge-
warnt durch die Wörter „Gas“ und „Kaiser“,
eine ganz andere Nachtgestalt, vermutlich des
Irrsinns. Sie streckte abwehrend ihre bloßen
Arme, wich gegen die Wand, formte den Mund
zum Schrei, während ich, brennend, errötend,
mit einem scharfen Klingeln der Ladentür floh
und davonlief.
Im Theater saß der Direktor in seiner karier-
ten Wolle auf der Bühne und probte mit sei-
nen Schauspielern einen alten Schwank. Er sah
mich an. Ist Ihre Garderobe gekommen? Auch
ich sah ihn an, oder ich wollte ihn ansehen, fest
fordernd und schweigend. Aber mir war
schlecht, und alles drehte sich ein wenig. Er
sagte, ich habe keine Rolle für Sie. Er maß
meinen Mantel, den Krimmerkragen, der sich
auflöste, meine zerdrückten Hosen, die unge-
putzten Schuhe. Ich sagte, ich bin als Regisseur
engagiert. Er widersprach, aber er hob nicht die
Stimme. Sie sind gar nicht engagiert. Ich sagte,
„Gas“ wird ein Erfolg werden, die Berliner
Zeitungen werden berichten, Ihering und Kerr
werden kommen. Er sagte, Sie sind zu jung.
Jugend galt nichts. Sie genoß überhaupt kein
Ansehen. Er sagte, meine Künstler ... Er deu-
tete auf die Schauspieler in der dämmrigen,
von einer einzigen Glühbirne erhellten Bühne.
Ich blickte in die Gesichter von mürrischen
kleinen Beamten, die ihrer Versorgung ent-
gegenlebten. Er sagte, Sie sehen es, die würden
sich nichts sagen lassen, sie könnten Ihre Väter
sein. Er war kein Unmensch. Er zahlte mir die
Reise.
Ich ging, Geld in der Tasche, in den Schwar-
zen oder Roten oder Weißen Adler. Ich setzte
mich zu ihnen, bei denen ich geschlafen, den
ehrsamen Leinewebern und Fabrikanten. Ich
bestellte Schlesisches Himmelreich und Grün-
berger Wein. Ich war ein junger Herr auf sei-
ner Bildungsreise. Ich war mit der Kutsche ge-
kommen. Ich war auf Abenteuer erpicht. Die
Honoratioren luden mich in ihr Haus. Sie stell-
ten mich den Töchtern vor. Weiße Betten. Ich
stieg hinein. Da entschloß ich mich, zur See zu
fahren, und Indien war mir nahe.
Die Oder war zugefroren. Die Oderkähne
lagen still und verschneit. Ich fuhr vorbei an
den preußischen Festungen, an Küstrin und
Landsberg, an den öden Exerzierplätzen, an
den Stätten der Erniedrigung, die ich nicht
kannte, an den Verstecken der Schwarzen
Reichswehr, an ihren Femegräbern, eingeebnet
und vergessen. Ich sah es wuchern. Ich ahnte
es. Im Abteil für Reisende mit Traglasten. Es
war eine Pause. Sie hatten mich nicht. Es gab
kein Entfliehen.
Stettin roch nach Heringen, doch auch nach
Ertrunkenen. Die Schiffe lagen vor dem Bahn-
hof. Der Weg nach Indien war frei. Die Ertrun-
kenen gingen über die Lastadie, eine Ufer-
straße. Es waren Kneipen da, mit glühendem
Ofen, warm und heimelig. Es gab Grog gegen
den steifen Wind. Ich trank keinen Grog. Ich
mochte ihn nicht.
Die Jugendherberge war auf dem Dach-
boden einer Schule, einem großen Gebäude aus
rotem Backstein, und der Herbergsvater hatte
mich in der Herberge und in der Schule ein-
geschlossen und war fortgegangen, und ich lag
allein auf dem Dachboden und auf einem der
hundert Betten, ich hatte kein Licht, und nur
der Mond schien durch die Mansarden. Da
hörte ich ihn. Er kam langsam die Treppe rauf,
nicht schleichend, ruhig. Ich sah ihn im Däm-
merlicht am Ende des Schlafsaals, einen Mann
mit einem Jägerhut, einem Lodenmantel und
mit angeschnallten Ledergamaschen über sei-
nen Schuhen. Ich stand auf und lief zur ande-
ren Seite des Raums, zur Treppe, die dort hin-
unterführte, ich eilte über die Stufen und im
Gang unten, der Treppe mit Treppe verband,
da stand er wieder, auf seiner Seite, mit Jäger-
hut und Lodenmantel und ledernen Gamaschen,
und so im zweiten Stock und im ersten und im
Parterre, und ich stürmte in ein Klassenzim-
mer und rückte eine Schulbank vor die Tür
und hörte seinen Schritt und wie er stehen
blieb, und ich hörte ihn nicht mehr. Ich saß in
einer Schulbank, und ich war ein Schüler und
vor dem Examen. Ich ging an die Schultafel
und schrieb mit Kreide an die Tafel Freiheit,
Gleichheit, Brüderlichkeit. Es machte sich gut.
Ich war beruhigt. Ich öffnete ein Fenster und
sprang in den Hof.
Die Schiffe fuhren nicht nach Indien. Die
Schiffe lagen still. In der Paritätischen Heuer-
stelle saßen die Seeleute und warteten auf ein
Schiff. Sie warteten lange, und einige warteten
nur noch so, an sich, um des Wartens willen.
Es ging kein Schiff irgendwohin. Der Beamte
hinter dem Schalter sagte, es ist zwecklos. Er
sagte, fahr nach Hause. Ich sagte, ich habe kein
Zuhause. Er trug mich in sein Buch ein und gab
mir eine Karte. Auf der Karte war ich ein
Jungmann. Ich hatte einen Beruf. Ich war ein
Prolet. Ich setzte mich zu den Genossen. Aber
auch die Genossen sagten, laß dir die Haare
schneiden; sie machten den Witz mit der Kran-
kenkasse. Sie waren Bürger. Sie waren Bürger
ohne Haus und ohne Besitz. Sie waren Bürger
für nichts und wieder nichts. Sie waren gedul-
dig. Sie nahmen es hin. Sie enttäuschten mich.
Ich hatte nicht lange bei ihnen gesessen; sie
mißtrauten mir; auch hatte ich nichts zu essen
und wieder kein Obdach.
Da kam ein Mann in die Heuerstelle, der
von den Armen lebte. Er ähnelte etwas dem
Jäger aus der Nacht in der Jugendherberge.
Er war sein Bruder. Er war nicht unheimlich;
er war durchtrieben. Er nahm sich einen
Matrosen, setzte ihn auf einen Stuhl, beugte
sich über ihn und sagte, schlafe, schlafe, und
der Matrose schloß die Augen, sein festes Ge-
sicht war ohne Gedanken, und der Mann sagte,
heb den Arm, der Matrose hob den Arm, der
Mann sagte, du kannst den Arm nicht senken,
du kannst ihn nicht runterkriegen, und der
Matrose konnte es nicht. Da sagte der Mann,
du bist ein Esel, und der Matrose scharrte mit
den Füßen und schrie wie ein Esel. Die Män-
ner lachten; nur ich lachte nicht. Doch mehr
war mit dem Matrosen nicht zu erreichen, und
der Hypnotiseur weckte ihn auf.
Der Mann sah mich an. Vielleicht sah er
mich an, weil ich nicht gelacht hatte. Er sagte,
komm her. Ich setzte mich auf den Stuhl, und
er blickte mir in die Augen, und ich sah in
seinem Gesicht den Hunger, die Not und die
Furcht und die Verderbnis, er faulte, sein Atem
roch übel wie er schlaf, schlaf, schlaf sagte, und
er strengte sich an, Schweiß trat auf seine Stirn,
und es wollte ihm nicht gelingen. Da hatte ich
Mitleid mit ihm, stand auf, stellte mich auf den
Stuhl und rief, Lenin spricht zu euch, erhebt
euch, zerbrecht eure Ketten. Der Hypnotiseur
erhob seine Arme, wach auf, rief er, wach auf,
komm runter, was anderes. Er blickte mich
fragend an. Das geht nicht, zischte er mir ins
Ohr. Er massierte mir die Schläfen, streichelte
mich und befahl mir, du bist Jesus, stehe auf
und wandele. Ich ging zu den Seeleuten mit
einem heiligen Schritt, sie wichen zurück, und
ich segnete sie. Sie waren ergriffen. Ich wollte
lachen, aber da ergriff es auch mich. Ich war
nicht hypnotisiert, ich tat nur so, doch war
etwas geschehen, ein Funke war überge-
schlagen.
Wir gingen am Abend und gingen jeden
Abend über die Lastadie, wir gingen am Boll-
werk entlang, vorbei an den liegenden Schif-
fen, dem Eis auf dem Wasser, fern von In-
dien, wir gingen von Kneipe zu Kneipe, ich
ging hinein, mischte mich unter die Angetrun-
kenen, bestellte etwas, rührte es aber nicht an,
dann kam er, mein Meister, bat um Aufmerk-
samkeit, schläferte einen ein, ließ ihn der Esel
sein, rief mich dann auf, wählte mich aus der
Menge, zum Schluß, blickte mir in die Augen,
gab mir den faulen Atem, streichelte mich. Er
hieß mich Jesus sein, und ich war Jesus und
ging unter die Säufer und unter die Huren und
unter die Armen, und ich segnete sie und sprach
zu ihnen und gab ihnen Bibelworte, und es
war still in der Kneipe, man hörte nur das
Geld in den Teller fallen, wenn mein Meister
die Kollekte machte.
Ich schlief bei ihr. Sie hatte mich mitgenom-
men. Sie war ein Mädchen aus einer Kneipe.
Ich lag in ihrem Bett, in ihrer engen Kammer,
sie zog sich aus, ich sah sie nackt im stock-
fleckigen Spiegel, ich sah in dieser Scherbe, daß
sie mager war, ein hungriges Kind, und sie sah,
daß ich sie ansah, sie deckte Brust und Scham
mit der Hand, wandte sich ab, ging zu einem
Pappkoffer und holte ein Hemd heraus, ein
langes weißes Hemd aus kräftigem Leinen mit
langen Armen, sie zog es an, es reichte bis zu
den Füßen, sie sagte, das ist mein Sterbehemd,
sie legte sich neben mich, wir schliefen und
berührten uns nicht, und es dauerte acht Nächte
oder mehr.
Es kam der Tag. Der Schalterbeamte rief,
ein Jungmann für Dampfer Eddy nach Finn-
land. Ich reichte ihm meine Karte. Er heuerte
mich an. Der Arzt griff nach meinem Geschlecht.
Er sagte, hüte dich vor den Weibern. Er hatte
Schmisse in einem blauroten Gesicht. Sein Auge
zwinkerte. Der Dampfer Eddy ging auf Fahrt.
Ein Eisbrecher brachte uns durch das Haff. Ich
sah die große, graue See. Eine unendliche Grab-
platte, wie aus Blei. Ich sah Seeschlachten, Ver-
senkungen, Bombardierungen. Ich sah die gro-
ßen Untergänge, die kommen sollten.