Jugend. Eine Erinnerung5

Wolfgang Koeppen: „Jugend. Eine Erinnerung“, in: Merkur 24/1 (1971), 43-58.

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Wkoe
Absolute Datierung
31.1.1971
Zuordnung
5 Publikation: "Jugend. Eine Erinnerung (Merkur 1971)" 9
Kopie
nein
Durchschlag
nein
50 Wolfgang Koeppen
Knechtes, die Pferde sind freundlich, sie haben sanfte dunkle Augen, der Knecht
treibt mich mit Flüchen aus dem Stall, im Konzerthaus beginnen sie Klavier zu
spielen, Gelächter gluckst, Worte stürzen zerbrochen über die Straße.
Die Gardine wird zur Seite geschoben, ich stehe vor dem Haus, ich beobachte
alles genau, eine Frau zeigt sich am Fenster, klopft gegen die Scheibe es gilt
mir, ich erwartete es, Geheimnis durchrieselt mich, ich denke, sie schlägt mit
einem goldenen Ring, pocht mit einem grünen Edelstein, sie hält etwas in der
Hand, sie lockt mich, ich kann nicht erkennen was sie mir zeigt, aber es ist
unendlich begehrenswert, die Hand winkt, ich fürchte mich, ich blicke mich
um, nach Beistand der mit mir geht, nach Feinden die mich hindern könnten,
ich fühle mich versucht, ich kann nicht widerstehen, ich klettere die drei Stein-
stufen hoch, tapse durch die offene Tür, bin der dicke Gutsbesitzer im Pelz
oder in Nanking, atme Bier und Rauch, höre nun lauter das Klavier, heller
das Lachen, schärfer die Rede, die Treppe führt steil empor, ein roter Läufer
bedeckt sie, der rote Läufer weist den Weg, ich strenge mich an, ich krieche
höher, der Läufer ist rauh, der Läufer schrammt die Hände und die Knie, im
ersten Stock hängt die Kokosnuß, eine Alabasterleuchte von Palmenblättern
umrankt, der Gang ist schummerig, er dunstet, er brodelt, er wärmt wie der
Stall, aber das Tier das hier wohnt ist kein Pferd, das kitzelt die Nase wie in
Dehmels Barbiersalon, scharf nach Seife, nach Blumen die getrocknet im Fami-
lienalbum liegen unter Verwandten unter Toten unter Leuten die irgendwer
kannte und deren photographisches Abbild man entgegennahm und aufbewahrte
und die man sich nicht mehr vorstellen kann, auch nach Blumen die zu lange
in der Vase im Wasser gestanden haben, ekel nach gestocktem Blut, eine Tür
wird spaltbreit geöffnet, Licht sticht, Stoff fällt zurück, ein Arm blüht weiß,
die Frau zieht mich herein, sie hat an das Fenster gepocht, sie hat mich gelockt,
sie trägt ein Gewand wie ich es noch nie gesehen habe, das Kleid einer Königin
oder eine Fee, es scheint aus lauter Spitzen und Federn zu sein, ein bunter
Vogel stelzt vor mir, flattert, schlägt die Schwingen, sprengt die Kammer, das
Haar der Frau leuchtet wie eine blonde Sonne, Rapunzel aber mit einem
Harlekinsgesicht, rotweißverschmiert, die Augen teerpfützenblau, die Brauen
steinkohleschwarz, ihre Brust ist wie ein Bett, zwei hochgeschüttete Pfühle, ein
Schutz in kalten Nächten, die Stimme jubiliert, eine Sängerin, eine Nachtigall,
sie schenkt mir was sie mir am Fenster zeigte, einen Reiter auf einem Pferd,
Reiter und Pferd sind aus Holz, das Pferd ist weiß und schwarz, der Reiter ist
weiß und rot, ich liebe den Reiter und sein Pferd, ich werde sie nie wieder
hergeben, ich drücke sie gegen die Brust und fange zu weinen an, ich habe
meine Mutter betrübt.
Mit Bismarck verbinden mich sehr persönliche Erinnerungen. Wir sind uns
ähnlich. Bismarck weinte, er warf sich, der schwere Leib, auf das Sofa, ich stelle
sie mir vor, die weißen Sofaschoner, die von liebender Hand gestickten Sofa-
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kissen, die von dienender Hand schön gekämmten Sofafransen, und Bismarck
weinte. Ich nicht. Sie hatten mir als Kind und im Namen Bismarcks oder auch
eines preußischen Königs zu oft gesagt: Ein Mann weint nicht. So weine ich
nur, wenn ich Bismarck bin. Ich lernte ihn in meinen jüngsten Jahren kennen,
Bismarck stand auf der Nähmaschine, oder er stand neben der Nähmaschine,
auf der meine Mutter das Bettzeug eines dieser pommerschen Rittergüter
flickte, Lössin oder Wunkenhagen oder Demeritz, und Bismarck war aus Erz
gegossen, er hatte Schaftstiefel aus reinem Erz an, er hielt einen Schleppsäbel
aus Erz in der erzenen Hand und auf dem Kopf aus Erz saß ihm ein Adler,
auch aus Erz. Auf einem Helm aus Erz. Diese Figur sah aus als ob sie mich
einschüchtern wollte. Bismarck wog viel, und ich konnte ihn damals nicht
heben, aber wenn ihn ein Mann richtig gefaßt hätte, hätte er einen anderen
Mann mit ihm totschlagen können. Der Herr von Lössin oder der Herr von
Wunkenhagen oder der von Demeritz tat das nicht. Er hatte zum Totschlagen
einen Spaten. Aber auch mit dem Spaten schlug der Herr von Lössin oder der
Herr von Wunkenhagen oder der von Demeritz nicht zu. Er hatte zum Tot-
schlagen seine Leute. Sie hatten auf Lössin oder auf Wunkenhagen oder auf
Demeritz immer Leute gehabt, und selbst nach der Aufhebung der preußischen
Gesindeordnung und der gutsherrlichen Polizeigewalt waren auf Lössin, Wun-
kenhagen oder Demeritz Leute geboren worden oder hatten sich Leute an-
gefunden, zum Totschlagen und zu anderem. Dieses Rittergut, Lössin, oder
Wunkenhagen oder Demeritz hatte meiner Mutter gehört, oder es hatte der
Mutter meiner Mutter gehört, ich habe dies nie so ganz begriffen, man hat es
mir zu oft und immer wieder anders erzählt oder anders verschwiegen, und
meine Mutter war nun gelegentlich mildtätlich Weißnäherin auf diesen Ritter-
gütern, sie konnte aber gar nicht nähen, wenn man auch anzunehmen schien,
daß eine Frau in ihrer Lage zu nähen habe, und so flickte sie die Laken aus
rohem bäuerlichen Leinen für eine Mark am Tag, und die große Vergünsti-
gung war, daß sie mich mitnehmen durfte. So saß ich unter der Nähmaschine
und sah die Füße meiner Mutter, wie sie das Tretwerk der Nähmaschine traten,
und die Bettücher liefen unter der Nadel der Nähmaschine durch, stiegen auf
und fielen und hoben und senkten sich vor meinem Blick wie der Vorhang
einer Bühne, auf der Bismarck auftrat, oder auf der sich ein Schauspieler, der
den Bismarck spielte, für den Applaus bedankte. Aus Erz gegossen, und die
Studenten zogen mit Fackeln vor die Stadt und zum Bismarckturm und warfen
dort die brennenden Fackeln zu Füßen des Denkmals, und Bismarck, auch er aus
Erz, stand mit festen Füßen auf seinem Sockel, festen Gesichtes, festen Blickes,
fest im Fleisch, aus Erz, im Flammenschein in der Nacht, es konnte nichts schief-
gehen. Ich bin damals unter der Nähmaschine neben den das Rad bewegenden
Füßen meiner Mutter nicht darauf gekommen, daß die Bettlaken, die sich hoben
und senkten und vor meinen Augen flatterten, auch mit Leichentüchern zu ver-
gleichen gewesen wären, oder mit den weißen Fahnen der Niederlage.